Gerichtsentscheid: Den Corona-Holocaust hat es nie gegeben!
Einstweilige Verfügung jüdischer Verbände gegen rechten Politiker vor Amsterdamer Gericht erfolgreich: Thierry Baudet muss innerhalb von 48 Stunden Twitter-Nachrichten löschen, sonst werden 25.000 Euro pro Tag fällig
In den Niederlanden haben zwei israelisch-jüdische Organisationen – das Informations- und Dokumentationszentrum Israel (CIDI) und der Jüdische Zentralrat (CJO) – sowie vier Holocaustüberlebende mit einer Klage gegen den Abgeordneten Thierry Baudet Erfolg gehabt, der Corona-Maßnahmen sowie Sanktionen gegen Ungeimpfte auf Twitter mit dem Holocaust gleichgesetzt hat.
In ihrer mündlichen Begründung des Urteils führte die Amsterdamer Richterin am Mittwochnachmittag aus, die Meinungsäußerungsfreiheit des Politikers sei mit dem Schutz der Identität und des Privatlebens der israelisch-jüdischen Interessenverbände und der Holocaustüberlebenden abzuwägen. Letztere schütze Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Der Parteivorsitzende hat nun 48 Stunden Zeit, um vier konkret genannte Tweets zu löschen. Außerdem ist es ihm verboten, in der Diskussion der Corona-Maßnahmen Holocaustbilder zu verwenden. Bei Zuwiderhandlung drohen ihm 25.000 Euro Strafe pro Tag beziehungsweise pro Fall.
Baudet ist Vorsitzender der mit fünf (von 150) Sitzen im Parlament vertretenen Partei "Forum voor Democratie". Einige der Holocaustüberlebenden haben aufgrund der Judenverfolgung zahlreiche Familienangehörige verloren.
Baudet hat unter anderem auf Twitter Vergleiche zwischen den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und dem Holocaust gezogen. Er schrieb etwa Mitte November, die Ungeimpften seien die neuen Juden und diejenigen, die wegschauten und andere ausschließen, seien die neuen Nazis.
In einem anderen Tweet verglich er ein ungeimpftes Kind, das nicht an einem Nikolaus-Umzug teilnehmen durfte, mit einem jüdischen Kind im Ghetto der polnischen Stadt Lodz während des Zweiten Weltkriegs. In einem dritten Beitrag bezeichnete er es als Ironie sondergleichen, dass die thüringische KZ-Gedenkstätte Buchenwald – wie alle anderen Museen des Bundeslands – 2G-Regeln anwende.
Rechter will Deutungshoheit über Nazi-Geschichte
In einer parlamentarischen Diskussion hatte Baudet bereits am 23. September gemeint, die jüdischen Organisationen könnten die Deutung des Zweiten Weltkriegs nicht für sich allein beanspruchen:
Im Zweiten Weltkrieg geht es um sehr viele Dinge. Er ist ein sehr interessantes, sehr komplexes historisches Problem, doch ist nicht Eigentum einer bestimmten Gruppe oder einer bestimmten Ethnie. Die ganze Geschichte ist eine Debatte.
Das Forum voor Democratie begann 2015 als Denkfabrik, unter anderem auf Initiative des 1983 geborenen und in Rechtswissenschaften promovierten Thierry Baudet. Im Zusammenhang mit einer Volksabstimmung über das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine gewann es 2016 an Aufmerksamkeit. Bei den Parlamentswahlen 2017 trat es dann erstmals als politische Partei an und gilt in der öffentlichen Diskussion als zweite rechtspopulistische Partei neben Geert Wilders‘ PVV.
Wilders wurde 2020 auch in Berufung wegen rassistischer Beleidigungen von Marokkanern im Wahlkampf verurteilt.
Allerdings verzichtete das Gericht damals nach Feststellung der Schuld auf eine Geldstrafe, da der Politiker bereits erhebliche Anwaltskosten zu tragen hatte.
In der heute verhandelten Sache forderten die Kläger vom Amsterdamer Zivilgericht eine einstweilige Verfügung gegen Baudet, die ihn zur Löschung seiner Tweets zwingt. Zudem sollte ihm verboten werden, Holocaustbilder im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen zu veröffentlichen. Bei Zuwiderhandlung sollte ihm ein Zwangsgeld in Höhe von 25.000 Euro pro Tag auferlegt werden.
Noch während der Gerichtsverhandlung, die als Livestream im Internet übertragen wurde, wurden Aussagen der Prozessparteien auf Twitter kommentiert. Daraufhin zitierte ein Vertreter der Klageseite im Gerichtssaal einen Tweet, in dem ein mutmaßlicher Anhänger Baudets den KZ-Spruch "Arbeit macht frei" in "QR-Code macht frei" übertragen habe. Damit wollte er verdeutlichen, welche Auswirkungen die Tweets des Politikers in der Öffentlichkeit haben.
Baudet kündigte Verhandlung wie Kinofilm an
Baudet berief sich auf die Meinungsäußerungsfreiheit und verteidigte sich damit, die Gesellschaft vor einer Wiederholung holocaustartiger Zustände warnen zu wollen. Die Maßnahmen in den Niederlanden, wo zurzeit die Einführung von 2G diskutiert wird, sowie in vielen anderen Ländern interpretierte er in diesem Sinne. Gegenüber der Richterin betonte er, aus dem Streit kein politisches Kapital ziehen zu wollen.
