Grenzschutz-Folklore vor wichtigen Wahlen in Österreich
Mit mehr Abschottung versucht Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) zu punkten. Er blockierte per Veto den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien. Das bringt nicht nur seine Partei ÖVP in Bedrängnis.
"Kräftig nationalstaatlich" will er agieren, der österreichische Bundeskanzler, der gerade Schlagzeilen macht, weil er 2021, noch als Innenminister, seinen deutschen Amtskollegen Horst Seehofer (CSU) bekniet haben soll, Afghanen nach Kabul abzuschieben. Wenige Tage vor der Machtübernahme der Taliban.
Grenzen sichern, Balkanroute schließen, gerne auch mit dem Sahnehäubchen des Anspruchs, damit die "eigene Kultur" – was immer die auch sei – zu schützen, sind die erfolgreichen Evergreens von Nehammers Amtsvorgänger Sebastian Kurz gewesen. Ein Schwarz-Weiß des "Wir und die Anderen" wird bedient. Das Böse und Schlechte ist außen – und das Gute sind wir natürlich selbst.
Da passt es immer, nach Abschiebemöglichkeiten zu suchen und Menschen in Not als Sicherheitsrisiko zu betrachten. Die Festung Europa muss nach Schwachstellen abgesucht werden – und eine solche sieht Nehammer in Bulgarien und Rumänien. Deshalb seien diese Länder für den Zutritt zum Schengen-Raum einfach noch "nicht reif".
Asylsuchende und Migranten würden unregistriert und in großer Anzahl über die beiden EU-Länder strömen. Nun scheint es etwas überraschend, dass laut den Zahlen Nehammers – die anders lauten als die der beschuldigten Länder –, so viele Flüchtlinge den Abstecher über Bulgarien und Rumänien machen. Einfacher gelingt die Flucht über Kroatien; und das durfte jetzt in den Schengen-Raum.
Ob Nehammer Rumänen und Bulgaren faktenwidrige Vorwürfe macht, wenn er behauptet, die beiden Länder würden einen nur unzureichenden Kampf gegen Schlepper führen, ist schwer zu beurteilen. Es steht Aussage gegen Aussage.
Ganz offenkundig geht es aber ums "Gefühl". Die ÖVP versucht sich wieder mit dem Dauerthema "sichere Grenzen" aus dem Umfrageloch zu hieven, nachdem sie auf Platz drei hinter SPÖ und FPÖ gefallen ist. Außerdem stehen wichtige Wahlen im zweitgrößten Bundesland Niederösterreich an – und da passt es wohl einfach, ein bisschen die Ressentiments gegen Rumänen und Bulgaren zu schüren.
Roter Zwist zur Unzeit
Die SPÖ-Führung unter Parteichefin Pamela Rendi-Wagner zog da überraschend mit. Vermutlich, weil sie den Druck aus dem kleinen Bundesland Burgenland (das auch SPÖ geführt wird) spürt, dessen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil immer wieder die Vorsitzende von rechts attackiert.
Doskozil werden Gelüste nachgesagt, Spitzenkandidat bei der nächsten Nationalratswahl werden zu wollen. Er versucht deshalb als hemdsärmeliger Macher öffentlich zu punkten. In der Partei ist allerdings von einer Mehrheit gehen Rendi-Wagner weit entfernt.
Das mächtige "rote" Wien will vom Schengen Veto gegen Bulgarien und Rumänien nichts wissen. Der Wiener Bürgermeister Ludwig widerspricht der Parteichefin und verschärft damit den Flügelkampf der Partei.
Dabei hatte zuvor Rendi-Wagner selbst die besten Argumente gegen das erneute Aufkochen der Flüchtlingsfrage geliefert, als sie sagte, es gäbe kein Asylproblem, denn die Zahlen der Menschen in der sogenannten "Grundversorgung" würden gar nicht steigen – die Debatte sei nur ein "Rettungsversuch" der ÖVP, die von ihren Dauerskandalen abzulenken gedenkt.
Und jetzt sieht Rendi-Wagner doch plötzlich ein Übermaß an "illegaler Migration" und findet, die Bewältigung dieser Aufgabe müsse in Europa gerechter verteilt werden.
