Genau wann bin ich Antisemit?

Seite 2: 2. Antisemitisches Verhalten

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So viel zum zentralen Begriff einer antisemitischen Einstellung . Unsere nächste Frage: Wann ist ein Verhalten antisemitisch ?

Die Antwort kennen Sie schon: Genau dann, wenn sich in ihm eine antisemitische Einstellung manifestiert. Dies nun etwas genauer.

Allgemeine Definition

(AS.V*) Ein Verhalten von X gegenüber Y ist antisemitisch gdw.

  1. das Verhalten von X gegen Y gerichtet ist
  2. und dies deshalb, weil X glaubt, dass Y jüdisch ist - und
  3. weil X glaubt, dass Juden als solche weniger wert sind.

Ein einfaches Beispiel

Wir befinden uns in einem Kindergarten. Die Gruppe, die der Kindergärtner Xaver betreut, ist ethnisch bunt gemischt. Die kleine Yvonne hat soeben ein anderes Mädchen vom Stuhl geschubst. Xaver hat das gesehen - und verdonnert Yvonne daraufhin dazu, beim nachfolgenden Ringelspiel zuschauen zu müssen.

Was müsste in dieser Situation jetzt noch zusätzlich der Fall sein, damit dieses Verhalten von Xaver zu Recht als antisemitisch gelten (er also auf die Antisemiten- Liste gesetzt - und somit unter Umständen sogar aus dem Kindergartendienst entlassen - werden) darf? Prüfen Sie jetzt erstmal in Ruhe, ob Sie mit der Antwort der obigen Definition (AS.V*) einverstanden wären. Wir gehen die einzelnen Bedingungen noch durch. Es schadet auch nichts, wenn Sie im Folgenden die entsprechenden Parallelen für "rassistisch, sexistisch, etc" im Kopf behalten.

Zur Bedingung 1: Xavers Reaktion auf Yvonnes Schubs ist zweifelsohne an Yvonne selber gerichtet. Sie ist Adressatin des Verbots, am folgenden Ringelspiel nicht mitmachen zu dürfen. Und insofern sie an diesem Spiel wohl gerne mitgemacht hätte, trifft auch sicher zu, dass Xavers Verbot für Yvonne eine echte 'Schädigung', eine echte Strafe, ist. Xavers Reaktion war, so verstanden, nicht nur an, sondern auch gegen Yvonne gerichtet. Das macht aber Xavers Reaktion noch lange nicht zu einer antisemitischen Tat. Es kann sein, dass er, so auf einen Schubs zu reagieren, generell für eine angemessene Reaktion hält, er diese Strafe auch gegen jedes andere Kind aus der Gruppe verhängt hätte. Dafür, dass Xavers Reaktion antisemitisch ist, ist (1) also zwar notwendig, aber nicht hinreichend.

Zu den Bedingungen 2 & 3: Dieses Bild ändert sich sofort, sobald wir wissen, dass Xaver auf den Schubs von Yvonne nur deshalb so reagiert hat, weil er Yvonne für eine Jüdin gehalten hat. M.a.W.: Sobald wir wissen, dass er nicht so reagiert hätte, wenn er Yvonne nicht für eine Jüdin gehalten hätte. Wenn also z.B. Anna, Yvonnes nicht-jüdische Freundin, wenn sie geschubst hätte, trotzdem weiter hätte mitspielen dürfen.

Die Bedingung (3) macht die in (2) eventuell bereits implizit enthaltende Diskriminierung von Yvonne als Jüdin explizit. Insofern mag (3), falls bereits aus (2) folgend, vielleicht redundant sein; aber das macht nichts. Redundanz schadet bei einer Definition nicht; und Deutlichkeit ist in diesem Kontext gewiss wichtiger.

Was lehrt uns dieses simple Beispiel? Was lehrt uns die (anhand dieses Beispiels ja nur exemplifizierte) simple Definition? Einiges. Zum Beispiel:

Antisemitismus - das geht auch ohne Juden. Angenommen, Xaver hat sich getäuscht: Yvonne ist gar keine Jüdin. Xavers Reaktion war trotzdem antisemitisch. Sie sollte eine vermeintliche Jüdin als Jüdin treffen; d.h.: sie war durch eine antijüdische Diskriminierung motiviert. Das reicht. Genau deshalb fordert die Bedingung (2) nicht, dass X weiss, dass Y jüdisch ist, sondern nur, dass X das glaubt. Dass es für einen Antisemitismus gar keine Judenpräsenz zu geben braucht, das ist also keine großartige empirische Entdeckung, folgt vielmehr schon aus dem Begriff eines antisemitischen Verhaltens selbst.

