Gestrandet in der Apokalypse

Außerhalb der sicheren Städte: "Code 46"

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Ein Science-Fiction-Thriller über eine Welt, in der Überwachungstechnologie und genetische Hierarchien dominieren... "Code 46", der neueste Film des Briten Michael Winterbottom, entwirft eine schwarze Utopie, gefüttert mit den Ideen seiner großen Landsleute von H.G. Wells über George Orwell bis Ray Bradbury. Dabei ist sie voller origineller Einfälle, wie der Idee jener Viren, die man "nimmt" wie eine Medizin, zum Beispiel um eine fremde Sprache zu sprechen. Wie jeder gute Science-Fiction handelt "Code 46" dabei in erster Linie von unserer Gegenwart, bietet eine faszinierende Reflexion zum Thema Überwachung und Strafe, einem Sicherheitsfetischismus, der auf Kosten der Freiheit geht. Wie das bisherige Kino von Winterbottom ist auch dieser Film flirrend und pathetisch. Immer wieder erfindet sich dieser Regisseur neu. Filmemachen als Strategie der Transformation.

Blicke von oben, aus einem Flugzeug, wie sie Michael Winterbottom so liebt: Häuser inmitten von weitem wüstem Land, in das einzelne Straßen gerade Linien zeichnen. Auf den ersten Blick sieht sie ja ganz schön aus, die Vision der Zukunft, die der Brite in seinem ersten Science-Fiction beschreibt: Gelblich-Hell und luxuriös, ein bisschen aseptisch vielleicht. Vor realer Landschaft - gedreht wurde in Dubai, Indien und Shanghai - und ohne Hilfe von Computergraphiken ähnelt alles unserem Jetzt - nur unmerklich verschoben, irgendwie irritierend anders. Metallen glänzende, gläsern lichte, futuristisch anmutende Technikträume, wie man sie von Kubrick oder auch aus Andrew Niccols' "Gattaca" kennt, fantastisch und dabei irritierend vertraut. Avancierte Technik prägt das alltägliche Leben, in dem es Rassenvorurteile nicht mehr zu geben scheint. Zu offenkundig transnational durchmischt und plural sind die Identitäten der Menschen - und die Weltsprache ist Chinesisch, das um ein paar englische und spanische Brocken ergänzt wurde. Zum Weltstaat globalisiert ist die Erde schon lange.

Doch hinter der glänzenden Fassade haben sich neue Grenzen aufgetan, lauert Beklemmung: Wassermangel, Überbevölkerung und vor allem eine strenge genetische Hierarchie bestimmen das Leben. Der Alltag scheint folgenlos frei, ist totalüberwacht mit Kameras und Computern, zugleich offen korrupt. Nur Bestechung öffnet manche Wege. Das, was Soziologen heute als drohende "Brasilianisierung" der Verhältnisse beschreiben, ist nun längst Wirklichkeit: Die Reichen und Privilegierten leben in speziell abgesicherten Luxusquartieren, in Metropolen, der Rest haust in den Vorstädten der Metropolen und im zur Wüste gewordenen Land. Die streng überwachten Grenzen zwischen beiden Zonen sind der Ort, an denen sich die Gewalt der Verhältnisse kristallisiert. Sie darf nur überschreiten, wer über eine genetische Identitätskarte verfügt, die "Papelles", die von der "Sphinx-Corporation" hergestellt werden, einem globalen Konzern, in dem Staat und Trust zusammenfallen.

