Gutes Gamedesign ist meist die Kunst, den Spielern auf möglichst elegante Weise Freiheiten zu nehmen

ICO: Weit größer als das, was die meisten Spiele mit all ihrem aufdringlichen Radau je zustande bringen könnten

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Es mag sich ein Spiel noch so sehr damit brüsten, was es alles zu tun erlaubt, wie "real" es ist in der Fülle seiner Möglichkeiten - im Endeffekt bietet jedes traditionelle Game nur eine eng umzirkelte Welt, nur eine genau umschriebene Zahl an Freiheitsgraden und letztlich höchstens eine Handvoll Pfade, entlang derer die Gamer geleitet werden müssen, egal wie viel sie zwischendurch auf den Spielwiesen neben diesem Weg herumtollen dürfen.

Der Trick besteht darin, die Grenzen und Beschränkungen, die grundsätzliche Unausweichlichkeit des Verlaufs organisch in die Fiktion des Spiels einzuflechten, sie zum überzeugenden Teil der dargestellten Welt zu machen. Und nicht die Spieler sich dauernd fragen lassen, warum ihr durchtrainiertes Spezialeinheiten-Mitglied nur sechs Gegenstände tragen kann, gleich ob schwerstes Geschütz oder Büroklammern; warum sie, bis an die Zähne bewaffnet, stundenlang nach Schlüsseln suchen müssen, anstatt Türen einfach aufzuschießen. Oder weshalb auf freiem Feld plötzlich eine Wand aus Luft zu stehen scheint und kein Vorankommen mehr ist.

ICO beherrscht diese Kunst wie lange kein Spiel mehr. Im Grunde seines Herzens ist ICO ein radikal lineares (und ehrlich gesagt: simpel gestricktes) Game. Man übernimmt die Rolle des behörnten Jungen Ico, der in ein mysteriöses Schloss verschleppt und dort in eine Art Mumiensarg gesperrt wird, aus dem er sich befreien kann. Nicht nur gilt es, Ico einen Weg aus dem gigantischen Gemäuer finden zu lassen - nach wenigen Spielminuten hat man auch noch das bleiche Mädchen Yorda (eine Art Prinzessin, wie könnte es anders sein...) regelrecht im Schlepptau und muss auch ihr zur Flucht verhelfen.

Was konkret so aussieht: Yorda folgt Ico auf Zuruf (oder lässt sich direkt an der Hand nehmen), kann aber anders als er keine Ketten oder Rohre erklimmen, nicht an schmalen Simsen hangeln und braucht für größere Sprünge oder Klettereien Ico als Vorhut, der sie auffängt oder emporzieht. Dafür stehen Ico immer wieder magisch verriegelte Portale im Weg, die nur Yorda öffnen kann. Also arbeitet man sich als Ico auf mühsamerem Wege Abschnitt für Abschnitt voran, um dann stets Schalter, Blöcke oder ähnliches zu finden, die Yorda eine einfachere Bahn ebnen.

Das Ganze steht in der Tradition von Adventure/Puzzle/Platform-Spielen wie MYST (wo die Anklänge an die Atmosphäre und den Look am stärksten sind), die LOST VIKINGS- und insbesondere ODDWORLD-Serien (die beide das Prinzip des "Pfadfindens" durch eine Spielfigur für eine weniger talentierte andere schon ausführlich erprobt haben) und sogar TOMB RAIDER. Mit letzterem hat ICO gemeinsam, dass die "Puzzles" eigentlich kaum welche sind - nur in ganz wenigen Fällen wird tatsächlich Kombinationsgabe gefordert, gilt es, aus verschiedenen Möglichkeiten die richtige zu deduzieren. Eigentlich gibt es stets nur einen offenen Weg, nur eine Sache, die man tun kann - die Leistung besteht darin, diesen (meist nicht auf den ersten Blick knalloffensichtlichen) Pfad zu entdecken. Und ihn zu gehen. Anders aber als TOMB RAIDER (oder die ODDWORLD-Reihe) macht ICO einem beides selten sonderlich schwer. Es ist kein Spiel, das nach dem "Try & Die"-Verfahren funktioniert, kein Spiel, das jeden falschen Schritt bestraft.

