Größenwahn

Philosophische Kolumne: Von Amokläufern und Tyrannen

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Die Tage der vergangenen Kalenderwoche waren wieder Tage des Größenwahns. Das ist laut Nietzsche "unsre Stellung zu uns, - denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Tiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf" - und nicht nur die Seele…

Größenwahn gibt es in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Folgen, wie es in dieser Woche die Hintergrundinformationen zum Amoklauf in Aurora oder zu den Auseinandersetzungen in Syrien vorführten. In Aurora hatte sich ein 24jähriger Student die Haare rot gefärbt, gab an, als "Joker", der böse Gegenspieler des aufrechten Batmen, aufzutreten und hatte in einer entsprechenden Kinofilm-Premiere 12 unschuldige Menschen erschossen. Übrigens am Jahrestag des Amoklaufs des Norwegers Anders Breivik.

Die Menschen, die in Syrien aufgrund des Größenwahns Assads sterben, sind dieser Tage kaum mehr zu zählen. Derzeit sollen dort noch dazu Chemiewaffen an die Grenzen des Landes verlagert werden.

Es gibt viele Versuche, das Phänomen Größenwahn psychologisch zu erklären, als narzisstische Persönlichkeitsstörung oder Schizophrenie. Ein einfacherer Begriff dafür wäre grenzenlose Überheblichkeit. Das klingt weniger nach entschuldbarer Krankheit, und vereint die verschiedenen Gründe, die der Größenwahn haben kann. Bei Assad hat der Größenwahn Tradition. Amokläufer (wie Holmes und Breivik) werden dann aktiv, wenn sie im Leben scheitern (was bei beiden der Fall war, Holmes hatte seine Doktorarbeit in Neurologie hingeschmissen, und Breivik hatte sich mit Aktien verspekuliert, mit einer IT-Firma Insolvenz angemeldet, und sein restliches Vermögen, das er nebenbei mit dem Handel gefälschter Universitätsdiplome verdiente, ging nach seinen eigenen Angaben in der Arbeit für sein "Manifest" auf).

Zwar hält der Schriftsteller Arthur Schnitzler deswegen Größenwahn auch zum Teil auch für "die Maske eines Menschen, der an sich verzweifelt", aber dieser menschelnde Aspekt steht in keinem Verhältnis zu dem Leid, das anderen Menschen in solchen Fällen zugefügt wird, und der Tapferkeit anderer Menschen, die bei vergleichbaren Frustrationen nicht zur Waffe gegriffen haben. Leider wird aber über letztere Menschen natürlich nicht in den Medien berichtet. Schlagzeilen sind der Natur der Dinge entsprechend vor allem etwas für irre "Joker" (Holmes), selbsternannte baldige "Könige von Norwegen" (Breivik), oder für die vielen anderen Selbstdarsteller, die sich heutzutage für ihre Selbstbespiegelung bezahlen lassen. Nun ist zwar nicht jeder von denen ein Amokläufer oder ein Diktator, zumindest nicht im klassischen Sinne. Aber solche Benimmregeln wie Bescheidenheit und Zurückhaltung, die bis zum 18. Jahrhundert als hoch anzusetzende Tugenden galten, sind schon lange nicht mehr attraktiv. Schon im 19. Jahrhundert schrieb man (irrtümlicherweise) Wilhelm Busch das Sprichwort zu: "Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr."

Sucht man in dieser Woche die Schlagzeilen nach Größenwahn durch, wird man auch im Wirtschaftsteil fündig, wo zu lesen war, dass auch Deutschlands Kreditwürdigwürdigkeit von den Rating-Agenturen herabgestuft werden wird, wenn es weiterhin Milliarden in den Euro-Rettungsschirm investiert - denn dann muss man sich fragen, ob es nicht größenwahnsinnig war, einen so großen Währungsraum zu schaffen, bevor man einen entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Ordnungsrahmen organisiert hatte.

Sollte dies in irgendeiner Art so desaströse Konsequenzen nach sich ziehen wie manche andere Fälle von Größenwahn, dann steht auf dem finanziellen Sektor eine Währungsreform und Hyperinflation bevor. Dann haben wir in einigen Jahren so viel Ärger, dass dann entweder kein Mensch mehr Zeit dafür hat, sich mit so philosophischen Themen wie "Größenwahn" zu beschäftigen (was ein guter Anlass wäre, jetzt noch über das Gegenteil von Größenwahn nachzudenken, solange noch Zeit dafür ist), oder erst dann werden die Menschen über solche Dinge nachdenken (viele alte Leute sagen, dass Krisenzeiten zusammenschweißen; nur eben löst das die eigentliche Krise nicht).

Von Demut spricht man heute nicht mehr

Was aber ist das Gegenteil von Größenwahn? Demut und Bescheidenheit. Darüber spricht heutzutage keiner mehr. Fast könnte man meinen, zu Recht: Der Begriff gilt als zu antiquiert, zu religiös oder zu untertänig. Auch für Nietzsche war Demut nur eine christlich gefärbte Fassade für Feigheit. Und wer heutzutage zu bescheiden auftritt, gilt von vorneherein als unprofessionell. Dabei könnte wahre Professionalität gerade darin bestehen, die eigene Eitelkeit im Griff zu haben, bei Kränkungen nicht gleich die Waffe zu zücken, sich nicht mit selbstherrlichem Aktionismus selbst zu Fall zu bringen und sich zumindest möglichst wenig lächerlich zu machen.

Demut ist eine von wenigen menschlichen Qualitäten, in denen kein Wettbewerb möglich ist. Wer behauptet, in Sachen Demut marktführend zu sein, dem sollte man nicht trauen (in der Bibel, in einem der "Bücher Mose" heißt es zum Beispiel, Moses sei demütiger als alle anderen Menschen). Demut und Bescheidenheit sind zwar schöne Eigenschaften. Wer aber vor lauter Demut nie den Mund aufbekommt, kann heutzutage nur noch in einem Kloster überleben, und wer vor lauter Bescheidenheit nie einen Urlaub einreicht, ist selbst schuld. Sich etwas Zeit zu nehmen für etwas gesunden Menschenverstand ist aber erlaubt. Man muss, um es mit Nietzsches Worten zu formulieren, weder sich noch anderen "neugierig die Seele bei lebendigem Leibe" aufschlitzen, um Vergnügen zu haben. Vergnügen kann auch die Einsicht bringen, nicht der Maßstab aller Dinge zu sein.