Genua: Vom Versagen der Politik

Nach dem G8-Gipfel regt sich auch in Massenmedien zunehmend Kritik an der Selbstgefälligkeit von Volksvertretern

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Mainstreammedien werden von Globalisierungskritikern durchwegs skeptisch beäugt. Die letzten Tage lohnte sich allerdings ein Streifzug. Es ist interessant, dass etliche Kommentatoren selbstgefällige Politik zerzausen, wie sie beim G8-Gipfel öffentlich in Erscheinung trat. Es stellt sich die Frage nach Macht und Ohnmacht, Verantwortung und den Grenzen politischer Handlungsmöglichkeit.

"Die Staats- und Regierungschefs der sieben führenden Industrienationen nehmen von ihrem kurzen Aufenthalt in Genua einen deprimierenden Eindruck mit: Sie sind nicht mehr gesellschaftsfähig", leitet Markus Bernath polemisch seinen Kommentar in der österreichischen Tageszeitung Der Standard ein. Fordert Bernath noch die Einbindung der Kritiker durch die Mächtigen, so zeigt sich der Chefredakteur der deutschen Netzeitung über den möglichen Erfolg einer solchen Strategie skeptisch: "Das sind kleine Wellen, plätschernd und unerheblich im Vergleich zum großen Ozean der Globalisierung. Es wird keine neue Politik geben." Michael Maier begrüßt zwar den guten Willen, führt aber die fortschreitende Ohmacht der Politik gegenüber der Kapitallogik ins Treffen: "Das Dilemma ist keine Frage der politischen Willensbildung. Unwiderruflich hat sich die Ökonomie abgekoppelt von der Willensbildung durch die Volksvertretungen. Die Logik des Kapitals entwickelt einen mächtigen Sog. Massenentlassungen als betriebswirtschaftliches Steuerungsinstrument werden sehr bald auch in Europa akzeptiert sein. Die Gewerkschaften sind in ihrer Bedeutung zurückgedrängt, den nationalen Regierungen sind durch die Maastricht-Vorgaben eines Nulldefizits die Hände gebunden", so seine Einschätzung.

Ist die Politik tatsächlich so ohnmächtig geworden? Sicher, demokratische Systeme agieren langsam. Das Ringen um Kompromisse macht den Hauptteil des Geschäfts aus. Dagegen nimmt sich die globalisierte Wirtschaft wie ein Wirbelsturm aus. Doch selbst bei realistischer Einschätzung der Handlungs- und Verantwortungsfähigkeit der Volksvertretungen, zeigen sich eklatante Defizite. Insbesondere dort, wo es nicht primär um Gesetze, sondern um klare Worte geht.

Beispiel Massenentlassungen in der New Economy. Seit Monaten laufen Hiobsbotschaften über den Newsticker. Wo vernahm man eine politische Stimme, die sich gegen die (amerikanische?) Unsitte, Menschen von heute auf morgen vor die Tür zu setzen, verwahrt hätte. Wer dachte laut über sinnvolle Förderungen zur Erhaltung dieser Arbeitsplätze nach, wer über die Kosten, die solche Praktiken der Allgemeinheit verursachen (Stichwort: Belastung durch Unterstützungszahlungen, was etwa bei Arbeitszeitverkürzung nicht der Fall wäre)? Aber zugegeben, es gibt Wichtigeres im internationalen Kontext, als diese verhältnismäßig kleine Branche.

Kofi Annan darf für den Aids-Fonds betteln

"Der global funktionierenden Wirtschaft stehen keine entsprechenden politischen Strukturen gegenüber, die steuernd und ausgleichend eingreifen", schreibt Markus Deggreich vom Spiegel und kritisiert den Alibicharakter der äußerst zögerlichen Umverteilung:. "Der Uno-Generalsekretär darf für einen Abend mitessen und für seinen Aids-Fonds betteln. Ein paar Präsidenten ärmerer Staaten dürfen ihre Sorgen vortragen. Der eine oder andere Gewerkschafter übergibt am Abend vor der Eröffnung ein Positionspapier. Danach kämpft wieder jeder für sich."

