UN-Charta ist veraltet
Das von der US-Regierung in Anspruch genommene Recht auf Selbstverteidigung durch Präventivangriffe findet immer mehr Nachahmer und könnte die Welt gefährlich aufheizen
Der mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartende Krieg der US-Regierung gegen den Irak ist möglicherweise nur ein kleiner Schritt auf dem Weg zur Eröffnung des Zeitalters nicht der Pax Americana, sondern des Bellus Americanus. Wenn denn der Sturz eines Diktators ohne großes Blutvergießen und mit der Entstehung einer wirklich demokratischen Nachfolgeregierung möglich wäre, gäbe es wenig dagegen einzuwenden, sofern dies tatsächlich im Dienste der Freiheit und nicht des Eigennutzes steht. Die von der US-Regierung der Weltöffentlichkeit deutlich explizierte Strategie des militärischen Erstschlags (preemptive strike), könnte die Weltordnung nachhaltig durch Nachahmung zum Schlimmeren verändern (Amerikanischer Internationalismus).
Natürlich ist es keineswegs so, dass erst der von Präsident Bush ausgerufene Krieg gegen den internationalen Terrorismus die USA zum Konzept des militärischen Erstschlags oder von verdeckten Operationen bzw. Anschlägen im Ausland geführt hat (Uncle Sam und die "Snatch Option" des Präsidenten. Das war längst Praxis, beispielsweise in Chile, Salvador, Nicaragua, Panama, Libyen oder unter Clinton 1998 mit der Bombardierung der Fabrik im Sudan sowie einem Lager in Afghanistan, um nach den Anschlägen auf die Botschaften in Kenia und Tansania den vermuteten Drahtzieher bin Ladin und seine Helfer im Sudan zu treffen (Die USA schlagen zurück - Wag the Dog?).
Auch bei den anderen Gelegenheiten wurde mit dem Internationalen Recht und dem darin enthaltenen Recht auf Selbstverteidigung je nach Bedarf umgegangen, doch mit der erneuten militärischen Aufrüstung und Drohung wird auch der Ton unverblümter und werden manche, vor allem nach dem Ende des Kalten Kriegs gepflegte Rhetoriken und diplomatische Formen beiseite gestellt und durch direkte Aktion ersetzt. So stellt sich denn auch die US-Regierung, die keine andere Macht als ebenbürtig neben sich dulden will, vor, dass Frieden nur durch Androhung und Ausführung von Gewalt - und mit dem Zuvorkommen möglicher Bedrohungen - entstehen und gesichert werden kann (Amerika wird das Böse bei seinem Namen nennen).
"Wir müssen den Krieg zum Feind bringen, seine Pläne zerstören und den schlimmsten Bedrohungen entgegen treten, bevor sie entstehen." - Präsident Bush
Zur Rhetorik der neuen Angriffskriege im Zeitalter des Terrorismus gehört, dass die nationale Sicherheit nicht mehr auf den Schutz des nationalen Territoriums beschränkt werden, da auch die Terroristen Grenzen nicht achten und es keine wirkliche Front gebe. Die grenzüberschreitenden Angriffe des "internationalen Terrorismus" dehnen mithin den Rahmen der nationalen Sicherheit auf die ganze Welt aus - Konflikte sind daher vorprogrammiert. Gleichzeitig verschwimmen Krieg und Alltag, Militärisches und Ziviles, Außen- und Innenpolitik.
Antizipatorische Selbstverteidigung
Das Angebot der US-Regierung, militärische Angriffe auf das Ausland im Fall einer selbsterklärten nationalen Bedrohung, der man zuvorkommen müsse, ausführen zu können, hat der russische Präsident nach der Massengeiselnahme bereits gerne in das eigene Repertoire übernommen und damit zunächst vor allem Georgien gedroht (Russland will seinen Kampf gegen den Terrorismus im Stil von Bush ausweiten). Auch Indien hatte bereits nach dem Terrorangriff auf das Parlament in Delhi nach dem Vorbild und dem dabei in Anspruch genommenen Recht des US-Angriffs auf Afghanistan mit einem militärischen Schlag gegen Pakistan gedroht (Indien in einer Situation wie die USA am 11. September). Und auch der israelische Ministerpräsident Scharon drohte nach dem Anschlag in Mombasa, dass Israels langer Arm in einer globalen Jagd die Verantwortlichen überall finden werde. Noch versucht die US-Regierung, die einmal durch sie aufgetretene Türe nur für sich selbst zu reservieren, was auch die gezielten Tötungen betrifft (Lizenz zum Töten auf dem globalen Schlachtfeld), aber dass dies nicht auf Dauer möglich sein wird, ist absehbar.