Erinnerungen an die Zukunft

In dessen Auftrag reist nun William Geld nach Shanghai. Er ist Gedankenleser, ein verdeckter Ermittler der Zukunft - wie Harrison Ford in "Blade Runner", der einem hier sofort in den Sinn kommt - und soll seine Fähigkeiten einsetzen, um jenen Verräter zu finden, der Papelles fälscht und schwarz verkauft. Schnell gerät Maria Gonzalez in Verdacht, doch statt sie zur Strecke zu bringen, verliebt sich dieser Jäger in seine Beute. Es beginnt in einer Karaoke-Bar, wo Mick Jones von den Clash den Song "Should I Stay Or Should I Go?" singt und damit die zwei Felder beschreibt, die hier zur Debatte stehen - und in Gefahr sind: Wahlfreiheit und Mobilität. Die glänzend spielenden Tim Robbins und Samantha Morton sind das Mädchen und der Kommissar in dieser Detektivgeschichte, die atmosphärisch an so manchen Klassiker des "Film Noir" erinnert, in der Intensität und Leidenschaft ihrer Liebe ebenso wie in der melancholischen Ausweglosigkeit, die sie begleitet. Denn sie sind ein verbotenes Liebespaar. Wenn sie miteinander schlafen, verletzt das den "Code 46", der Menschen mit ähnlichem Gen-Profil Sex verbietet. Irgendwann kehrt William nach Hause zu seiner Frau zurück. Doch dort hält er es nicht lange aus. Wieder in Shanghai muss er feststellen, dass Marias Erinnerungen an ihre Affaire ausgelöscht worden sind...

"I did think about the days, we met..." - Zwei Erzähler erzählen diese Liebesgeschichte - jeder Teil des Paares bietet seine Sicht dem anderen. Im zweiten Teil des Films ist dann die Liebe zuerst nur im lebensrettendenden Erzählen präsent, entsteht durch es erst wieder neu. Wiederholung sei eine in die Zukunft gewandte Erinnerung hat Alain Robbe-Grillet einmal formuliert - und damit genau das, was hier nun, außerhalb der sicheren Städte, passiert. Die Atmosphäre erinnert an die von "Solaris", freilich mit mehr Eleganz und psychologischer Tiefe. Die Liebessehnsucht ist durchwirkt vom Todestrieb, denn dieses Liebespaar ist letztlich gestrandet in der Apokalypse.

Aus dem Salon der "reinen Kunst" hinaus in die Welt

"Ich will mit jedem Film experimentieren, Neues austesten" sagt Winterbottom. Wie nur wenige andere europäische Filmemacher steht dieser Regisseur für das Festhalten am Anspruch des cinema engagée: Ein Kino, das aus dem Salon der "reinen Kunst" hinaus in die Welt tritt, und auch moralisch und politisch klar Position bezieht. Dabei bleibt er immer "dicht dran", sein Politik-Begriff ist ganz persönlich, auf dem konkreten Eindruck fußend. So wie in der beklemmenden Geschichte eines Reporters im jugoslawischen Bürgerkrieg, die er in "Welcome to Sarajewo" erzählt. Mit den Augen eines Briten, der zwischen zynisch-verzweifelt erhaltener Distanz und überaus unmittelbarer Betroffenheit schwankt, sehen auch die Zuschauer auf die Geschehnisse in Sarajewo, die zugleich so unvorstellbar und so nahe gehend sind. Wie andere seiner Filme zeichnet sich dieser auch durch große dokumentarische Qualität aus.

Der mit erst 43 Jahren immer noch junge Winterbottom ist einer der besten, interessantesten und erfolgreichsten europäischen Filmemacher. Ein Vielfilmer, der nach einer Reihe von Fernseharbeiten bisher in 14 Jahren 17 Filme gedreht hat - durchweg von herausragender Qualität. Bereits 2003 widmete ihm mit dem Festival von San Sebastian, ein wichtiges europäisches Festival, eine erste komplette Retrospektive - nur eines von vielen Belegen der Anerkennung für diesen Regisseur. Im Stil eines Francois Truffaut ist Winterbottom in sehr verschiedenen Genres zuhause, dreht Komödien wie Dramen, Science-Fiction und Western, Thriller und Liebesfilme. Mit dem Migrantendrama "In this World", gar nicht unbedingt seinem besten Film, gewann er vor zwei Jahren bei den Berliner Filmfestspielen den Goldenen Bären - eine überfällige Anerkennung. Mit fast jedem seiner letzten Filme war er im Wettbewerb eines A-Festivals vertreten. Trotzdem hat man den Eindruck, dass Winterbottom immer noch ein verkannter Regisseur ist, einer der schwer einzuschätzen ist. Zu irritierend vielfältig erscheint das Werk dieses Regisseurs, als das er nicht von den Schubladendenkern der Filmwelt unter Seichtigkeitsverdacht gestellt würde. Muss einer, der so schnell dreht, denn nicht Fehler machen? Verbirgt sich nicht in der Vielfalt der Stile und Verfahrensweisen, der Genres und Geschichten eine gewisse Oberflächlichkeit und heimliche Unentschlossenheit, muss ein wahrer Filmkünstler nicht nach Perfektion und Kontinuität eines "Werks" streben - was Winterbottom ganz offensichtlich nicht sehr interessiert? Ein Missverständnis. Denn es ist gerade die Vielfalt, das lustvolle Experimentieren, was Winterbottoms Werk besonders reizvoll und filmisch innovativ macht. Wenn etwas alle seine Filme zusammenhält, dann ist es Neugier und eine Bereitschaft zum Risiko, der unbedingte Wille, sich selbst noch überraschen zu lassen und nicht in Routinen zu erstarren. Zudem gehorchen Winterbottoms Filme den Regeln der Genres keineswegs streng.