Auf Twitter, wo sein Kanal rund 270.000 Abonnenten hat, teilte er allerdings den Tweet seiner Partei, der die Gerichtsverhandlung wie einen Actionfilm ankündigt. Auf seinem Kanal ist zurzeit der rund dreitausendmal geteilte Aufruf 'WHATEVER YOU DO: DON'T TAKE THE "VACCINE"!' vom 20. September an der Spitze angeheftet.
Nach Ansicht des Amsterdamer Gerichts sei zwar Meinungspluralismus wichtig und müsse insbesondere Kritik an den weitreichenden Einschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie möglich sein.
Baudets Hinweise auf das Ghetto von Lodz, auf das KZ-Buchenwald und das Schicksal der Juden in den 1930er- und 1940er-Jahre stellten aber einen direkten Vergleich zwischen den heute Ungeimpften und den Opfern des Holocaust dar. Dazu sagte ein Überlebender:
Ich glaube, dass sich niemand vorstellen kann, mit Ausnahme von den vieren, die hier sitzen, was es bedeutet [ringt um Fassung], wenn deine Mutter mit dem Zug von Westerbork nach Sobibór gebracht wird, mit 2500 anderen, und ankommt, sich ausziehen und ihre Sachen abgeben muss, und dann in die Gaskammer muss, manchmal mit bis zu 600 gleichzeitig. Ich begreife überhaupt nicht, warum Herr Baudet dieses Phänomen anführen muss, um sein Recht zu bekommen, um seinen Standpunkt zu verteidigen. Ich bin selbst als Kleinkind im Alter von drei Jahren untergetaucht. Dreieinhalb Jahre ohne Eltern [ringt um Fassung], an vier unterschiedlichen Adressen in Amsterdam, unter falschem Namen. Das beherrscht dein ganzes Leben.
Rudie Cortissos, Holocaustüberlebender, in der Gerichtsverhandlung in Amsterdam am 15. Dezember 2021
Bagatellisierung des Holocausts
Dass der Angeklagte in der Gerichtsverhandlung seine Aussagen nuancierte, ändere nichts am Aussagehalt seiner Tweets. Er habe bewusst ein Medium gewählt, mit dem er die Wirkung seiner Nachrichten maximiere. Seine Absicht, vor den Folgen der Corona-Maßnahmen warnen zu wollen, ändere nichts am faktischen Inhalt seiner Behauptungen.
Mit seinen Vergleichen stelle er das Schicksal der Ungeimpften heute und der Juden damals auf eine Stufe. Damit bagatellisiere er das Unrecht, das den Juden angetan wurde. Die Juden, betonte die Richterin, hätten aber nicht mit einer Impfung oder mit einem Coronatest Zugang zu Einrichtungen erhalten können, von denen sie ausgeschlossen waren. Überlebende bestätigten diese Haltung vor Gericht:
Meine Frau und ich sind beide 84 Jahre und haben den gesamten Krieg miterlebt. Damals wurde meine Frau deportiert, erst nach Westerbork und dann nach Bergen-Belsen. Dort hat sie zwei Jahre verbracht und ihre Mutter verloren [mit zitternder Stimme] und gesehen, wie sie in eine Grube geschmissen wurde, in der tausend andere Leichen lagen. Und dann können Sie sich vorstellen, Frau Richterin, jeden Tag und jede Nacht sehen wir den Krieg noch an uns vorbeikommen.
Matti Tugendhaft, Holocaustüberlebender, in der Gerichtsverhandlung in Amsterdam am 15. Dezember 2021
Zudem seien die heutigen Maßnahmen nicht von einem totalitären Regime auferlegt, sondern Abstimmungsergebnis einer Mehrheit eines demokratisch gewählten Parlaments. Auch und insbesondere ein demokratisch gewählter Abgeordneter müsse die demokratische Grundordnung respektieren. Das habe bereits der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem früheren Urteil festgestellt.
Baudet würde das menschliche Leid der Juden während des Holocausts instrumentalisieren. Das sei unnötig verletzend und unrechtmäßig gegenüber den Opfern des Holocausts und ihren Angehörigen. Damit würde er auch zu einem Diskussionsklima beitragen, das den Antisemitismus fördert – und tatsächlich von den Corona-Maßnahmen ablenken, um die es ihm eigentlich gehe. Der Eingriff in seine Meinungsäußerungsfreiheit sei demnach verhältnismäßig.
Eine Richtigstellung muss Baudet aber nicht veröffentlichen, da der Sachverhalt bereits in der öffentlichen Gerichtsverhandlung aufgeklärt wurde. Eine eingehendere Klärung der Rechtsfragen wird wahrscheinlich eine später folgende Hauptverhandlung bringen.
Thierry Baudet, der auch die Prozesskosten tragen muss, reagierte inzwischen auf seine Weise auf das Urteil: Auf seinem Twitter-Kanal wiederholte er die vier verbotenen Tweets mit dem Hinweis, dass er diese nun innerhalb von 48 Stunden löschen müsse.
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog"Menschen-Bilder des Autors.