Ground Zero der Menschheit
Seite 2: Das gesamte zukünftige Wachstum der Menschheit wird in Städten stattfinden, zum allergrößten Teil in armen Städten und dort hauptsächlich in Slums
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- Das gesamte zukünftige Wachstum der Menschheit wird in Städten stattfinden, zum allergrößten Teil in armen Städten und dort hauptsächlich in Slums
- Die Stadt des Imperiums und die Stadt der Slums – Teil 2
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Erzähl doch bitte zuerst, wie Du zum Thema Stadt gekommen bist. (...)
Mike Davis: Zur Stadt kam ich ganz einfach, indem ich Los Angeles untersuchte, und zu LA kam ich, weil ich als jemand aus der Neuen Linken der 1960er Jahre, der viel Zeit in das Studium des Marxismus gesteckt hat, dachte, radikale Gesellschaftstheorie könne einfach alles erklären. Es schien mir, dass die Bewährungsprobe dieser Annahme wäre, Los Angeles zu verstehen. (...) Aus dieser ursprünglich begrenzten Sichtweise entfaltete sich die Welt von Los Angeles, das in meinem ursprünglichen Projekt ein Mosaik aus ungefähr 450 Einzelteilen war. (...)
Wie würdest Du Dich denn selbst bezeichnen?
Mike Davis: Wie einige andere Überlebende der Neuen Linken betrachte ich mich selbst als einen „Organizer“, als jemand, der sich um Machtstrukturen und politische Analysen kümmert. Beinahe alles, worüber ich geschrieben oder nachgedacht habe, korrespondiert auf irgendeine verrückte Art mit dem, was meiner jeweils aktuellen Auffassung nach strategisch oder taktisch vordringlich ist. So als ob ich noch immer dem National Council des SDS3 oder dem Chicagoer Büro der IWW4 rechenschaftspflichtig wäre.
All das gehörte zu dem strategischen Puzzle, das ich in City of Quartz behandelt habe. LA stand an einem entscheidenden Wendepunkt. Durch die Globalisierung hatte sich seine Ökonomie umgestaltet, es entstanden ganz neue Verknüpfungen, und viele Leute waren auf der Strecke geblieben. Aber die Stadt hatte und hat noch immer dieses unglaubliche, vielgestaltige positive Potenzial für progressive Politik, für überraschende Aktivität. Damals wollte ich ein für eine neue Generation von Aktivisten nützliches Buch schreiben und herausfinden, wie ein Ort wie Los Angeles gesehen werden kann, dessen Phantasievorstellung selbst sich in seine materielle Struktur eingeschrieben hat. Es ist eine Stadt, die ihre Bilder lebt.
Und dann brachen die Riots von 1992 aus ...
Mike Davis: … und ich versuchte, sie als eine unmittelbare Konsequenz des Globalisierungsprozesses zu verstehen. Manche Leute waren Gewinner, manche Verlierer. Es war auch eine Tatsache, dass die Globalisierung letztlich in Gestalt der transnationalen Drogenindustrie South-Central-LA erreichte. Nur in dieser Form brachte die Globalisierung überhaupt Geld in diese Viertel. (...)
Wenn wir einen Sprung von 15 Jahren machen, zu deinem neuesten Buch Planet der Slums, diesem grandiosen Stadtgemälde, dürfen wir uns dazu vorstellen, dass Du Deine Marschbefehle nun von irgendeinem globalen Zentralkomitee erhältst? Und kannst Du uns eine Einführung geben, wie unser verslumender Planet heute aussieht?
Mike Davis: Es ist schon erstaunlich, dass die klassische Gesellschaftstheorie, ob nun Marx, Weber oder gar die Modernisierungstheorie des Kalten Krieges, nicht antizipiert hat, was mit der Stadt in den letzten 30 oder 40 Jahren passiert ist. Niemand hat die Entstehung einer riesigen Klasse vorhergesehen, die hauptsächlich aus jungen Menschen besteht, die in Städten leben, keine formelle Verbindung zur Weltwirtschaft haben und auch chancenlos sind, jemals eine zu bekommen. Diese informelle Arbeiterklasse ist nicht das Marxsche Lumpenproletariat, und sie ist nicht der „Slum der Hoffnung“, wie man ihn sich vor 20 oder 30 Jahren vorgestellt hat – voller Menschen, die schließlich in die formelle Ökonomie aufsteigen werden. Diese an die Ränder der Städte verbannte, informelle globale Arbeiterklasse hat normalerweise wenig Zugang zur traditionellen Kultur der Städte, und sie stellt eine beispiellose Entwicklung dar, die in der Theorie nicht vorhergesehen wurde.
