Gullivers nächster Halt
Warum die USA im Irak Krieg führen werden und Saddam weg muss
Nichts in diesem Beschluss hindert ein Land, den Willen des Sicherheitsrats mit Gewalt durchzusetzen, wenn die UN selbst dies nicht tut John Negroponte, US-Botschafter der UN
Endlich erreicht der Info-, Psycho- und Propagandakrieg zwischen den USA, dem Irak und der UN Betriebstemperatur: Saddams-Vize Ramadan bezichtigt UNMOVIC der US-Spionage; die US-Regierung trainiert Journalisten für den Fronteinsatz, die Opposition für den Regimewechsel, der britische Außenminister Jack Straw legt ein Dossier über schlimmste Verbrechen und Gräueltaten gegen die Menschlichkeit (Vergewaltigungen, Massenmorde, Folterungen ...) vor; der Irak übergibt der UN einen Tag früher als vorgesehen einen detaillierten Bericht über seine Waffenprogramme.
Saddam entschuldigt sich zur besten Fernsehzeit bei den Kuwaitis für den Überfall auf ihr Land; die USA fordern die Außerlandbringung irakischer Wissenschaftler; die US-Regierung ruft Zehntausende von Reservisten zu den Waffen und fährt, ungeachtet der Auswertung des Berichts oder des Ausgangs der Inspektionen, in ihren Kriegsvorbereitungen fort; Bild am Sonntag weiß, dass der Bericht des Irak brisante Pläne für den Aufbau eines Nuklearprogramms und MVWs enthält; "Internal Look" UN-Charta ist veraltet fand statt, bei der US-Militärs von Katar aus den High-Tech-Krieg und die Zusammenarbeit der Gefechtsstände und ihrer Boden-, Luft- und Seestreitkräfte üben; US-Diplomaten übertölpeln den kolumbianischen Vorsitzenden des UN-Sicherheitsrats und bekommen, entgegen aller vorherigen Absprachen, den Bericht des Irak vorab als Kopie zugestellt; der deutsche Außenminister Joschka Fischer stellt am 11.12. überraschend klar, dass die UN-Resolution 1441 vom 8. November keiner zweiten Mandatierung durch die UN bedarf, sodass die USA sofort zuschlagen können, falls dem Irak ein Verstoß gegen 1441 nachgewiesen wird; al-Qaida soll Giftgas vom Irak erhalten haben etc. usf.
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Über die Gründe, die die Amerikaner zum Krieg gegen den Irak "zwingen", ist in den letzten Monaten vor allem hierzulande viel und nachhaltig spekuliert worden. Ist es für die einen das irakische Öl, das sich das Bush-Regime sichern will, sind es für die anderen hingegen offene Rechnungen, die der jüngere Bush jetzt stellvertretend für Papa Bush begleichen will; und während die einen nach Afghanistan in dem von UN-Sanktionen geschwächten Irak ein leichte Beute für die US-Militärmaschine sehen, erkennen andere hinter dem Feldzug gegen den Irak eine langfristig angelegte Geostrategie.
The United States should invade Iraq, eliminate the present regime, and pave the way for a successor [...] The question is not one of war or no war, but rather war now or war later - a war without nuclear weapons or a war with them.
Kenneth M. Pollack
Einer, der sich mit derlei Spekulationen nicht abgibt, sondern kühl, klar und offen die Lage im Irak analysiert, heißt Kenneth M. Pollack. Bekannt wurde er einer größeren Öffentlichkeit, als er, seinerzeit noch als junger CIA-Analyst, den Überfall Saddams auf Kuwait voraussagte, bei Papa Bush damals aber damit auf taube Ohren stieß. Später gehörte er zum Beraterteam Bill Clintons. Von 1999 bis 2001 tat er für diesen Dienst im Nationalen Sicherheitsrat. Inzwischen gilt er als ausgewiesener Kenner des Irak. In dieser Funktion arbeitet er derzeit am Saban Center for Middle East Policy des renommierten Brookings Instituts, einer Denkfabrik in Washington.
In mehreren Veröffentlichungen hat er der Öffentlichkeit Einblick in die Beweggründe gegeben, warum die USA Krieg im Irak führen werden und ein Regimewechsel in Bagdad unausweichlich und absolut notwendig ist (The Threatening Storm: The Case for Invading Iraq, Next Stop Baghdad?, Why Iraq Can't Be Deterred oder Lesson from a Future War with Iraq).
