Giftgasangriff auf Khan Scheichun: Der OPCW-Bericht löst die Rätsel nicht

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Wie ist das Ganze nun zu bewerten? Es sind Menschen unter entsetzlichen Umständen ums Leben gekommen. Die Expertise der für die Ermittlungen zuständigen OPCW legt gewichtige Indizien dafür vor, dass ein Chemiewaffenangriff auf Khan Scheichun aus der Luft von SU-22-Flugzeugen ausgeführt wurde. Gegen-Behauptungen, die in den ersten Tagen nach der "Schockmeldung" geäußert wurden, wonach diese Flugzeuge nicht dafür geeignet sind, treffen nicht zu.

Auch Gegendarstellungen, wie sie etwa aus russischen Quellen zu vernehmen waren, wonach eine Explosion in einem Waffenlager in Khan Scheichun zum Ausströmen des Giftgases führten, rufen Zweifel hervor, die in dem Bericht ausgeführt werden.

Was den technischen Ablauf betrifft, so wäre eine Review, wie das bei wissenschaftlichen Gutachten üblich ist, von Sachkundigen notwendig. Es wäre wünschenswert, wenn sich Experten wie z.B. Theodore A. Postol, der sich mehrmals sorgfältig mit dem Bericht des Weißen Hauses auseinandergesetzt hatte, mit einer Zweitmeinung zum Bericht melden. Aber bislang herrscht unter Experten Schweigen. Oder sie kommen nicht an die Öffentlichkeit.

Wichtig wäre eine sachkundige Einschätzung des Wahrscheinlichkeits-Bildes, das der JIM-Bericht aufstellt, auf jeden Fall. Weil relevante Fragen offen bleiben. Zum Beispiel nach der Motivation für einen Giftgaseinsatz seitens der syrischen Armee. Warum wird am selben Tag ein sehr nahe gelegener Ort, wo man also auch Hayat al-Tahrir al-Sham mit größter Wahrscheinlichkeit vermuten kann - und in diesem Zeitpunkt gab es Kämpfe zwischen der syrischen Armee und der HTS - mit konventionellen Waffen angegriffen und andernorts sollen dann chemische Waffen eingesetzt werden? Wozu?

Um Schrecken zu verbreiten? Als ob der Krieg bis dato nicht schon genug Schrecken ausgelöst hätte. Ein grausamer Angriff auf die Zivilbevölkerung, um al-Nusra davon zu überzeugen, wie sinnlos der Widerstand ist? Das überzeugt als Argument wenig, wenn man dagegen hält, wie viel Risiko auf dem Spiel steht. Dass ein Giftgas-Angriff die Öffentlichkeit sehr stark beeinflusst, weiß auch Assad. Für welche Gründe sprechen für einen solchen schwer gewichtigen Einsatz?

Möglich wäre vielleicht, dass die moralischen Verwüstungen durch einen jahrlangen bitteren Krieg eine derart brutale Machtdemonstration ins Kalkül rücken. Aber der bisherige Verlauf des Krieges in Syrien untermauert eher die Ansicht, dass Assad zwar mit großer Härte, aber mit einer nüchternen Lageeinschätzung und langfristigen Strategien vorgegangen ist.

Wo ist der strategische Gewinn?

Wo wäre der strategische Gewinn bei Khan Scheichun, der einen Chemiewaffeneinsatz rechtfertigt? Man hat später nichts mehr von Kahn Scheichun gehört, auch stand der Kampf gegen al-Nusra in zweiter Reihe, Priorität hatte der Süden des Landes, der Kampf gegen den IS bei Deir-Ezzor.

Dagegen kommt die Aussage des JIM-Berichts für Interessen der USA und befreundeter Koalitionsmitglieder wie Frankreich und Großbritannien zu einer passenden Zeit. Der US-Außenminister machte vergangene Woche erneut klar, dass man in der US-Regierung nicht an eine Zukunft Syriens mit Assad als Präsidenten denkt.

Ähnliches äußerten der britische Außenminister Johnson und sein französischer Amtskollege, der auch deutlich machte, dass der Westen an Interessensgebieten oder Einflusssphären in Syrien festhält. Für Präsident Macron ist klar, dass Assad ein Kriegsverbrecher ist. Die Frage zur Zukunft Assads habe augenblicklich keine Priorität, erklärte er vor einigen Wochen.

Genf gegen Astana

Das ändert sich nun angesichts der Gespräche in Genf zur politischen Übergangsphase in Syrien, die nun wieder aufgenommen werden sollen und sich dem Astana-Prozess gegenüber politisch zu behaupten haben. Das hat aufgrund der Realitäten vor Ort kaum Aussichten. Der einzig mächtige Hebel, den die "Freunde Syriens" hier ansetzen können, ist der Verweis auf die Sicherheitsratsresolutionen, die einstimmig, also auch mit Russland und China, verabschiedet wurden. Genau auf diese Resolutionen beruft sich auch der JIM- Bericht.

Die syrische Regierung weigert sich den OPCW-Bericht anzuerkennen. Er stimme nicht mit den Fakten überein, die sich tatsächlich in Khan Scheichun zutrugen. Der Bericht sei aufgrund politischen Drucks zustande gekommen. Heftig kritisiert wird, dass die OPCW keine Delegation an den Ort geschickt hat.

Dieser ist offensichtlich, weswegen die Einschätzung des Autors bestehen bleibt, dass es sich bei den Vorwürfen gegen Baschar al-Assad in dieser Sache in der Stoßrichtung um einen politischen Akt handelt, bei dem es in der Hauptsache um die Delegitimierung Assads geht.

Die sachliche Begründungen sind angesichts des Gewichts der Vorwürfe nicht überzeugend genug, weil sie wichtige Fragen und Widersprüche nicht beantworten oder offen lassen und die Quellenkritik gegen die parteiisch agierenden White Helmets zu nachlässig behandelt wird. Dennoch: Die Gegendarstellung der syrischen Regierung begnügt sich nur mit politischen Vorwürfen. Eine konsistente sachliche Gegendarstellung hat sie noch nicht geliefert.