Die meiste Zeit darf man die Umgebung in aller Ruhe erkunden, darf ausprobieren, angucken, anfassen was man möchte - äußerst selten nur erlebt man dadurch irgendeinen Rückschlag, und um Ico das Zeitliche segnen zu lassen, muss man sich eigentlich immer einen wirklich groben, durchaus vermeidbaren Schnitzer leisten. (Weil Ico nicht wie Lara Croft oder Abe jeden zweiten Sprung mit dem Leben und der Rückkehr zum letzten Speicherpunkt bezahlt, und weil das Spiel auch völlig auf irgendwelche Sammelaktionen oder - von einer kleinen Ausnahme abgesehen - "Klopf-jede-Wand-nach-einem-Secret-ab"-Dehnübungen verzichtet, ist man circa nach knappen zehn Stunden zum ersten Mal komplett durch. Aber es sind eben zehn sehr beglückende Stunden. Und immerhin ist ausnahmsweise einmal die PAL-Version umfangreicher als das NTSC-Original und bietet - neben einigen anderen kleinen Zuckerln - beim zweiten Durchgang Übersetzungen der Fantasiesprache Yordas und der bösen Königin.)

Betrachtet man nur diese Grundstruktur von ICO, das abstrakte Gerüst seines Aufbaus und Ablaufs, dann scheint da wenig Innovatives, wenig Begeisterndes stattzufinden. Trotzdem gehört ICO zu den herausragendsten Spielen der letzten Zeit, zu den wenigen, die einem den Glauben an das Potential des Mediums Videogames zurückgeben, die einen gefangennehmen, bezaubern, sich ins Gedächtnis brennen: Weil Designer Fumito Ueda es geschafft hat, alle Elemente dieser eher einfachen Grundstruktur völlig überzeugend in die Elemente einer in sich stimmigen, zugleich fantastischen und naturalistischen Welt zu übersetzen. Das beginnt mit den Hauptfiguren Ico und Yorda. Was sie jeweils erklettern können und was nicht, wie weit und hoch sie springen, aus welcher Höhe einen Sturz unbeschadet überstehen können, das sind eigentlich willkürlich, aber auf den Pixel exakt vorbestimmte Parameter, pure Gamedesign-Mathematik.

Doch ICO lssßt diese Parameter wie einen natürlichen Ausdruck der Persönlichkeiten der Figuren erscheinen: Vor allem der schmächtigen, ephemeren Yorda, die so porzellanweiß strahlt (mit grauen Flecken, die hindeuten auf das, was sich unter dieser Oberfläche verbirgt...), glaubt man einfach, dass sie hilfsbedürftig ist, keine Kraft für große Sprünge und prekäre Kletterpartien hat und dass sie des öfteren einfach ziellos in der Gegend umherwandert (was eigentlich nur durch die sie steuernde AI bedingt ist). Mehr noch als das Design der Charaktere sind es die wirklich hervorragenden, auf unaufdringliche Weise höchst expressiven Animationen, die diese Illusion so überzeugend verkaufen - nie lassen sie das Gefühl aufkommen, bei einem Hupfer wären mit etwas mehr Anstrengung schon noch ein paar Zentimeter mehr drin gewesen.

Diese Animationen sind auch zu einem guten Teil mit verantwortlich dafür, dass durchgehend der Eindruck aufrechterhalten wird, die Figuren würden tatsächlich mit der sie umgebenden Welt interagieren. Man meint, förmlich die Anstrengung zu spüren, die viele Manöver kosten. Wobei die Spuren der Bewegungen in dieser Welt - Staubwölkchen (ein vielleicht etwas überstrapazierter Effekt), triefendes Wasser nach einem Bad, Fußtapser in Pfützen - und die stets passenden Geräusche ihr Übriges zu dieser Fiktion beitragen. Wie überhaupt die Gegenstände in der Welt von ICO alle wirklich ihre Masse, ihre Präsenz zu haben scheinen, auch wenn sie lediglich Strukturelement eines simplen Puzzles sind. Ketten, Lasten an Kranarmen, Zugbrücken, Falltore, schwimmende Kisten täuschen allesamt - und eben ohne, dass dies weitere Implikationen für das Gameplay hätte - sehr überzeugend physikalisch korrektes Verhalten vor; wenn Ico ein großes Rad zu drehen hat, dann geht das tatsächlich schneller, wenn er dazu weiter außen am Griff anpackt.