In der Nationalratsdebatte sagt die Sozialdemokratin dann wiederum: "Die Regierung ist ohne Plan in ein Veto hineingestolpert, das in Europa und Österreich niemand versteht". Zuvor hatte sie selbst gesagt, der Zeitpunkt für einen Beitritt sei noch "nicht der Richtige". Es scheint, hier sucht jemand seinen Kurs im freien Fall.
Wenn Rendi-Wagner kritisiert, dass Österreich zu viel der "Last" an Flüchtlingen und Migration tragen müsse, dann wäre ja der Hauptansatzpunkt Ungarn. Das Land hat sich unter Viktor Orbán mit rechtsextremistischer Argumentation komplett aus der Mitverantwortung genommen. Menschen auf der Flucht werden ohne Registrierung durchgewunken. So kann kein noch so unzureichendes Dublin-Abkommen funktionieren. Eine Eskalation, die Orbán gerade recht ist.
Dem hinterherzuhinken, kann schwerlich sozialdemokratisches Ziel sein. Worauf zielt dann die SPÖ-Spitze ab, wenn sie die Schengen-Blockade mitträgt? Und damit auch indirekt – womöglich ungerechtfertigte – Vorwürfe gegen Rumänien und Bulgarien verbreitet?
Am Ende geht es um Geld
Ähnlich verzwickt sieht es in der ÖVP aus. Hier haben sich viele über das Veto Nehammers brüskiert gezeigt. Aber aus recht unterschiedlichen Gründen. Einige kritisieren es auf ihre EU-Kompetenz gestützt, wie der EU-Abgeordnete Ottmar Karas (ÖVP). Ihm erscheint die Argumentation falsch.
Das Veto hält er für "unverantwortlich". Es sei letztlich eine "Themenverfehlung", weil die Lösungen gerade in einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik lägen, die mit Bezichtigungen gegenüber anderen Ländern noch mehr erschwert werde.
Karas und einige andere in der ÖVP sehen Österreichs Haltung somit sachlich und prinzipiell als falsch an. Viele in der Partei murren aber eher, weil sie wissen, dass für diese Zurückweisung von Rumänien und Bulgarien Revanchefouls zu erwarten sind. Und die haben schmerzhafte wirtschaftliche Konsequenzen. Seit dem Fall des "Eisernen Vorhangs" ist Osteuropa das El Dorado für Österreichs Banken und Industrie.
Ganz konkret: Der Energie- und Chemiekonzern OMV will ein riesiges Erdgasfeld im Schwarzen Meer vor der Küste Rumäniens erschließen. Bedenken wegen des Klimawandels werden bekanntlich in diesem Kreisen nicht groß erörtert. Man bleibt bei der altbewährten Erkenntnis, dass das Geld im Boden steckt.
Beteiligte des Projekts mit dem schönen Namen "Neptun" vermuten vor der Schwarzmeerküste Rumäniens den größten Erdgasfund in der Geschichte der OMV. Es wurde bereits darauf spekuliert, mit Neptun drei Milliarden Kubikmeter Gas nach Österreich liefern zu können. Das entspricht etwa einem Drittel des österreichischen Jahresbedarfs.
Dazu wurden lange Zeit die zuständigen Stellen in Rumänien bearbeitet. Sicherlich wurde schon einiges investiert, das nun auf der Kippe steht, weil die rumänische Regierung jetzt leicht sagen kann, die Veto und daraus folgende Grenzkontrollen erschwerten eine weitere Kooperation. Die Stimmung ist bereits schlecht im Land. An die Bankfilialen der österreichischen Raiffeisen wurden Zettel mit der Parole "Austria afara din Romania!" ("Österreich raus aus Rumänien") geklebt.
Und man sinnt wohl auch auf Ebene der Diplomatie auf Rache. Angeblich gibt es Versuche, Österreich den angestrebten OSZE-Vorsitz zu verwehren. Die zuständigen Stellen in Österreich behaupten zwar, der Vorsitz würde gar nicht angestrebt, aber gute Nachbarschaftsbeziehungen klingen anders.
Bundeskanzler Karl Nehammer hat – ohne Not – in der EU gezündelt. Dieses Ungeschick wird konstruktive Lösungen auf europäischer Ebene erschweren und Österreich noch viel Ärger einbringen.