Das Verwirrspiel beenden
Laut Pollack ist die US-Eindämmungspolitik, die seit elf Jahren auf ein Mix aus Sanktionen, Waffeninspektionen, Flugverbotszonen und Präsenz von US-Truppen setzt, auf ganzer Linie gescheitert. Nach wie vor sitze Saddam fest im Sattel. Die Aussicht, dass sich in naher Zukunft daran etwas ändern könnte, sei gering. Dazu hätten sich die UN-Sanktionen so durchlässig wie Schweizer Käse erwiesen. Verbotene Waren und Güter flößen weiter ungehindert in den Irak. Weder seien die Anlagen zur Herstellung von MVWs zerstört, noch habe der Irak wirklich mit der UN kooperiert.
Im Gegenteil: Saddam habe mit der UNSCOM, die sehr hart inspiziert habe, "Katz und Maus" gespielt und sie vor vier Jahren aus dem Land geworfen. Trotz schärfster Auflagen und Sicherheitskontrollen sei es dem Regime gelungen, Öl über Jordanien, Syrien, die Türkei und die Golfstaaten ins Ausland zu schmuggeln und mit diesen Petrodollars Ersatzteile für Panzer, Flugzeuge und anderes "kritisches" Gerät einzukaufen. Sogar ein Glasfasernetz sei darunter gewesen, das die Chinesen für Saddam in Bagdad aufgebaut hätten. Dessen Hauptknoten sei allerdings vor einem Jahr von US-Kampfflugzeugen zerstört worden.
Von diesem schwunghaften Handel oder Schmuggel mit und rund um den Irak hätten alle profitiert, nicht nur die umliegenden Länder, sondern ausgerechnet auch jene Staaten, die sich momentan am meisten über die amerikanische Haltung echauffierten, Frankreich, Deutschland und Russland beispielsweise.
Pest oder Cholera?
Angesichts dieser Realitäten stünden die USA vor einem geostrategischen Dilemma, die nur die Wahl zwischen "einem möglicherweise sehr kostspieligen oder einem noch schlimmeren Krieg in naher Zukunft" lässt. Mit anderen Worten: Sollen sie dem Treiben Saddams weiter zusehen und warten, bis er in ein oder zwei Jahren über spaltbares Material verfügt, oder, in drei oder sechs Jahren, über die technischen Möglichkeiten zur Anreicherung von Uran? Oder sollen sie Saddam sozusagen "präemptiv entsorgen", bevor er mit Nuklearwaffen eine ganze Region in Brand schießt und die Ressourcen dieser Region zerstört?
Die Vergangenheit jedenfalls habe gezeigt, dass Saddam zu allem fähig sei. Sollte er sich in die Enge getrieben fühlen, wäre kein Schreckensszenario unmöglich oder gar ausgeschlossen. Immer wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, habe er zugelangt. So geschehen im ersten Golfkrieg, als er gegen den Iran wie auch gegen die Kurden im Nordirak Giftgas eingesetzt habe; und so auch nach dem Ende des Kalten Krieges, als er Kuwait überfiel.
Später habe Saddam sich dann im engsten Kreis darüber beklagt, dass sein größter Fehler gewesen sei, den Kuwait überfallen zu haben, ohne über Nuklearwaffen zu verfügen. Wäre das der Fall gewesen, hätten die USA niemals gewagt, ihn anzugreifen.
Alle diese Handlungen, sein Hang zu "bizarren Entscheidungen, armseligen Urteilen und katastrophalen Fehleinschätzungen" ebenso wie seine Neigung, einsame Entscheidungen zu treffen oder auf Ratschläge anderer nichts zu geben, demonstrierten: Saddam ist "ein unverbesserlicher Spieler, der das Risiko liebt". Sollte er im Besitz von Nuklearwaffen sein, wird er diese auch gegen seine Nachbarn einsetzen. Ein Nuklearkrieg oder eine "Explosion ähnlichen Kalibers" in dieser prekären und geostrategisch äußerst wichtigen Weltgegend könnte dann aber auf unabsehbare Zeit 90 % der saudischen Ölproduktion lahm legen, und damit 15 % der gesamten Weltförderung.
Eine große Invasion muss her
Dem gelte es zuvorzukommen. Da Abschreckung Saddam keinesfalls daran hindern würde, sich in den Besitz solcher Drohwaffen zu bringen, sei ein Krieg mit anschließendem Regimewechsel die einzig sinnvolle und verantwortbare Alternative, um diesen "Größenwahnsinnigen" loszuwerden.
Zwar seien die Risiken eines sofortigen Einmarsches enorm. Und das nicht nur wegen des möglichen Auseinanderbrechens der "Koalition gegen den Terror", der Schwächung kritischer Regionalstaaten oder der Verschärfung des Konflikts zwischen dem Islam und dem Westen. Sondern auch, weil durch Raketenangriffe auf Israel, sich ausbreitendes Chaos in Jordanien, von Saddam "gesponserte" Kämpfe zwischen Kurden und Türken im Nordirak und terroristische Anschläge auf die USA oder die Verbündeten die ganze Lage außer Kontrolle geraten könnte. Doch würde ein Krieg zu einem späteren Zeitpunkt all jene Kosten noch übersteigen, die ein sofortiger Krieg nach kühnsten Schätzungen verschlingen würde. Die Frage sei daher nicht, "ob es Krieg gibt oder nicht, sondern vielmehr, ob der Krieg jetzt oder später stattfindet - ohne oder mit Nuklearwaffen."
