"Große Mehrheit der Weißrussen ist gegen Kriegsbeteiligung"
Die Meinungsbild über den Ukraine-Krieg in Belarus und die Handlungsspielräume des Präsidenten Alexander Lukaschenko. Ein Gespräch mit Artjom Schrajbman.
Spekulationen über eine mögliches Eingreifen Weißrusslands in den Ukraine-Krieg reißen nicht ab. Der Politologe Artjom Schrajbman war von 2014 bis 2019 leitender Politikredakteur der wichtigsten oppositionellen Zeitung Weißrusslands, tut.by – danach Gastanalyst beim Carnegie Moscow Center, das von der russischen Regierung im April 2022 geschlossen wurde. Er ist Gründer des auf Weißrussland spezialisierten Recherchezentrums Sense Analytics und gab im Gespräch mit Telepolis eine Lageeinschätzung ab.
In der deutschen Presse gibt es immer wieder Meldungen, Belarus könnte aktiv auf Seiten Russlands in den Krieg in der Ukraine eingreifen. Ist der Krieg in der weißrussischen Bevölkerung nicht so unpopulär, dass das auszuschließen ist?
Artjom Schrajbman: Ich sehe keine Beweise, dass Belarus sich wirklich aktiv darauf vorbereitet, in den Ukraine-Krieg einzugreifen. Weder die ukrainische Staatsspitze noch US-Spitzenmilitärs noch Geheimdienste veröffentlichen derartige Informationen.
In Weißrussland gibt es Routinemanöver, die etwa einen Monat dauern. Das ist nichts außergewöhnliches. Dass Belarus in den Krieg eintreten könnte, wird dennoch seit den ersten Kriegstagen diskutiert - es kam nie dazu und ich sehe eigentlich keinen Grund, noch darüber zu sprechen.
Kriegsbeteiligung "ist und bleibt unpopulär"
Und die öffentliche Meinung vor Ort?
Artjom Schrajbman: Die Möglichkeit einer Kriegsbeteiligung ist und bleibt unpopulär. Die Mehrheit dagegen wird von den Soziologen auf 85 bis 94 Prozent der Bevölkerung geschätzt, je nach Erhebungsmethode. So ist wirklich eine große Mehrheit der Weißrussen gegen eine Kriegsbeteiligung.
Bedeutet das, dass man die russischen Positionen in der Bevölkerung von Belarus nicht unterstützt?
Artjom Schrajbman: Bezüglich der Zustimmung zu den Ansichten Russlands und der Ukraine ist die Situation sehr komplex und die belorussische Gesellschaft gespalten. Klar ist nur, dass fast alle nicht mitmachen wollen.
Wie ist der Ton der regierungstreuen Minsker Medien in der Berichterstattung in der Ukraine? Stimmt sie mit der russischen Propaganda von einer "Spezialoperation" überein, oder gibt es einen anderen Standpunkt?
Artjom Schrajbman: Der Ton dieser Medien stimmt in der Tat mit der russischen Propaganda überein. Manchmal ist er sogar noch schärfer, antiwestlicher, antiukrainischer. Dieselbe Sichtweise wird überholt, auch Fake-News. Der einzige Unterschied ist, dass das weißrussische TV wie Lukaschenko gerne betont, dass Belarus am Konflikt nicht beteiligt ist.
Man ignoriert, dass russische Raketen in Weißrussland starten, Bodentruppen von dort einmarschierten und betont stattdessen, dass ganz Belarus für den Frieden ist, einen Frieden so schnell wie möglich. Das ist ein kleiner Unterschied zur eher militanten Linie des russischen Fernsehens. Der Rest ist gleich. Die Positionen der ukrainischen Führung werden nicht angemessen dargestellt.
"Lukaschenko ist gar nicht in der Lage, auf Augenhöhe mit Moskau zu streiten"
Kasachstan, ein anderer bisher enger Partner von Russland, distanziert sich offiziell stärker vom Krieg als Weißrussland und fällt demzufolge nicht unter Sanktionen. Warum fährt Lukaschenko keinen ähnlichen Kurs?