Nenn doch einfach mal ein paar Zahlen zur Verslumung des Planeten.
Mike Davis: Erst seit wenigen Jahren sind wir in der Lage, Urbanisierung im globalen Maßstab klar zu ermessen. Vorher war die Datenlage unzuverlässig, aber Habitat5 hat sich sehr um Zahlen, Haushaltserhebungen und Fallstudien bemüht, die eine zuverlässige Grundlage für die Diskussion unserer städtischen Zukunft abgeben. Der vor drei Jahren erschienene Bericht The Challenge of Slums ist so bahnbrechend wie die großen Forschungen, die Engels6, Mayhew7, Charles Booth8 oder – in den USA – Jacob Riis9 im 19. Jahrhundert zu städtischer Armut gemacht haben.
Nach der konservativen Rechnung des Berichtes leben gegenwärtig eine Milliarde Menschen in Slums und mehr als eine Milliarde kämpfen als informelle Arbeiter um ihr Überleben. Diese mögen Straßenhändler, Tagelöhner, Kindermädchen, Prostituierte oder gar Menschen sein, die ihre Organe für Transplantationen verkaufen. Die Zahlen sind erschreckend, zumal erst unsere Kinder und Enkel die größte Bevölkerungszahl der Menschheit erleben werden. (...) 95 Prozent dieses Wachstums wird in den Städten des Südens stattfinden.
Im Wesentlichen in den Slums …
Mike Davis: Das gesamte zukünftige Wachstum der Menschheit wird in Städten stattfinden, zum allergrößten Teil in armen Städten und dort hauptsächlich in Slums.
Die klassische Urbanisierung nach dem Muster von Manchester, Chicago, Berlin oder Petersburg findet man heute noch in China und an einigen wenigen anderen Orten. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass die städtische industrielle Revolution in China ähnliche Entwicklungen andernorts ausschließt, denn sie saugt alle Produktionskapazitäten für Konsumgüter – und zunehmend alles andere – auf. Aber in China und ein paar angrenzenden Ökonomien ist noch städtisches Wachstum zu beobachten, das von einem Prozess der Industrialisierung angetrieben wird. Überall sonst wachsen Städte weitgehend ohne Industrialisierung, oftmals sogar, was noch erschreckender ist, ohne jegliche Entwicklung. Überdies haben Städte wie Johannesburg, Sao Paulo, Mumbai, Belo Horizonte oder Buenos Aires, vormals die großen Industriestädte des Südens, in den letzten 20 Jahren eine massive Deindustrialisierung erlitten. (...)
Die heutigen Mega-Slums entstanden meist in den 1970er und 1980er Jahren. Vor 1960 lautete die Frage: Warum wachsen Dritte-Welt-Städte so langsam? Es gab tatsächlich große institutionelle Hindernisse für eine schnelle Urbanisierung: Kolonialmächte beschränkten noch den Zuzug in die Stadt, in China und anderen stalinistischen Ländern wurden soziale Rechte – und damit innerstaatliche Migration – durch ein inländisches Passreglement kontrolliert. Der große städtische Boom kommt mit der Dekolonisierung in den 1960ern. Damals beanspruchten revolutionäre nationalistische Staaten aber immerhin noch, eine wesentliche Rolle bei der Bereitstellung von Wohnraum und Infrastruktur. In den 70ern beginnt der Staat sich zurückzuziehen und in den 80ern, der Phase der Strukturanpassung, erleben wir in Lateinamerika und besonders in Afrika das Jahrzehnt des Rückschritts. (...)
Wie können Städte, die sich wirtschaftlich nicht so wie im Lehrbuch entwickeln, dieses Bevölkerungswachstum verkraften? Anders gesagt, warum sind Dritte-Welt-Städte angesichts solcher Widersprüche nicht explodiert? Nun, in einem gewissen Ausmaß taten sie es. Ende der 80er und Anfang der 90er gab es auf der ganzen Welt Aufstände gegen die Verschuldung, IWF-Riots.
(...)