Die Ohnmacht der vorgeblich Mächtigen, die sich in Genua mit Hundertschaften von Beratern so gerne strahlend inszeniert hätten, zieht sich inzwischen durch die Berichterstattung vom Spiegel bis zur Frankfurter Allgemeinen, und sogar die Neue Zürcher Zeitung spricht von Statisten der Politik, stellt die Frage nach Kosten und Nutzen der G8-Treffen. In der FAZ bekommen natürlich die Anarchisten Ohrfeigen, doch ebenso bleibt die Eitelkeit der Volksvertreter und die Rolle der Medien (insbesondere die TV-Berichterstattung) in diesem bürgerlichen Blatt nicht ungeschoren: "Immer schon haben Anarchisten ihre Lehre ad absurdum geführt, indem ihr Tun und Denken einzig um das kreisten, was sie für die Macht hielten", kommentiert Dirk Schümer den "Leerlauf der Macht und des Protestes gegen die Macht" in der FAZ.

"Früher plazierten sie sich mit Dolch und Revolver an Straßenecken und feuerten auf ahnungslose Monarchen. Heute sammeln sie sich vor den Linsen der mitgereisten Kameras, um semantische Selbstbefriedigung zu üben. Die Einsicht, daß nämlich die in Genua versammelten Potentaten "die Macht" überhaupt nicht repräsentieren, daß diese Politiker allenfalls Verwaltungsapparaten vorstehen und den Lauf der Welt, der bei solchen Gipfeln auf beiden Seiten gerne vollmundig gedeutet wird, allerhöchstens marginal beeinflussen könnten - diese schlimmstmögliche Einsicht bleibt allen Beteiligten gerade durch den Krawall erspart."

Entmachtung der Politik?

Zurecht kritisierten viele Kommentatoren die Selbstinszenierung der Regierungschefs beim Genueser Gipfeltreffen. Sie zogen unbehelligt wieder ab. Außerhalb der Roten Zone lieferten sich schlecht bezahlte Polizisten Straßenschlachten mit denen, die sich als Stimme der Armut begreifen. Und jetzt? Reicht es tatsächlich aus, den Politikern via Medien ihre Ohnmacht vorzurechnen? Wird da nicht etwas festgeschrieben, das der Wirtschaft, der Logik der Konzerne nur entgegenkommt?

Eine Entmachtung der Politik heißt auch, die Möglichkeit des Interessensausgleichs zwischen den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu beschneiden. Sollte nicht vielmehr die Frage aufgeworfen werden, ob die Politik nicht allzu leichtfertig Machtpositionen aufgibt? Die Auswirkungen eines Kniefalls vor der betriebswirtschaftlichen Logik multinationaler Konzerne auf die Volkswirtschaften, auf Klein- und Mittelbetriebe, Arbeitnehmer und letztlich die Verfasstheit einer Gesellschaft, sind nicht absehbar. Sollte nicht hier mehr Augenmaß und Machtbewusstsein von den Regierungschefs der reichen Staaten eingefordert werden?

Nach der Beschwörung der Ohnmacht beider Seiten - der Politik ebenso wie der Demonstranten - ist es geradezu erfrischend den Genua-Kommentar des österreichischen Medientycoon Hans Dichand zu lesen. In seinem Massenblatt Die Kronenzeitung warf er unter dem Titel "Einfach schlechte Politik" die Frage auf: "Was steckt hinter diesen Protesten, bei denen junge Menschen ihr Leben einsetzen und Polizisten auf der anderen Seite auch das ihre riskieren müssen, um die Ordnung einigermaßen zu sichern." In Beantwortung dieser Frage wies er auf die Gefahr des Lobbyismus in der Politik hin: "Die Konzerne, die wirtschaftlichen Zusammenschlüsse werden immer größer und damit auch ihre Macht in der Politik. Lobbyismus ist ein politisches Instrument geworden, das die USA ganz legal mitregiert. Für Umweltschutz hat man in einer derart profitorientierten Welt wenig Verständnis."

Es ist an der Zeit, wieder mehr Courage von der Politik einzufordern. Sich nur hinter Sachzwängen zu verschanzen, scheint ein wenig dürftig. Der Journalismus hat nicht die Aufgabe, es Politikern leicht zu machen. Auch wenn diese oftmals einen "mörderischen" 24-Stunden-Job ausüben, müssen sie auch gefordert werden - von den Wählern, Nichtwählern und den Medien. Seit Genua geben zumindest nicht mehr allein die "Chaoten" oder "Randalierer" zur kritischen Berichterstattung Anlass. Vielmehr hat sich der öffentliche Blick wieder den Veranstaltern und Verantwortlichen zugewandt. O-Ton Dichand alias Cato: "Die Freiheit, bessere Politik zu machen - in allen Lagern -, ist ja stets vorhanden, aber Regierende wie ihre Gegner verstehen sie nicht zu nützen. Schlechte Politik ist die Regel ..."