Flaneur und Existenzialist

Es gibt zumindest zwei Michael Winterbottoms. Der eine ist ein Flaneur. Ein wenig ziellos, mitunter scheinbar von flirrend-nervöser Unruhe geprägt, schweift er mit der Kamera umher, fängt ein, was ihm gerade in den Weg kommt. Er beobachtet, wie ein Seismograph des Bewusstseins, versucht nicht vorschnell zu ordnen, sondern sammelt, was ihm in den Weg kommt. Kino als ein Kraftwerk der offenen Sinne, das zugleich Denkfabrik sein kann.

Der andere Winterbottom ist der Existentialist der großen Gefühle. Es schadet nicht, zu wissen, dass Winterbottom seinen Werdegang mit einer langen TV-Dokumentation über Ingmar Bergman begann. Sehr oft erzählt er Liebesgeschichten, doch fast immer sind das auch Geschichten einer Paarzerfleischung. Die Figuren ringen mit sich selbst und ihrem Schicksal, etwa in der Thomas Hardy-Verfilmung "Jude", in dem ein liebendes Paar doch nicht zusammenkommt, weil sich scheinbar nicht nur die Welt sondern auch Gott gegen sie verschworen hat. Oder in "I want you" einem der besten, jedenfalls dem meistunterschätzten Film des Briten. Ein Thriller der Empfindungen, bei dem die selbstzerstörerische Amour Fou eines Paares und die melancholische Einsamkeit der von Rachel Weisz grandios gespielten Hauptfigur im Zentrum steht. Voller Pathos beschwört und verstärkt Winterbottom noch die Emotionen des Geschehens auf der Leinwand, indem er es in einen dicht geknüpften Teppich aus schmeichelnder Musik und suggestiven Schnittfolgen einbindet. Mehr als einmal griff Winterbottom in seinen Filmen auf die ebenso narkotisierenden wie leidenschaftlichen Klangteppiche eines Michael Nyman zurück.

Der Weg, den der Filmemacher Winterbottom in den letzten Jahren zurückgelegt hat, führt, grob gesagt, vom großen Kino zum experimentellen. Zunehmend zeigt er ein Desinteresse am Fertigerzählen aller Handlungsstränge, wird die Geschichte durch Atmosphären ersetzt. Vielleicht kommt es auch durch den Einsatz der digitalen Kamera: Die Bilder "driften" mehr, sie zeigen uns nur einige Fragmente. Seine letzten Filme gleichen Erkundungsreisen. Winterbottom selbst spricht von "artificial storytelling". Der immer noch junge Winterbottom ist voraussichtlich auch in den nächsten Jahrzehnten noch für viele angenehme Überraschungen gut. Gerade fertig gedreht hat er eine Version von "Tristam Shandy", die zum Teil in der Gegenwart, zum Teil im 18.Jahrhundert spielt. Erst im Januar kam "9 Songs" ins Kino, eine Liebesgeschichte erzählt mit viel Pop-Musik und expliziten Sex-Szenen, die schon vorab für Aufsehen sorgten. Nun folgt "Code 46", ein Science-Fiction um Liebe und Erinnerung - eine kühlere europäische Antwort auf Wong Kar-wais 2046. Für den Regisseur "ein Mix aus Romanze und Science-Fiction" verzichtet er diesmal auf - womöglich zu eindeutige - Thesen. Die Grundfrage dieses "Minority Reports" anderer Art ist aber die gleiche wie in "in this world": Die nach der Gerechtigkeit der Verhältnisse, nach der Zukunft der Teilung zwischen Erster und Dritter Welt, und die Parteiname für jene Outcasts, die ohne Pass und Anerkennung an den Rändern des Reichtums um ihr Überleben kämpfen.