Den vorersten letzten Vorstoß machte der australische Ministerpräsident John Howard - als Reaktion auf den Terroranschlag in Bali. Er verkündete am 1. Dezember, dass Australien auch einseitige militärische Schritte unternehmen werde, um eine terroristische Bedrohung in einem Nachbarland zu beseitigen - "preemptive" oder, auch ein guter Ausdruck, als "antizipatorische Selbstverteidigung". Die Nachbarländer Malaysia, Thailand, Indonesien oder Philippinen waren von dieser Überfallsandrohung natürlich nicht angetan. Während Putin, der unlängst selbst ähnliches für Russland in Anspruch genommen hat, schnell den unilateralen Gebrauch von Gewalt als Lösung von Konflikten verurteilte, kam US-Präsident Bush, der in Australien einen wichtigen Verbündeten für den Irak-Krieg sieht, Howard zur Hilfe und sprach Australien das Recht auf einen Angriff auf Terroristengruppen im Ausland zu, wenn es eine Bedrohung gibt. Sein Pressesprecher Ari Fleischer:
"The President of course supports preemptive action. The President has said that is part of America's doctrine because of the different nature of terrorism."
Howard, dessen Regierung die Befugnisse des Geheimdienstes gerade erheblich erweitert hat, kündigte überdies an, er erachte es für notwendig, dass die UN-Charta im Hinblick auf die Bekämpfung des Terrorismus verändert werden müsse, um solche militärischen Aktionen im Ausland zur Selbstverteidigung zu ermöglichen. Der australische Außenminister Alexander Downer versuchte zwar, die Äußerungen seines Regierungschefs herunterzuspielen. Natürlich werde man mit anderen Ländern kooperieren, eine Änderung der UN-Charta sei nicht angedacht. Aber Howard wiederholte auch später vor dem Parlament, dass es zumindest eine Diskussion darüber geben müsse. Die Regierung hat allerdings noch keine Entscheidung darüber getroffen, ob sie der UN eine Änderung des Abkommens nahe legen solle. Dabei geht es um Artikel 51, also um das Recht auf Selbstverteidigung:
Artikel 51
Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.
Die Sprachregelung ist hier ziemlich eindeutig, wenn auch umstritten. Das Recht auf Selbstverteidigung bezieht sich auf einen "bewaffneten Angriff", nicht aber auf mögliche Vorbereitungen oder gar nur auf Absichten auf einen solchen. Howard also meint, und ist hier wahrscheinlich auch Vorreiter für die US-Regierung, die gerade mit dem UN-Sicherheitsrat wegen Irak zu tun hat und daher nicht noch eine neue Front aufreißen will, dass dieser Artikel noch einmal angesichts der neuen Bedrohungen überprüft werden müsste. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Artikel verfasst wurde, habe man schließlich an andere Bedrohungen wie "die Reaktion von Ländern wie Polen und anderen, als deutsche Panzer über ihre Grenzen rollten", im Auge gehabt.
Recht auf Selbstverteidigung soll präventive Militärschläge umfassen
Auch der australische Verteidigungsminister Robert Hill sekundiert Howard und verlangt eine Veränderung des Artikels 51 dahingehend, dass dieser deutlich das Recht aller Länder auf "antizipatorische Selbstverteidigung" einschließen müsse:
"Lange bestehende Prinzipien des internationalen Rechts müssen in einem Zeitalter von Waffen, die über den Horizont reichen, von Computernetzwerk-Angriffen und asymmetrischen Bedrohungen neu interpretiert werden, wenn Warnzeiten praktisch auf Null reduziert werden und Feinde praktisch überall zuschlagen können. ... Es ist klar, dass eine Regierung, wenn ein bewaffneter Angriff auf ein Land droht, nicht genötigt ist zu warten, bis der erste Schlag geführt worden ist. Aber was kann ein Staat legitimerweise unternehmen, wenn der Angriff von einem nichtstaatlichen Akteur, der von verschiedenen Standorten in verschiedenen Teilen der Welt operiert, in einer nichtkonventionellen Weise ausgeht? Hier gibt es keine Warnhinweise wie die Mobilisation und den Aufmarsch konventioneller Streitkräfte."
