"Gestern noch schien der Krieg ein Alptraum, heute fühle ich seine Wirklichkeit"

Seite 2: Die Sozialdemokratie trägt ihr Kreuz

Ich beschließe, zum Reichstag zu fahren. Dort werde ich die Unsrigen finden, sicherlich ist Haase dort und Liebknecht.

Ich gehe durch den vertrauten Abgeordneteneingang. Der Pförtner kennt mich, er verbeugt sich liebenswürdig und erkundigt sich nach einem Blick auf den Karton:

"Sie kommen wohl von draußen, vom Sommerhaus?"

"Von wegen draußen!"

In den Wandelgängen des Reichstages ist es leer. Mir entgegen kommt Kautsky. Ganz tapprig und konfus ist er! Beide Söhne sind zur österreichischen Armee eingezogen, seine Frau ist in Italien. Ich frage ihn nach seiner Meinung zu den Ereignissen: "Was wird denn nun weiter?"

Und auf einmal seine völlig überraschende Antwort: "In so einer schlimmen Zeit muss eben jeder sein Kreuz zu tragen wissen."

"Sein Kreuz"? Ist der alte Mann etwa nicht ganz bei Tröste?

Göhre setzt sich zu uns. Er ist durch und durch naiv-patriotisch. Wenn man ihnen so zuhört, begreift man gar nichts mehr: Entweder haben sie alle den Verstand verloren, oder ich bin nicht mehr normal. Doch die Wand des Nichtverstehens wird immer dicker.

"Denken Sie nur, wer hätte das geglaubt, dass es unter unseren Sozialisten so viel Patriotismus, so viel Begeisterung geben würde! Viele ziehen als Freiwillige in den Krieg. Ja, ja, Deutschland ist uns allen teuer. Man hat uns überfallen, nun werden wir das Land verteidigen! Wir werden zeigen, dass auch die Sozialisten für das Vaterland zu sterben wissen."

Göhres Töchter brennen darauf, zu den Krankenschwestern zu kommen. Von Gewalttätigkeiten gegenüber Russen hat er nichts gehört. Er glaubt nicht daran. Und schließlich, ist es in Russland etwa besser.

"Schrecklich, wenn man an das Los unserer armen Landsleute in Russland denkt."

Landsleute? Wer ist das denn? Alle möglichen Kaufleute, Handlungsreisenden, Unternehmer. Und um die grämt sich der Patriot Göhre?

"Wir werden gegen den Zarismus kämpfen. Wir werden euch Russen helfen, das Joch der Gewalt und Unterdrückung abzuschütteln."

Mit Hilfe des Schwertes und des Oberkommandos? Stadthagen ist nervös. Er ruft mich beiseite. Vertraulich informiert er mich über "ungeheuerliche, beispiellose Meinungsverschiedenheiten" in der Reichstagsfraktion. Auf der gestrigen Sitzung der sozialdemokratischen Fraktion sei es beinahe zum Handgemenge gekommen. Eine Minderheit habe sich herausgebildet, vierzehn Leute, unter ihnen Haase und Liebknecht. Sie haben den Beschluss der Mehrheit angefochten, für den Etat zu stimmen.

"Wie bitte? Für den Etat zu stimmen?" Ich traue meinen Ohren nicht.

"Selbstverständlich. Aber darum geht es gar nicht. Die Sache ist vielmehr die, dass wir uns über die Formulierung nicht einig werden konnten. Die Begründung ist nicht richtig, ist inakzeptabel."

Mit der Ausarbeitung der Begründung für die Erklärung der Fraktion sei eine Kommission, bestehend aus Kautsky, David und noch jemandem, beauftragt worden. Kautsky habe das eine, David etwas anderes vorgeschlagen. Die Begründung Kautskys sei verworfen worden, und der alte Kautsky habe die Begründung Davids korrigieren und verbessern müssen.

Bei der Fraktionssitzung sei man nicht vollzählig gewesen. Nach Meinung Stadthagens ist die Auffassung der Minderheit angesichts der jetzigen Situation einfach eine "Kinderei". Der Krieg sei eine Tatsache. Durch Stimmenthaltung könnten die Sozialisten ihre ganze Beliebtheit bei den Massen einbüßen. Man würde sie als "Feinde des Vaterlandes" ansehen, und das wiederum würde sich auf die Zukunft der Partei auswirken. Die Arbeitermassen seien für den Krieg. Deutschland müsse sich "verteidigen". Stadthagen meint, Deutschland werde inzwischen nicht nur von Russland und Frankreich, sondern auch von England bedroht.

"Wenn mein Haus von Räubern überfallen wird, wäre ich schön dumm, Überlegungen über ,Humanität' anzustellen, statt auf sie zu schießen!"

"Und die weltweite Solidarität der Arbeiter?"

"Was soll's! Sie ist vorerst noch zu schwach, um einen Krieg zu verhindern."

Dieses Gefühl unbeschreiblicher Bitterkeit und Fremdheit …

In den Gängen ist es immer noch leer. Kein bekanntes Gesicht unter dem Personal, sie sind alle eingezogen. Nur die Alten sind geblieben.