Hard-boiled wonderland

Es ist eine schwarze Utopie, die Winterbottom entwirft, gefüttert mit den Ideen seiner großen Landsleute, von H.G. Wells über George Orwell bis Ray Bradbury, dabei weniger tendenziös und platt als viele Beispiele des Dystopie-Genres, darunter auch berühmte wie "Metropolis", in dem die die Allmachtsphantasien des Präfaschismus mit den kaum minder totalitären Gegenwelten der Lebensreformbewegung verschmolzen, und damit den Takt anschlugen vor das manichäische Zwei-Reiche-Modell, das viele dieser Geschichten prägt. Der Film ist offener, spielerischer, und facettenreicher, er verzichtet auf eindeutige Wertung und setzt auf Atmosphäre und subtile Ironien, darin Yu Lik-Wai's "All Tomorrow's Parties" und Jean-Luc Godard's "Alphaville" ähnlicher als Hollywood-Vorläufern. Im Einzelnen ist "Code 46" voller origineller Einfälle, wie der Idee jener Viren, die man "nimmt" wie eine Medizin, zum Beispiel um eine fremde Sprache zu sprechen. "Code 46" ist kein einfacher Film, sondern bewegt sich abseits der Vergnügungen gewöhnlicher Science-Fiction-Filme - geprägt von einem ganz eigenen stillen Humor, irritiert er unsere Erwartungen.

Zugleich ist auch dieser lakonische Thriller wieder wie nahezu alle Winterbottom-Werke ("I want you", "Welcome to Sarajewo", "Wonderland") ein existentielles Drama: Es handelt von den Möglichkeiten der Liebe in entfremdeten Zeiten und feiert die Freiheit zur Überschreitung. Zugleich erlaubt sich der Regisseur ein frivoles Spiel mit dem Ödipus-Mythos, dessen ingeniöse Aufbereitung fürs Zeitalter der Gentechnologie. Im letzten Drittel des Films erfährt William nämlich, dass Maria genetisch identisch mit seiner Mutter ist. So erhält der Staat mit seinem "Code 46"-Gesetz und anderen Restriktionen am Ende sogar in gewisser Weise Recht. In Zeiten von Klonierung und inflationärem Gebrauch der Gen-Technologie muss auch das Biologische der Macht unterworfen werden - Biopolitik, wie schon Foucault wusste, ist keine totalitäre Laune, sondern Konsequenz der Verhältnisse.

Aber Winterbottom will die Zukunft nicht analysieren, sondern sinnlich erfahrbar machen. Gerade durch seine atmosphärische Offenheit ist dieser Science-Fiction beklemmend. Einen Seelenverwandten von Tom Tykwer und Julio Medem hat man Winterbottom genannt. Was "Code 46" vor allem zu einer bestechenden, intensiven Erfahrung macht, ist seine imaginative Kraft, der flüchtig-nervöse Sog den er durch geschickte Kameraführung und Montagen aus Bildern und Musik, voller Rhythmus entfaltet, ist die Poesie, die in der Mischung aus traumartiger, hypnotischer Trance-Atmosphäre und latenter Bedrohung liegt. Die Leinwand wird bei Winterbottom einmal mehr zum "hard-boiled wonderland", in dem zwei Welten, die der realistischen Beobachtung und die leidenschaftlicher Phantasie kühn nebeneinander bestehen bleiben dürfen, ohne sich aneinander abzureiben. Unterkühlter Humor trifft sich mit sanfter Melancholie; Bilder, die man nicht vergisst, Kino, das nachwirkt.