Das ist tatsächlich eine andere Situation, als wenn Massenheere von Staaten mobilisiert werden oder einander angreifen. Hill verschwendet allerdings, ganz im Stil der Bush-Regierung, keinen Gedanken darauf, ob ein Terrorangriff auch mit einem militärischen Angriff gleichzusetzen und daher auf eben eine solche Weise beantwortet werden müsste. Diskutiert wird lediglich, dass ein neuartiger Krieg eines angeblich neuartigen Feindes, der asymmetrischen Mitteln und einer dezentralen Struktur einen Nationalstaat angreift, auch neue rechtliche und militärische Möglichkeiten der Bekämpfung erfordert. Allerdings bleibt, bis auf wenige Länder, die im Chaos wie Somalia versinken, die Welt ein Gebilde aus Staaten, in denen sich Terrorgruppen niederlassen und von denen aus sie agieren. Just ein solcher Nationalstaat soll sich ja wegen einer künftigen Bedrohung durch einen Angriffsschlag schützen dürfen, auch wenn dieser die Souveränität eines anderes Staates verletzt, der nach der UN-Charta dann ebenfalls das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch nehmen und zurückschlagen kann. In der Begründung zumindest also auch eine asymmetrische Situation.
Howard, Bush, Putin, Scharon oder Hill und Co. sind auch keineswegs gewillt, in schwierige Überlegungen einzutreten, wer denn überhaupt die Definitionsgewalt über Terroristen und Staaten, die solche beherbergen, besitzt. Nach dem 11.9. scheint die Lage klar zu sein. Wer die Macht hat, legt fest, wer als Terrorist zu gelten hat und wer möglicherweise zurecht gegen eine Macht rebelliert (auch wenn man da gelegentlich, je nach Interessenlage, die Seiten wechselt, siehe USA und Hussein oder al-Qaida). Auch wie man bestimmen will, dass eine direkte Bedrohung vorliegt, die ein Eingreifen im Ausland rechtfertigt, wird von den Regierungen, die sich Kriegsrhetorik meist mit Erfolg zu eigen gemacht haben, nicht beantwortet. Rechtsstaatlichkeit ist eben im Terrorkampf nicht mehr angesagt, auch wenn der Rechtsstaat samt Freiheit gerade verteidigt werden soll. Und eine internationale Gerichtsbarkeit, wie sie etwa als erster Schritt der Internationale Strafgerichtshof darstellt, wird von den Machtstrategen nicht nur boykottiert, sondern im Fall der USA auch systematisch unterminiert. Rechtstaatlich erscheint zumindest nicht die Haltung, auf puren Verdacht hin oder sicherheitshalber Menschen irgendwo auf der Welt töten zu können.
Der australische Verteidigungsminister Hill schmeichelt jedenfalls die US-Regierung, die im Gegensatz zur UN oder zum Internationalen Strafgerichtshof eine klare Ansicht geäußert habe, wenn von ihr gesagt wurde, dass man "preemptively" handeln würde, um "feindlichen Aktionen unserer Gegner" zu verhindern oder diesen zuvorzukommen. Hill verweist dabei auch auf den Angriff der USA auf Libyen oder auf den Angriff Israels im Jahr 1981 auf ein AKW im Irak. Der Irak und seine Massenvernichtungswaffen hätten diese "wichtige Diskussion" nur noch verstärkt. Durch die neue Resolution des Sicherheitsrates sei das Problem aber umgangen worden, langfristig sei es jedoch nötig, dass "die internationale Gemeinschaft ein Übereinkommen findet, so dass das Recht auf Selbstverteidigung den aktuellen Wirklichkeiten besser angepasst ist". Hill beklagt die Langsamkeit der "internationalen Rechtsmaschinerie":
"In der Zwischenzeit werden die Regierungsverantwortlichen Selbstverteidigung weiterhin so interpretieren, wie es nötig ist, um ihre Völker und die die Interessen ihrer Länder zu schützen".