Frank, David und Wendel kommen herein. Ich höre, wie Wendel sagt:

"Wenn man in der Redaktion des Vorwärts immer noch nicht begriffen hat, worin unsere Pflicht besteht, sollte man die Redaktion ins Irrenhaus schicken! In solchen Augenblicken, da sich Ereignisse von Weltbedeutung abspielen, käuen sie ihre Bücherweisheit wieder. Bei diesen Leuten sind Argumente wohl fehl am Platze. Da sollte man daran denken, dass jetzt alles mit der Kugel entschieden wird!"

Wendel, der jüngste Reichstagsabgeordnete. Der so begabte Wendel ein "Patriot"?

"Ich gehe an die Front. Dort werde ich nötiger gebraucht als in der Redaktion des Vorwärts."

Auch Frank hat sich als Freiwilliger gemeldet. Er wird umringt, man drückt ihm die Hand. "Ich melde mich nach vorn. Unbegreiflich, wie man im Trockenen sitzen kann, während die Genossen im Kugelregen stehen!"

Ja, warum, warum nur lässt man sie denn "in den Kugelregen?"

Die Begeisterung Franks scheint mir gespielt. Doch gibt es auch aufrichtige, entsetzlich aufrichtige "Patrioten".

Ich passe Haase ab. Es ist mir peinlich, ihn in solchen Augenblicken mit meinen privaten Sorgen belästigen zu müssen, denn schließlich entscheidet sich jetzt nicht nur das Schicksal der Völker, sondern auch das der Sozialdemokratie. Doch Haase ist aufgeräumt und liebenswürdig. "Heute nach der Sitzung spreche ich mit Bethmann über die verhafteten Russen. O ja, wir sind jetzt bei der Regierung Persona grata!" (In Gunst stehende Person. Die Red) Was soll das heißen? Ist Haase etwa nicht gegen die Kriegskredite? Was hat sich geändert?

Ich komme nicht mehr dazu, mich danach zu erkundigen. Die Sitzung fängt an. Mit einer Eintrittskarte für die Publikumsempore gelange ich in den Saal.

Die Sitzung wird von der Rede des Kanzlers ausgefüllt. Im Saal ist die Atmosphäre gespannt. Alle Abgeordneten sind zugegen. Das Publikum lauscht wie gebannt. Die Kanzlerrede ist sachlich und bestimmt, wohlüberlegt. Der Vorwurf an Russland, es habe die Fackel des Krieges geschleudert. An dieser Stelle stimmen Saal und Publikum auf der Empore hysterisch zu. Auch die linken Bänke spenden Beifall. Die Rede des Kanzlers wird wiederholt von Applaus unterbrochen. Als Bethmann Hollweg dann aber eine Erklärung über den möglichen beziehungsweise bereits erfolgten Einmarsch in Belgien (was schon gestern vollendete Tatsache war!) abgibt, herrscht Stille im Saal. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung auf den linken Bänken und erneut gespannte Aufmerksamkeit.

Pause. In einer Stunde geht die Sitzung weiter. Ich eile in die unteren Wandelgänge. Im Saal sind eine Menge Militärs. Etliche Abgeordnete sind bereits in Uniform erschienen. Ich sehe Liebknecht und frage ihn nach der gestrigen Sitzung.

"Sie sind hoffnungslos verloren. Der Rausch der ,Vaterlandsliebe' hat ihnen die Sinne verwirrt. Da kann man nichts machen. Heute wird die ,Erklärung' der Fraktion abgegeben."7

Und die Minderheit?

Der Minderheit bleibe nichts weiter übrig, als sich der "Parteidisziplin" zu fügen. Das ungeheuerliche sei jedoch, dass die "Erklärung" der Fraktion von Haase verlesen werden wird, von jenem Haase, der selbst Gegner der Kriegskredite ist.

Liebknecht missbilligt entschieden, dass sich Genossen als Freiwillige melden. Dafür gebe es keine Rechtfertigung.

Bei seiner ganzen Sorge um das Große, um das Wichtigste, geht Liebknecht dennoch wie immer teilnahmsvoll auf meinen persönlichen Kummer wegen meines Sohnes ein. Ihm selbst lässt das Schicksal der verhafteten Genossen auch keine Ruhe. Er schlägt vor, die Pause zu benutzen, um im Oberkommando Auskunft einzuholen.

Ich habe den Eindruck, dass ihm der Aufenthalt in den Wandelgängen des Reichstages, wo ihn die eigenen Genossen wegen seiner heftigen Verurteilung des Krieges und seiner Kritik an der "Erklärung" scheel ansehen, schwerfällt.

Wir fahren in einem überfüllten Omnibus. Im Oberkommando lässt man uns lange bei der Anmeldung warten. Liebknecht ist nervös. Der ansonsten magische Titel "Mitglied des Reichstages" wirkt heute nicht. Was ist schon ein Mitglied des Reichstages für diese stumpfsinnigen Typen in Uniform, die wie eine Maschine, exakt, ohne nachzudenken, die Anweisungen von oben ausführen?

"Sehen Sie, dort rechts wird die öffentliche Meinung gemacht, werden Legenden geschaffen darüber, dass Deutschland überfallen worden ist", macht mich Liebknecht auf eine Tür mit der Aufschrift "Presseabteilung" aufmerksam. "Da werden Telegramme über unsere Siege und Meldungen über Spione fabriziert. Morgen kommt dann ein Dementi, doch die Dementis werden klein gedruckt, so dass sie niemand liest."

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