Nicht jede Schädigung eines Juden ist schon Antisemitismus. Am Abend zuvor war Xaver in seiner Disko in eine Schlägerei verwickelt, bei der er, "echt in Notwehr", wie er meint, einen Japaner K.O. schlug. Ist der aus Bayern stammende Xaver damit schon ein (Anti-Japaner bzw. Anti-Asiaten-) Rassist? Natürlich nicht. Genauso wenig ist jeder Schaden, den man einem jüdischen Mitbürger zufügt, schon kraft dieser Schädigung ein Beleg für Antisemitismus. Auch wenn Yvonne also tatsächlich Jüdin sein sollte; falls bei ihrer Bestrafung die Diskriminierungskomponente fehlt, ist diese Bestrafung (wie ja schon in 2.3 oben gesagt) sicherlich nicht antisemitisch.

Antisemitisch - auch ohne Schädigung. Unser Beispiel - wie gehabt. Nur mit dem Unterschied: Yvonne ist regelrecht froh darüber, dass sie an diesem doofen Ringelspiel nicht mitmachen muss. Trotzdem: Auch wenn Xavers Reaktion für Yvonne in diesem Fall keine echte Strafe war, Yvonne von Xavers Reaktion vielmehr sogar profitierte: Xavers Reaktion bleibt nichtsdestotrotz - ihrer diskriminierenden Motivation wegen - weiterhin antisemitisch.

Antisemitismus - einfach so. Unser Beispiel noch mal wie gehabt. Nur mit dem Unterschied: Dem Xaver ist das antisemitische Diskriminierungs-Motiv, das hinter seiner Reaktion steht, selber gar nicht präsent. Er ist sich seines Antisemitismus selbst gar nicht bewusst. Er reagiert nun mal so, wie er reagiert - einfach so. Ist solches möglich? Wenn dem so wäre, dann kann es sein, dass ich Antisemit (bzw. entsprechend: Rassist, Sexist etc.) bin, auch ohne es zu wissen. Das ändert aber nichts daran (ja bekräftigt es sogar), dass, ob, was ich tue, antisemitisch (rassistisch etc.) ist oder nicht, immer noch allein von meinen Einstellungen abhängt - auch wenn mir diese, wie gesagt, nicht immer selbst präsent sein müssen. Nennen wir den, der nicht mal selber weiß, dass er ein Antisemit ist, zur Abgrenzung von den nur latenten Antisemiten einen Krypto-Antisemiten. Und den, der sich seiner betreffenden ASEinstellung bewusst ist, könnten wir jetzt als einen selbst-transparenten AS bezeichnen.

Diese Unterscheidung sollte jetzt nicht mit der schon eingangs gemachten zwischen manifestem und latentem AS verwechselt werden. Es gibt vielmehr die folgenden vier Möglichkeiten.

Transparent Kryptisch
Manifest
Latent

Antisemitisch - trotz Beteuerung des Gegenteils. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich kein Antisemit bin. Beweist das, dass ich keiner bin? Nach dem soeben Gesagten leider nicht. Es kann ja sein, dass ein Krypto-Antisemit besten Gewissens bestreitet, Antisemit zu sein - aber trotzdem (hinter seinem eigenen Rücken sozusagen) einer ist.

Was folgt daraus? Und was folgt daraus nicht?

Nun, wie immer: unübersehbar viel. Zum Beispiel folgt, dass mich, was meinen Krypto-Antisemitismus angeht, andere vielleicht besser kennen als ich mich selbst. Aber daraus folgt noch lange nicht, dass sich dieses "Besser Wissen" mir gegenüber jeder Beliebige anmaßen darf. Und erst recht nicht folgt, dass jeder, der sich das anmaßt, damit auch Recht hat.

Die Große Rest-Frage ist also: Wann darf man sich dieses Besser-Wissen anmaßen? Und wann hat man damit Recht?

Wir kommen jetzt, nachdem die Definitionsfrage geklärt ist, wir also wissen, was der Begriff "Antisemitismus" besagt (nämlich Juden-Diskriminierung, Punkt!), zum Verifikationsproblem, zum großen Minenfeld der Erstellung einer möglichst zuverlässigen Antisemiten-Liste. Doch bevor wir dieses Feld betreten, ist noch ein weiterer Begriff, ein weiteres definitorisches Begriffsproblem zu betrachten. Der Begriff des Antizionismus.

Auch dieses Problem wäre, wenn man nur wollte, ganz einfach zu lösen. Nämlich durch ein paar ohnehin gebotene Unterscheidungen.