Artjom Schrajbman: Kasachstan hat einen größeren Spielraum, Lukaschenko hat seit 2020 kaum noch Spielraum. Er steht auch schon seit 20 Jahren unter schweren Sanktionen, nicht nur wegen der Unterstützung für Russland. Sie wären ohnehin nicht aufgehoben worden, sie wurden aus anderen Gründen verhängt.
So war Belarus von einer Distanzierung schon vorab wesentlich weiter entfernt als Kasachstan. Lukaschenko wagt eine solche auch nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob Moskau Lukaschenko nicht ausdrücklich aufgefordert hat, Truppen an die ukrainische Grenze auf belorussischen Territorium zu schicken oder dort Manöver zu veranstalten, die eigentlich Moskau wollte.
Lukaschenko hat da keine große Wahl. Jetzt, wo der Krieg aktiv läuft, russische Truppen in Belarus sind, wäre es gefährlich und riskant irgendetwas dagegen zu unternehmen. Lukaschenko ist gar nicht in der Lage, auf Augenhöhe mit Moskau zu streiten.
Es gibt Berichte über Sabotage gegen russisches Militär in Belarus, etwa auf genutzte Eisenbahnstrecken zum Nachschub. Sind das vereinzelte Aktionen oder rechnen Sie damit, dass sich so etwas fortsetzt?
Artjom Schrajbman: Diese Berichte über Sabotage stammen alle aus dem Februar und März. Seitdem sind mehrere Monate vergangen, wir hören nichts mehr von solchen Aktionen. Außerdem hat der größte Teil des russischen Militärs Belarus verlassen, so würde so etwas wenig Sinn machen. Und die Behörden reagieren auf so etwas sehr unerbittlich mit voller Härte.
Einfluss der Opposition auf die Bevölkerung "allmählich schwächer"
Die meisten Oppositionsführer haben Belarus vor fast zwei Jahren verlassen Ist der Einfluss dieser Exilanten auf das, was in Weißrussland selbst geschieht, überhaupt noch vorhanden?
Artjom Schrajbman: Der Einfluss der Opposition auf die Bevölkerung wird allmählich schwächer. Nicht nur wegen Repressionen, auch wegen einer Politisierung der Bevölkerung. Die Menschen sind abgekoppelt, der Nachrichtenfluss an sie eingeengt.
Die Blockade von Medien, das Abdrängen von Oppositionellen ins Ausland schwächt ihre Fähigkeiten, Menschen zu beeinflussen. Wir sehen das sogar bei so banalen Dingen wie Klickzahlen von Videos oder Abonnenten von Social Media Kanälen.
Man liest auch aktuell von einer Spaltung der Opposition im Exil.
Artjom Schrajbman: Sie ist wirklich gespalten und befindet sich in einem inneren Konflikt. So gibt es viele, die mit der Tätigkeit von Swetlana Tichanowskaja unzufrieden sind, sie versuchen zu beeinflussen oder sogar auszuwechseln. Anfang August soll es angeblich einen Konferenz geben, wo man wieder gemeinsame Positionen erarbeiten will. Eine Gesamtstruktur, vielleicht sogar eine neu formatierte Opposition. Aber während man diese Konferenz mit Hängen und Würgen vorbereitet, toben viele Streitigkeiten und das dringt nach außen.
Wie kommt es, dass man sich in einer Phase der Schwäche noch streitet?
Artjom Schrajbman: Es liegt daran, dass mit dem Wegfall aktiver Proteste das große Projekt von der Agenda der Opposition verschwunden ist und sie nun von verschiedenen Gruppen und Anführern mit ganz unterschiedlichen persönlichen Ambitionen geleitet wird.
Eine gemeinsame Agenda fehlt. Es schien zunächst, dass der Krieg eine neue Einheit herstellen könnte, aber es kam nicht dazu. Die Exilopposition ist tatsächlich gespalten.