Geheimoperationen durch die CIA, ein Staatsstreich durch die Opposition oder auch ein Krieg nach afghanischem Vorbild mit Luftschlägen, Spezialtruppen und lokalen Allianzen seien nach Lage der Dinge wenig Erfolg versprechend. Zum einen gebe es keine Nordallianz, die man kaufen könnte und die für die USA die Drecksarbeit am Boden übernehmen würden. Zum anderen seien die republikanischen Garden und irakischen Spezialeinheiten, was Disziplin, Ausrüstung und Zahl (400.000 statt 45.000 Kämpfer) angehe, nicht mit den Taliban vergleichbar.
Um Saddam zu stürzen und eine neue Zeitrechnung für den Irak einzuläuten, käme daher nur eine große Invasion à la Desert Storm in Frage, eine, die von ungefähr 200.000 - 300.000 Soldaten geführt und von etwa 1.000 Flugzeugen aus der Luft unterstützt werden müsste. Je nach irakischer Gegenwehr und, vorausgesetzt, eine Kooperation mit den Anrainerstaaten (besonders Kuwait) gelänge, könnte diese Invasion, im besten Fall, in etwa vier bis acht Wochen abgeschlossen sein, mit dann vielleicht 500 - 1.000 amerikanischen Opfern, oder im schlimmsten Fall, in etwa drei bis sechs Monaten mit an die 10.000 toten Amerikanern. Bei allen diesen Operationen müsste jedoch sichergestellt werden, dass Israel außen vor bliebe, Jordanien vor einem Volksaufstand geschützt werde und die Zerstörung der Ölquellen durch Saddam verhindert würde.
The Day After
Die Nachwehen des Krieges würden allerdings gigantisch sein. Dessen ist sich auch Pollack bewusst. Die USA hätten danach nicht nur einen neuen "Bundesstaat" mit an die 22 Millionen Neubürgern am Hals, die über zwei Jahrzehnte unter Kriegsfolgen, Tyrannei und strenger Not gelitten hätten. Auch der Wiederaufbau des Landes würde für die USA langwierig und äußerst kostspielig werden. Pollack rechnet mit ca. 50 - 150 Milliarden Dollar, die ein solcher Wiederaufbau verschlingen würde, 7 Milliarden pro Jahr, und das über eine Dekade lang. Nach neuesten Schätzungen von AMICAD, könnten diese Kosten aber noch weit höher sein (Irak-Krieg kann die USA zwischen 100 Milliarden und 1,9 Billionen US-Dollar kosten.
Auch von einer Hypermacht könnten diese Zahlungen nicht allein aufgebracht werden. Um im Irak eine "Arab-Style democracy" aufzubauen, bedürfe es daher "kollektiver Hilfe", von der UN oder der Arabischen Liga beispielsweise. Erneut wird eine klare Lasten- und Verantwortungsverteilung (responsibility sharing) gefordert, ein Umgang, wie ihn Gulliver mit seinen Liliputanern (Strobe Talbott) heute pflegt. Robert Kagan hat diese Haltung jüngst treffend auf den Punkt gebracht:
"Wir, die Amis, bereiten das Mahl, ihr, die Europäer, die UN und die arabische Liga, besorgt danach den Abwasch."
Saddams Pech
Mit dem "Krieg gegen den Terror" hat diese Geschichte, auch das macht Pollack deutlich, aber nichts zu tun. Und mit der Eliminierung eines "Monsters" (Bild), das Frauen schänden, Folterungen oder Massenexekutionen durchführen lässt, ebenso wenig. Um alle Schurken dieser Welt zu beseitigen, würde die gesamte militärische Potenz des Westens nicht ausreichen. Saddam hat schlichtweg das Pech, in einer für die USA geopolitischen brisanten und geostrategisch äußerst wichtigen Region den Plänen der USA einer Neuordnung des Mittleren Ostens im Wege zu stehen. Triebe Saddam in einer anderen Weltgegend sein "Unwesen", würde das niemand besonders aufregend finden. Vielleicht käme es zu ein paar UN-Resolutionen, die von Menschen bewegten NGOs angemahnt werden würden.