Und schließlich schafft Uedas Spiel es, das Schloss selbst glaubwürdig zu verkaufen - diese pure, im Grunde am Spieldesign-Reißbrett entworfene Ansammlung von streng begrenzten Pfaden, überwindbaren Hemnissen und unüberwindbaren Barrieren, Rätseln, Schaltern, und Türen als plausible Architektur erscheinen zu lassen. Es wird gerade genug Story drumherum präsentiert, um einen Kosmos zu skizzieren, der fantastisch genug anmutet, um solch ein Gebäude darin überhaupt denkbar zu machen. Und die Spielelemente - der zu schreitende, weitgehend lineare Weg und eben all die Begrenzer der Handlungsfreiheit - sind diesem gigantischen Gemäuer sehr geschickt eingeschrieben:

Von der Lage des Schlosses auf einer meerumtosten Insel mit steilen Klippen angefangen, findet ICO zahllose Varianten, um stets nachvollziehbar zu machen, warum es für die Spielfiguren irgendwo nicht weiter geht. Wände, Türen, Zäune, Mauern, Abgründe, Wasserfälle, zerbröckeltes Mauerwerk, zerbrochene Leitern, verfallene Pfade - das alles tut so, als gehöre es schlicht in diese Welt, als hätte es seine ganz organische und selbstverständliche Berechtigung. Wenige Videospiele machen einem die "suspension of disbelief" in dieser Hinsicht so leicht wie ICO.

Es gibt auch Kämpfe in ICO: An festgelegten Punkten des Ablaufs - oder wenn man das Mädchen allzu lange allein zurücklässt - wird Yorda von Schattendämonen bedrängt, denen dann Ico mit seiner Waffe (zunächst ein bloßer Holzstab, später ein Schwert) zu Leibe rücken muss. Bis man sich dafür ein paar Tricks und Kniffe erarbeitet hat, sind diese Sequenzen aber oft eher lästig - ihren Platz in ICO haben sie weniger als spielerischen Eigenwert sondern als Abwechslung zur reinen Erkundung; um ein Gefühl der Bedrohung aufrechtzuerhalten, die Motivation für die Flucht im Hinterkopf immer wieder zu aktualisieren. Und um ein lebendiges Element in das menschenleere Gebäude zu bringen, es nicht einfach tot und unbewohnt wirken zu lassen.

Aber wie die "Puzzles" (die, wie gesagt, diesen Namen meist kaum verdienen) haben auch die Kämpfe in diesem Spiel nicht den Zweck, dem Vorankommen Icos und Yordas ernsthaft im Weg zu stehen. Es geht nur darum, es eine Weile zu verzögern. ICO baut nicht auf Frustration der Spieler, nicht auf große Hürden und die euphorische Erleichterung nach ihrer Überwindung. Es geht ihm nicht darum, etwas so lange einzuüben, bis man stolz darauf sein kann, es wirklich gut zu beherrschen. Die Belohnung für das Spielen von ICO, die Quelle der Freude bei diesem Game, ist der Aufenthalt in seiner Welt selbst. Der Sinn der Rätsel ist eigentlich eher der, einen zum Umschauen in dieser Welt, zu ihrer ausführlichen Erkundung zu zwingen. ICO hat eine regelrechte Dramaturgie der Räume, die eine Art stummen Gegenpart zu Ico und Yorda spielen. Der erste (aber auch nur der erste) TOMB RAIDER-Teil hatte einst ähnliches geschafft, doch Uedas Spiel gelingt das noch viel meisterhafter, selbstverständlich fließender.

Die Abfolge der Schauplätze, von engen und weiten, hellen und dunklen, Innen- und Außen-Räumem hat in ICO einen fast narrativen Charakter, und gerade die schiere (nicht durch das Design der Puzzles motivierte) Größe gewisser Abschnitte, die Mächtigkeit mancher Panoramen - immer wieder bietet die Umgebung Stellen, die offensichtlich keinen anderen Zweck haben als den einer veritablen Aussichtsplattform - erzeugen beim Spielen durchaus Emotion. Obwohl die Jump & Run-Einlagen nie annähernd so prekär sind wie bei Lara Croft, obwohl selten ernste Gefahr eines Bildschirmtodes dräut, stockt einem über manchen Abgründen der Atem - was das Spiel gelegentlich auskostet, beispielsweise mit einer Passage, an der Ico in schwindelnder Höhe an einem Geländer entlanghangelt, in dem plötzlich eine kleine Bruchstelle ist. Das ist völlig ungefährlich, spielerisch nicht weiter bedeutsam; die Bildschirmfigur meistert das bei simplem Weiterhangeln ganz von selbst. Aber so sehr einem das bewusst ist - für die Sekunde, die Ico sich ein paar virtuelle Zentimeter fallen läßt, um die Fortsetzung des Geländers zu packen, wird einem doch unweigerlich bang.

