Gerichtsurteil: Klimaschutz ist Menschenrecht – wird er jetzt umgesetzt?
Europäischer Gerichtshof stellt Verletzung der Rechte von Seniorinnen fest. Zwei andere Klagen abgewiesen. Was bedeutet das für Deutschland und die EU?
Es gibt keine Generation mehr, die nicht von den Folgen der Klimakatastrophe betroffen ist – das haben die im Durchschnitt 73 Jahre alten Mitglieder des Schweizer Vereins Klimaseniorinnen mit ihrer erfolgreichen Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg deutlich gemacht.
Mit dem Urteil vom heutigen Dienstag stellte der Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben aus Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie des Rechts auf ein faires Verfahren aus Artikel 6 durch die Schweiz fest.
Klimakollaps: Gerichtshof erkennt Betroffenheit alter Menschen
Hintergrund ist, dass die Klimaseniorinnen geltend gemacht hatten, als ältere Frauen aufgrund ihrer beeinträchtigten Thermoregulation besonders stark durch zunehmende Hitzewellen gefährdet und in ihrer Lebensführung eingeschränkt zu sein. Sie hatten zudem auf die Gefahren für die heute jüngeren Menschen aufmerksam gemacht, was aber für den Gerichtshof zählte, war die Opfereigenschaft der Klägerinnen.
Wegen der häufigeren und intensiveren Hitzewellen steigen die Risiken, frühzeitig krank zu werden oder zu sterben, für uns übermäßig an. Außerdem müssen wir heute handeln, um unsere Nachkommen vor noch viel schlimmeren Auswirkungen zu schützen. Wir klagen, weil alles, was uns lieb ist, auf dem Spiel steht.
Aus einer Stellungnahme des Vereins Klimaseniorinnen Schweiz
Erderhitzung: 1,5-Grad-Marke bereits für ein Jahr überschritten
Gemeinsam mit vier Einzelklägerinnen hatte der Verein beim EGMR Beschwerde gegen die Schweiz eingereicht, um effektivere Klimaschutzmaßnahmen durchzusetzen: Das Land müsse mehr für die Emissionsminderung tun, um den globalen Temperaturanstieg um mehr als 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu verhindern.
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Ein Schwellenwert, der inzwischen bereits für ein Jahr am Stück überschritten wurde, Forschende betrachten allerdings längere Zeiträume, im gesicherte Aussagen zu treffen.
Klimaklage vor nationalen Gerichten ohne Erfolg
Alle nationalen Instanzen des Landes hatten die Klimaseniorinnen vorher erfolglos durchlaufen. Das Urteil betrifft erst einmal nur die Schweiz, könnte aber Präzedenzwirkung für weitere Klimaklagen in Europa haben. Allerdings bedeutet das erst einmal nur, dass die Chancen für Interessierte gestiegen sind, auf dem Papier Recht zu bekommen.
Aktivistin ermutigt zu weiteren Klimaklagen
Wenn Regierungen Klimaschutz verschleppen, verletzen sie Menschenrechte. Eine Zäsur für einen europäischen Kontinent voller Staaten, die sich nicht an Klimaziele halten. Die Türen für weitere Klimaklagen sind sperrangelweit auf!
Luisa Neubauer, Fridaays for Future
Während prominente Umwelt- und Klimabewegte wie Luisa Neubauer von Fridays for Future und der Campact-Geschäftsführer Christoph Bautz das Urteil als Erfolg werten und die Klimaseniorinnen von einem "Sieg für alle Generationen" sprechen, warnen andere Aktivisten vor Illusionen: In der Praxis hätten juristische Erfolge – wie etwa der Klima-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2021 – nicht zu mehr Klimaschutz geführt.
Deutschland bei Klimazielen auf Kurs: Was steckt dahinter?
Aktuell befindet sich Deutschland zwar nach Angaben der Bundesregierung "erstmals auf Kurs", was die für 2030 selbst gesetzten Klimaziele betrifft. Die Frage ist aber, ob es diesen Kurs halten wird – zumal die Entwicklung auch mit der ungewollten Abwanderung von Industriebetrieben in Verbindung gebracht wird. Im Verkehrssektor wurden hier die Klimaziele zuletzt deutlich verfehlt.
Klimaklage von sechs jungen Menschen aus Portugal gescheitert
Eine Klage von sechs portugiesischen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von elf bis 24 Jahren, die auch Deutschland direkt betraf, hat der EGMR zudem für unzulässig. 2021 hatten sie 32 Staaten verklagt, darunter alle Mitglieder der Europäischen Union (EU) sowie Norwegen, Großbritannien, die Türkei, die Schweiz und Russland.
Bundesregierung bestritt jede Mitverantwortung
Die damalige deutsche Bundesregierung hätte aber ohnehin jede Mitverantwortung für Klimafolgeschäden in Portugal abgestritten. Laut einem Bericht des ZDF-Magazins frontal 21 hieß es in einer schriftlichen Stellungnahme der Bundesregierung an das Gericht im August 2021, Deutschland sei es nicht möglich, mit seiner Klimapolitik "Einfluss oder Kontrolle" auf die Lebensbedingungen der Klägerinnen und Kläger in Portugal zu nehmen.
Die in Deutschland ausgestoßenen Treibhausgase hätten "nicht direkt und unmittelbar zur Folge, dass es tausende Kilometer entfernt zu Waldbränden oder Stürmen kommt".
Klimaforscher: Jede Tonne CO2 spielt eine Rolle
Prof. Wolfgang Lucht vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung und Mitglied des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung, betonte dagegen: "Egal wo dies geschieht: Jede Tonne CO2, die emittiert wird, trägt zur Klimaerhitzung und damit zu den Folgen bei. Auch die Treibhausgasemissionen Deutschlands sind somit für die Schäden, die durch die Klimaerhitzung entstehen, anteilig mitverantwortlich."
Auch Bürgermeister aus Frankreich mit Klage gescheitert
Als unzulässig abgewiesen wurde an diesem Dienstag auch die Klimaklage des ehemaligen Bürgermeisters der französischen Küstengemeinde Grande-Synthe, Damien Carême, gegen Frankreich. Er hatte von der französischen Regierung ebenfalls mehr Klimaschutz gefordert und eine Verletzung von Artikel 2 und 8 der EMRK geltend gemacht.
Laut einem Bericht der Legal Tribune Online sprach ihm der aber Gerichtshof aber die erforderliche Opfereigenschaft ab, da Carême inzwischen Abgeordneter im Europäischen Parlament ist. Er lebt daher in Brüssel und hat kein Haus mehr in der Gemeinde, in der durch den steigenden Meeresspiegel das Risiko Überschwemmungsrisiko zunimmt.