Solange Saddam den USA von Nutzen war, einen "geopolitischen Puffer" zwischen Schah-Regime und Saudi-Arabien darstellte und späterhin ein Gegengift zur islamischen Revolution bildete, war er für die Amerikaner ein durchaus "nützlicher Idiot" (Lenin) ihrer Außenpolitik. Darum ließ man ihn auch in den Achtzigern gewähren, man bot ihm Militärhilfen an und hatte auch nichts gegen die Produktion biologischer Kampfstoffe und chemischer Waffen einzuwenden (Der Irak, die USA und die Massenvernichtungswaffen).
Noch als Israel in einer Nacht- und Nebelaktion den Atommeiler Osyrek präemptiv zerstörte, zeigte man sich im Lager der US-Regierung äußerst pikiert über diese Aktion der Israelis. Sogar als Saddam alle Kraft in den Bau einer "Superkanone" gegen Israel investierte, Sprengköpfe mit bakteriologischem und chemischen Inhalt entwickelte und diese Waffen im ersten Golfkrieg gegen Iraner und Kurden einsetzte, störte das kaum jemanden in den USA. Nicht einmal dann, als Zehntausende dabei ihr Leben ließen und Millionen darauf ihre Heimat verloren. Gute Beziehungen zu Saddam waren den US-Diplomaten damals wichtiger. In Ungnade fiel er erst, als er Kuwait überfiel und sich anschickte, Kontrolle über 9 % der gesamten Erdölproduktion auszuüben. Da entdeckte Papa Bush quasi über Nacht in ihm den Schurken und Nachfolger Hitlers. Seitdem ist er auch bei uns als "Wiedergänger Hitlers" in Mode gekommen.
Nicht, weil Saddam der Stellvertreter Hitlers ist oder, wie Franziska Augstein jüngst vermutet hat, den Fehler gemacht hat, die Anschläge von Nine-Eleven zu bejubeln, gerät Saddam ins Fadenkreuz der Weltmacht. Sondern einfach, weil er sich zu den "imperialen Ambitionen" (G. John Ikenberry) des "neuen Roms" quer legt. Und diese große Strategie hat Kenneth Pollack erst kürzlich zusammen mit seinem Kollegen Asmus dargelegt und den europäischen Liliputanern als Neues Transatlantisches Projekt schmackhaft zu machen versucht.
Was Afghanistan zuteil geworden ist (vielmehr erst noch zuteil werden muss), nämlich ein Nation-building nach westlicher Machart, erhoffen sich Asmus und Pollack auch von einer erfolgreichen "Demokratisierung des Irak". Nach Willen der beiden US-Strategen soll diese dann auf andere Feudalstaaten ausstrahlen, namentlich auf Saudi-Arabien, Ägypten und den Iran. Dadurch soll eine Transformation des Mittleren Ostens nach dem Muster von Krieg und Wiederaufbau in Gang gesetzt werden, die im Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg sein historisches Pendant hat.
Today, legions around the world now see the war against terrorism as nothing but a spin-concocted denomination for the maintenance of a US hegemony that may no longer exist.
Pepe Escobar
Saddam muss weg
So eindringlich, heftig, aber dabei doch alle Für und Wider argumentativ schlüssig abwägend, hat noch niemand für einen Krieg geworben. Für diesen Klartext, und nur dafür, sei dem US-Strategen herzlich gedankt. Nicht das ob, sondern allenfalls das wann ist unklar. Daran werden weder die jüngsten Stellungnahmen, die vor einer "Dämonisierung" Saddams warnen und von einem "überflüssigen Krieg" sprechen, etwas ändern, noch die moralischen Vorhaltungen hiesiger Intellektuelle, die sich lieber im allgemeinen America-Bashing üben als eine eurasische Gegenstrategie zu den Welteroberungsplänen der USA entwickeln.
Today, legions around the world now see the war against terrorism as nothing but a spin-concocted denomination for the maintenance of a US hegemony that may no longer exist.
Pepe Escobar
Saddams Uhr ist abgelaufen. Er muss weg. Spätestens im Frühjahr ist es soweit. Dazu muss man kein Prophet sein. Wie Globalisierungsgegner, wie der brasilianische Journalist Pepe Escobar, an dieser Stelle einen theatralischen Mikro-Militarismus ausmachen, der angeblich nur den Anfang vom Ende der US-Hegemonie verschleiert, ist mir jedoch unerfindlich.
Im Märchen behalten bekanntlich am Schluss die Zwerge die Oberhand über den Riesen. In einer konzertierten Nachtaktion gelingt es den Liliputanern, Gulliver zu fesseln und ihn dadurch zu besiegen. Allem Anschein nach glauben die Europäer noch an Märchen. Mit Internationalismus und/oder Multilateralismus hoffen sie, Gulliver zu binden. Doch Machtpolitik ist kein Märchen. Und ein Happy End gibt es eben nur dort.