Trend zur Unterminierung des Rechts
Das alles ist von den Befürwortern von präventiven militärischen Schlägen forsch gesagt und soll den Wählern vermutlich Stärke demonstrieren sowie Sicherheit versprechen. Bedroht wird natürlich dadurch der sowieso stets gefährdete Bestand des Internationalen Rechts, das nun gerade von westlichen Nationen, die angeblich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen wollen, leichtfertig aufs Spiel gesetzt wird. Es lässt sich denn auch kaum vorstellen, wie sich eine drohende Gefahr nach allgemein akzeptierten Maßstäben definieren ließe. Die ansonsten nur in Diktaturen ausgeführte Praxis, auch Bürger des eigenen Staates unbegrenzt einzusperren und jeder Möglichkeit zu berauben, mit einem Anwalt zu sprechen und vor ein Gericht gestellt zu werden, ist das innenpolitische Pendant zu einer solchen Unterminierung des Internationalen Rechts - und wurde, etwa im Fall von Padilla, von der US-Regierung auch realisiert (Das Recht auf Willkür im Krieg).
Ein New Yorker Gericht hat zwar der US-Regierung weiterhin das Recht zugesprochen, selbst bestimmen zu können, wen sie als "feindlichen Kämpfer" bezeichnen will und damit im Prinzip unbegrenzt festhalten kann. Das treffe auch auf US-Bürger zu. Allerdings hätten diese immerhin ein begrenztes Recht, diese Einstufung rechtlich anzufechten (was natürlich für Ausländer nicht zutrifft, die auf Verdacht wie in Jemen erschossen oder wie in Guantanamo unbegrenzt eingesperrt werden). Sie müssen in Kontakt mit einem Anwalt treten können, während die US-Regierung verpflichtet ist, gewisse Beweise vorzulegen, um beurteilen zu können, ob die Gefangennahme rechtens ist. Einen richtigen Prozess wird Padilla aber nicht erhalten, sondern mit der Hilfe von Anwälten werde nur geprüft, ob "es Beweise zur Unterstützung der Schlussfolgerung des Präsidenten gibt, dass Padilla an einer Mission gegen die USA auf der Seite eines Feindes, mit dem die USA sich im Krieg befindet, beteiligt war". Die Befürchtung dürfte nicht unbegründet sein, dass solche "Beweise" in einem eingeschränkten Prozess unschwer geliefert werden können.
In ähnlichen Dimensionen spielt sich auch der Irak-Konflikt ab (Weltpolitik als Farce). Auf Druck der USA sollen nun auch schon die fünf permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates eine Kopie des irakischen Waffenberichts erhalten. Der amtierende Präsidenten des Sicherheitsrats ist der kolumbianische UN-Botschafter Alfonso Valdiviezo. Kolumbien wiederum ist leicht von den USA unter Druck zu setzen, da die Regierung Kolumbiens finanziell und militärisch auf die USA angewiesen ist (Nebeneffekte einer Geschäftsreise). Die US-Regierung behauptet, Beweise dafür zu haben, dass der Irak weiterhin Massenvernichtungswaffen besitzt, ohne diese bislang vorgelegt zu haben. Die irakische Regierung streitet dies ab.
Auch wenn die Überprüfung des umfangreichen Waffenberichts noch lange dauern kann, scheint sich die US-Regierung auf einen baldigen Angriff einzurichten. Schon bald seien genug Truppen und Waffen am Persischen Golf, um gegen den Irak vorzugehen. Jetzt schon befinden sich 60.000 Soldaten und 200 Kampfflugzeuge vor Ort. In den nächsten Tagen werden auch vier Flugzeugträger in der Region sein.
In Katar und in den angrenzenden Golfstaaten hat der US-Oberkommandierende Tommy Franks zusammen mit 1.000 weiteren Militärplanern heute mit der computerunterstützten Übung "Internal Look 2002" begonnen, die als Simulation eines Angriffs auf den Irak gilt. Getestet werden in "realistischen, aber offensichtlich fiktiven Szenarios" vor allem die "Kommunikationsmöglichkeiten auf dem modernen Schlachtfeld" und das neue mobile Hauptquartier CDHQ (CENTCOM deployable headquarters).
Die US-Regierung hat sich bekanntlich stets vorbehalten, auch ohne UN-Beschluss gegen den Irak vorzugehen. Ohne Deckung durch die UN wäre aber böte eigentlich ein Angriff der USA dem Irak rechtlich die Chance auf militärische Selbstverteidigung, auch wenn ihm dies natürlich nicht nutzen dürfte.