Wie haben Regierungsberater und führende Politiker weltweit das, was in den Städten geschah, gedeutet?
Mike Davis: Die Entdeckung von Weltbank, Entwicklungsökonomen und großen NGOs in den 1980er Jahren, dass die Leute – trotz der beinahe völligen Abdankung des Staates bei der Planung und Beschaffung von Wohnraum für arme Stadtbewohner – es immer noch irgendwie schafften, einen Flecken Land und ein Dach über dem Kopf aufzutun und zu überleben, führte zur Entstehung einer Bootstrap-Schule der Urbanisierung. Gib armen Leuten die Mittel und sie werden ihre eigenen Häuser bauen und ihre eigenen Viertel organisieren. In gewisser Hinsicht war dies eine durchaus gerechtfertigte Huldigung der Urbanisierung von unten. Aber die Weltbank machte daraus gleich einen neuen Leitsatz: Der Staat ist erledigt, kümmere dich nicht um den Staat; arme Leute improvisieren einfach die Stadt. Sie brauchen nur ein paar Mikro-Kredite ...
… zu hohen Zinsen.
Mike Davis: Ja genau, und dann würden die armen Leute auf wunderbare Weise ihre eigenen urbanen Welten samt eigener Jobs schaffen. Planet der Slums folgt dem UN-Challenge-Report, der uns warnt, dass die globale städtische Krise der Arbeitslosigkeit eine genauso große Bedrohung unserer gemeinsamen Zukunft darstellt wie der Klimawandel. Auch wenn das Buch zugegebenermaßen eine Reise im Lehnstuhl zu den Städten der Armen ist, es ist ein Versuch, die breite Literatur von Spezialisten über städtische Armut und informelle Siedlungen auszuwerten. Daraus ergeben sich zwei grundlegende Schlussfolgerungen.
Zunächst einmal gibt es für Besetzungen kein frei zugängliches Land mehr – zum Teil schon seit langem nicht mehr. Die einzige Möglichkeit, heute noch eine Hütte auf einem kostenlosen Stück Land zu bauen, bedeutet, das an einem Platz zu tun, der so gefährlich ist, dass er keinerlei Marktwert besitzt. Landbesetzung wird zunehmend zum Spiel mit der Katastrophe. Wenn ich dich zum Beispiel ein paar Meilen runter in den Süden und über die Grenze nach Tijuana bringen würde, würdest du sofort sehen, dass Land, auf dem vormals Squatter lebten, nun verkauft wird – gelegentlich wird es sogar parzelliert und die Infrastruktur ausgebaut. Sehr arme Menschen squatten in Tijuana noch auf die althergebrachte Weise am Rand von Schluchten in Flussbetten, wo ihre Häuser in einigen Jahren einstürzen werden. Und das gilt für die ganze Dritte Welt.
Das Besetzen wurde privatisiert. In Lateinamerika nennt man das „piratische Urbanisierung“. Wo Menschen, die vor 20 Jahren ungenutztes Land besetzten, der Vertreibung widerstanden hätten und schließlich vom Staat anerkannt worden wären, zahlen sie heute viel Geld für winzige Grundstücke oder wohnen, wenn sie sich den Kauf nicht leisten können, bei anderen Armen zur Miete. In manchen Slums besteht die Mehrheit der Bewohner nicht aus Besetzern, sondern aus Mietern. (...)
Die andere wichtige Schlussfolgerung betrifft die informelle Ökonomie – die Fähigkeit armer Leute, ihren Lebensunterhalt durch informelle Tätigkeiten wie Straßenverkauf, Tagelöhnerei, Dienstbotenjobs oder gar Subsistenzkriminalität zu sichern. Die informelle Ökonomie wurde vielleicht noch stärker romantisiert als Landbesetzungen, u.a. durch alle möglichen Behauptungen darüber, wie gut das Kleinstunternehmertum in der Lage sei, Leute aus der Armut zu holen. Jedoch zeigen zahlreiche Fallstudien aus der ganzen Welt, dass immer mehr Menschen in eine endliche Zahl von Überlebensnischen gedrängt werden: zu viele Rikschafahrer, zu viele Straßenhändler, zu viele afrikanische Frauen, die ihre Hütten in Kantinen mit Schnapsverkauf umwandeln, zu viele, die Wäsche waschen, zu viele, die vor Arbeitsstätten Schlange stehen.