Der heimliche Hauptdarsteller ICOs aber sind eigentlich weder Ico und Yorda noch das Schloss - es ist das Licht. Es ist kein Zufall, dass Ueda es auch bei den meisten zentralen Puzzles eine entscheidende Rolle spielen läßt und dass Schatten die Rollen des Bösen spielen. Wie das Licht zu Fenstern hereinströmt, um Fackeln flackert, wie es um den Wasserfall einen zarten Regenbogen malt, wie die tiefstehende Sonne manchmal für einen Augenblick glühend blendet, wie es in den Freiluft-Arealen stets den Look leicht überbelichteten Films hervorruft, wie naturalistisch es die Schatten von Ico und Yorda zeichnet - das ist von oft beeindruckender Schönheit, erweckt Staunen und den allesentscheidenden "sense of wonder". ICO hätte ohne die Rechenleistung einer "Next Generation"-Konsole so nie funktioniert; ICO ist der Beweis, wie unsinnig es ist, beim Bewerten von Videospielen immer Spiel, Grafik, Sound als gesonderte Elemente zu betrachten: ICO ist ein Gesamterlebnis.

Vor allem aber ist ICO in jeder Faser durchtränkt von etwas, das bisher die allerwenigsten Videospiele kannten: Subtilität. Es ist endlich einmal ein Spiel, das nicht auf pubertäre Instinkte spekuliert, auf Hipness, "Attitude". Das einen nicht zu erschlagen versucht mit seinen Reizen, mit Grellheit und Lautstärke oder grandios-meoldramatischen Gesten. (Was auch amüsant sein kann, aber eben nicht in der momentan herrschenden Ausschließlichkeit.) ICO hat wahre Klasse und Stil. Das beginnt bei der klar begrenzten, sanften Farbpalette und ihrem wohlüberlegten Einsatz, findet sich in dem grafischen Design, das mit Fotorealismus flirtet und doch dezent durchstilisiert ist, scheint auf in Details wie den gelegentlich auf dem Bildschirm herumspazierenden und -fliegenden Vögel - wiederum ohne Belang fürs eigentliche Gameplay, aber entscheidend, um die virtuelle Welt von ICO nicht tot erscheinen zu lassen und um in manchen Riesen-Räumen als perspektivische Referenz deren Größe stärker fühlen zu lassen.

Und es spricht vor allem aus dem Soundtrack, der sich fast vollständig auf atmosphärische Geräusche beschränkt, die mit großer Meisterschaft unterschwellig enorm viel dazu beitragen, dass die virtuelle Welt von ICO in unseren Köpfen den Anschein von echten Dimensionen, Materialien, Beseeltheit bekommt. Vor allem in seinem letzten Drittel funktioniert ICO dann wirklich traumhaft gut. Da spielt es mit den Erwartungen an ein nahendes Ende, zaubert eine unerwartete Änderung der Gangart (und des Wetters) aus dem Hut und schlägt auch den Bogen zurück zur Anfangssequenz und in ihre gelegter Fährten. Und wenn dann ganz zum Schluss nach all der Stille oder amorphen, reduzierten Musik bei den Kämpfen ein (nur ein klitzekleinwenig ins Kitschige spielender - aber wen das zu dem Zeitpunkt stört ist unheilbarer Zyniker) Song ertönt, noch einmal die durchschrittenen Räume auf dem Bildschirm erscheinen und die Geschichte von Ico und Yorda ihr Ende zu finden scheint, dann merkt man erst so richtig, wie tief man schon in diese Welt hineingezogen war; dann ist das ein wirklich berührender, enormer emotionaler Payoff, in dem sich alles einlöst, was das Spiel so dezent, subtil, fast unmerklich im Laufe der Stunden aufgebaut hat.

Dann stehen all die zurückhaltenden Elemente, die oft nur am Rande, halbbewusst bemerkten Details plötzlich in ihrer Summe da. Und die ist weit größer als das, was die überwiegende Zahl derzeitiger Spiele mit all ihrem aufdringlichen Radau je zustande bringen könnten.