Globalisierung und Medien

Seite 4: Wir erleben den Wandel von einer repräsentativen zu einer performativen Demokratie

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Hat der Leser den Hohepriestern der Schrift das Monopol der Interpretation weggenommen, so nimmt heute der Netzbewohner dem Politiker das Monopol der Performativität. Wie sie Austin in seinem Werk "How to make things with words" (1961) beschrieben hat. Jeder User kann heute mit seinen Worten potentiell den Zustand der sozialen Welt beeinflussen. Er kann tatsächlich politische Macht ausüben und muss sie nicht mehr an diejenigen delegieren, die bisher das Monopol der performativen Macht innehatten, nämlich die Mitglieder des Parteienstaates von den Ministern zu den Richtern. WikiLeaks ist das erste Anzeichen für den Verlust des Monopols.

Der Humanismus der Aufklärung findet im globalen Netz seine technische Verfasstheit. Erstens weil im Netz jeder Empfänger auch Sender ist, es gibt also keine monolateralen und monofokalen Beziehungen mehr, sondern nur mehr multilaterale und polyfokale Systeme, wie es das Wort Netz ja schon selbst ausdrückt. Das Netz ist der technische Ausdruck der Pluralität, die Identität nicht ausschließt. Das Netz ist die Antwort auf die von der Globalisierung gestellte Identitätsfrage. Das Netz leitet eine performative Wende ein, in der die Netzbewohner an der Ausübung von Macht teilhaben können und somit den Horizont einer Demokratie eröffnen, die über eine repräsentative und konstitutionelle Demokratie hinausgeht.

Wir erleben den Wandel von einer repräsentativen zu einer performativen Demokratie. Gerechtigkeit und Gleichheit, Freiheit und Solidarität, diese Ideale der Aufklärung, scheinen im Netz weiterzuleben. Die Kulturphilosophie, welche mit der Identität aufgrund der globalen Migrationen Probleme hat, kann vom Modell des Netzes lernen, dass Homogenität Identität nicht ausschließt, genauso wenig wie Pluralität. Das Beispiel des Klaviers zeigt uns, dass auf einem homogenen Musikinstrument unterschiedliche Melodien gespielt werden können. Das Netz zeigt uns auch, dass wir keine korporatistischen Zuweisungen wie Nation oder Religion brauchen, um Identität zu bewahren. Nicht umsonst spricht man vom Netz als "social networks" bzw. von "social media", von online Alter-Egos und Avataren (siehe Michael Heim, The Avatar and the Power Grid, 2001). Das Netz sticht in der Tat in jene Lücke, die sich in der globalen ökonomischen Welt zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Kratos und Demos auftut.

Das Netz erlaubt uns daher wiederum eine Geschichtsphilosophie, nämlich das Kommende und Mögliche zu denken. Wie wir wissen, sind Netzwerke Anwendungen der Graphentheorie. Wir unterscheiden zwischen Zufallsgraphen und gerichteten Graphen. Gerichtete Graphen bilden das Modell der Geschichte, einer Geschichte, die ein Ziel hat und einen Sinn, z.B. den Fortschritt zu einer gerechteren Gesellschaft und zu freien mündigen Bürgern. Aufgrund der totalitären Erfahrungen im 20. Jahrhundert, das voller geschichtlicher Heilsversprechen war, die in grausamen inhumanen Systemen endeten, haben wir den Glauben an die Geschichte als gerichteter Graph verloren. Wir leben nun in einer Zufallsgeschichte, in einer Welt der Zufallsgraphen und in einem Random Universe. Der globale Markt ist scheinbar der Spiegel dieses grausamen Zufallsuniversums.

Aber aus der Mathematik wissen wir, dass Zufallszahlen durch Algorithmen generiert werden können, dass also der Zufall programmierbar ist. Insoferne schöpfen wir Hoffnung, dass mit dem "social network" auch die globale Welt mit vernünftigen humanen Prinzipen steuerbar wird. Die technischen sozialen Medien von heute, die global vernetzten Medien, versprechen trotz aller ihrer Schattenseiten, deren wir uns bewusst sind, eine humane und aufklärerische Antwort jenseits der Stereotypen konservativer Kulturtheorien auf die Gefahren der Globalisierung.

Peter Weibel, Künstler, Ausstellungskurator und Kunst- und Medientheoretiker, ist Leiter des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM).

Der Beitrag von Peter Weibel ist zuerst unter dem Titel: "Per un illuminismo digitale. Globalizzazione e media." in: alfabeta2. Mensile de intervento culturale Aprile 2011, Numero 08, erschienen.