Sagst Du damit nicht, dass die frühere Dritte Welt in so etwas wie die „Dreihundertste Welt“ verwandelt wird?
Mike Davis: Ich sage, dass die beiden grundsätzlichen Mechanismen, durch die Arme in Städte, in die der Staat schon lange nichts mehr investiert, aufgenommen werden, in nur zwei Generationen weiteren Hochgeschwindigkeitswachstums ihre Grenzen erreicht haben werden. Die drohende, aber offensichtliche Frage lautet: Was kommt jenseits dieser Grenze?
Ein Zitat aus Planet der Slums: „Angesichts der im wahrsten Sinne des Wortes 'Großen Mauer' aus High-Tech-Grenzsicherungsanlagen, die eine Massenmigration in die reichen Länder blockieren soll, verbleiben nur die Slums als Unterbringungsmöglichkeit für die überschüssige Menschheit dieses Jahrhunderts.“
Mike Davis: Die beiden großen armen europäischen Städte des 19. Jahrhunderts, die zu unserem heutigen Modell passen, waren Dublin und Neapel, aber niemand sah sie als Zukunftsmodelle. Mehr Dublins und Neapels gab es vor allem deshalb nicht, weil das Ventil der Emigration über den Atlantik offen war. Heute ist dem größten Teil des Südens die Migration faktisch versperrt. (...)
Unerbittliche Kräfte vertreiben die Menschen vom Land und diese durch die globalisierte Ökonomie überflüssig gemachte Bevölkerung staut sich in den Slums oder städtischen Peripherien, die weder Land noch wirklich Stadt sind und die den Stadtforschern Kopfzerbrechen bereiten.
In den Vereinigten Staaten würden wir sie als außerstädtische Wohngebiete bezeichnen, aber hiesige außerstädtische Wohngebiete sind ein ganz anderes Phänomen. Wenn du dir amerikanische Städte ansiehst, dann sind außerstädtische Wohngebiete das hervorstechendste Merkmal – Leute, die aus dem ehemals ländlichen Raum in Edge Citys pendeln, leben heute in McMansions10 auf immer größeren Grundstücken, vor denen immer mehr Geländewagen parken. (...) Mit anderen Worten, wenn die Mittelklasse weiter rauszieht, vergrößert sich ihr Fußabdruck, den sie in der Umwelt hinterlässt, um zwei oder drei Schuhnummern.
Die Kehrseite davon ist, dass die ärmsten Leute in die gefährlichsten Ecken hineingedrängt werden, auf abrutschende Hänge, in die unmittelbare Nachbarschaft von Giftmülldeponien oder in Überflutungsgebiete, was zu einer jährlich steigenden Opferzahl bei Naturkatastrophen führt – die weniger ein Indikator für eine sich verändernde Umwelt ist als eher der Risiken, die verzweifelte Arme eingehen müssen. In den großen Städten der Dritten Welt gibt es Reiche, die sich in Gated Communities weit draußen in den Vorstädten zurückziehen, aber in der Hauptsache sind es zwei Drittel der weltweiten Slumbewohner, die sich in einer Art städtischem Niemandsland ansammeln.
Du hast das „existenziellen Ground Zero“ genannt.
Mike Davis: Weil das Urbanisierung ohne Urbanität ist. Beispielhaft dafür ist eine radikal-islamistische Gruppe, die vor ein paar Jahren in Casablanca angriff – 15 oder 20 arme Jungs, die in der Stadt aufwuchsen, aber in keiner Hinsicht ein Teil von ihr waren. Sie kamen am Stadtrand zur Welt, nicht in traditionellen Arbeiterklasse- oder Armenvierteln, die einen fundamentalistischen, aber keinen nihilistischen Islam unterstützen, oder sie waren vom Land vertrieben und nie in die Stadt integriert worden. In ihrer Slum-Welt haben nur Moscheen oder islamistische Organisationen eine Form von Gesellschaftlichkeit oder Ordnung hergestellt. Laut einer Quelle waren einige dieser Jungs vor ihrem Angriff auf die Stadt noch nie in der Innenstadt gewesen. Für mich ist das eine Metapher für das, was weltweit passiert: Eine Generation wird auf die urbanen Müllabladeplätze geschickt – nicht nur in den ärmsten und härtesten Städten. (...)