Hinrichtung in Versailles

Seite 4: Hinrichtungsparty in Versailles

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Handwerkliche Fehler oder nicht: Desfourneaux und seine Auftraggeber durften mit dem Resultat zufrieden sein. Der Maßstab für den Erfolg einer Hinrichtung war die Geschwindigkeit. Schnelligkeit galt als ein Zeichen von Humanität. Man war schließlich nicht bei den Barbaren (zeitgenössischen Berichten nach wurde in den Kolonien nicht ganz so flott und präzise geköpft, und man sparte am Personal). Vom Erscheinen Weidmanns in der Gefängnispforte bis zur Enthauptung vergingen weniger als 20 Sekunden. Viel schneller hätte Deibler das auch nicht hingekriegt. Interessanterweise ist bei dieser Bewertung die Schnelligkeit mit Publikum und Sichtbarkeit gekoppelt, und nicht mit der Erfahrungswirklichkeit des Verurteilten, der möglichst wenig leiden soll, wie es dann immer heißt. Für Weidmann war der Weg in den Tod aber viel länger als der von der Gefängnispforte bis zum Fallbeil. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Rechnet man von dem Datum an, an dem ihm klar geworden sein muss, dass er den Kopf verlieren würde, also eventuell vom Tag seiner Verhaftung an? Von dem Tag an, an dem das Urteil gesprochen wurde? Nimmt man die Zeitspanne zwischen der Enthauptung und dem Moment, in dem ihm eröffnet wurde, dass der Staatspräsident sein Gnadengesuch abgelehnt hatte? Da ist es doch viel einfacher, man orientiert sich am Zuschauer. Weniger als 20 Sekunden von der Tür in der Gefängnismauer bis zum Tod. Das ist das Maß. Eine Heuchelei ist es aber ebenfalls.

Man könnte auch von dem Moment an rechnen, in dem Weidmann in der Todeszelle den Trubel draußen vor dem Gefängnis hörte. Schätzungen nach sollen am Abend davor zwischen 10.000 und 40.000 Schaulustige nach Versailles gefahren sein, die dort die Nacht zum Tag machten. Die Bistros hatten rund um die Uhr geöffnet, was auch bedeutet, dass viele Besoffene dabei waren (oder wenigstens irgendwo in den umliegenden Straßen grölten), als zwei Minuten nach halb fünf das Fallbeil niederging. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung marschierte Militär auf. Ein Hotelier machte das Geschäft seines Lebens, weil er Zimmer mit Aussicht vermieten konnte. Im Stockwerk unter Renaudon, dem Photographen von der France-Soir, fand eine Hinrichtungsparty statt, deren Teilnehmer sich das Ziel gesetzt hatten, in dem Moment, in dem Weidmanns Kopf fiel, die Champagnerkorken knallen zu lassen.

Un long dimanche de fiançailles

Als Jean-Pierre Jeunet die Hinrichtung von Tina Lombardi (Marion Cotillard) in Un long dimanche de fiançailles (Mathilde - Eine große Liebe) drehte, orientierte er sich an den Filmen und Photos von der Enthauptung Eugen Weidmanns. Im Audiokommentar der DVD zeigt er sich stolz darauf, wie gut die Umsetzung gelungen sei. So, kann (und soll) man sich denken, sah das also aus, wenn jemand mit dem Fallbeil getötet wurde. Das stimmt, denn die Enthauptung ist der echten, auf Film festgehaltenen ziemlich genau nachgestellt, und doch ist es nur die halbe Wahrheit. Das kurze Stück Schwarzweißfilm in Mathilde ist ein seltsamer Hybrid. Vorlage war der heimlich aufgenommene Streifen eines Amateurfilmers von 1939, den man - der schlechten Qualität wegen - für dokumentarisches Material aus der Stummfilmzeit halten könnte und der bei Jeunet, künstlich gealtert, als Aufnahme aus eben jener Stummfilmzeit (einige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs) wieder auftaucht. In diesem Stück "Stummfilm" stellt der oft für die Genauigkeit im Detail gelobte Jeunet etwas nach, das es so erst nach der Enthauptung von Eugen Weidmann gab, obwohl ihm dessen Hinrichtung als Vorbild diente.

Bei Jeunet ist die Exekution von Tina Lombardi eine zwar gruselige, aber sehr geordnete Veranstaltung. Der Scharfrichter und seine Gehilfen gehen schnell und routiniert ihrer Arbeit nach, Tina verliert den Kopf, Männer in Uniform, würdige Offizielle in schwarzen Anzügen und vielleicht noch ein paar Angehörige der Täterin und ihrer Opfer sehen dabei zu. Man muss aber den Eindruck haben, dass das Ganze im Hof eines Gefängnisses stattfindet, geschützt vor den Blicken einer neugierigen Öffentlichkeit. Das ist eine nicht unbedeutende Abweichung von der Wirklichkeit der frühen 1920er. Jeunet hat die Enthauptung vom Trottoir neben dem Gefängnis auf die andere Seite der Mauer verlegt und damit etwas vorweggenommen, das es erst nach dem Tag gab, an dem Eugen Weidmann starb. Bis dahin waren Hinrichtungen in Frankreich öffentlich, was nicht heißt, dass jeder Schaulustige einen Blick auf den makabren Höhepunkt der Vorstellung erhaschen konnte.

In Versailles hatte die Polizei Absperrgitter aufgestellt, hinter denen sich schon Stunden vor der Hinrichtung die Menge drängte. In den Bereich innerhalb der Absperrungen kam nur, wer eine Eintrittskarte hatte. Das waren Parlamentsabgeordnete, Kulturschaffende, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Leute mit Beziehungen. Colombani schreibt in Die Affäre Weidmann, dass Paul Renaudon genug Zeit hatte, sie von seinem Hotelfenster aus durchzuzählen: rund 170 Promis sollen es gewesen sein, die sich im Laufe der Nacht versammelten und darauf warteten, dass Weidmann aus der Pforte des Gefängnisses Saint Pierre trat, hinter dessen Mauern sich Strafverfolger und Verteidiger - falls sie es nicht schon früher erledigt hatten wie Maître Jardin - noch rasch ein Photo signieren ließen, denn schließlich war der Delinquent ein berühmter Mann. Als André Obrecht Weidmanns Kopf an den Ohren über die untere Funette zog hatte die High Society einen Halbkreis um die Guillotine gebildet, in einem Sicherheitsabstand von etwa zwanzig Metern (das spritzende Blut).

Ein Bild davon, obwohl gesetzwidrig entstanden (Renaudon hatte es vom Balkon seines Hotelzimmers aus geschossen), wurde von den in die Kritik geratenen Behörden als Beleg für die Würde der Veranstaltung ins Feld geführt. Bis Jeunet das Photo als Vorlage für seinen Film auswählte hätte ich gesagt, dass der Versuch missglückt ist. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. "Haupt- und Nebenhandlungen sind präzise bis ins Detail ausgearbeitet", rühmte der Kulturkanal ARTE, als Mathilde im Rahmen eines Themenschwerpunkts zum Ersten Weltkrieg ausgestrahlt wurde. Das mag so sein. Es kommt aber darauf an, wie man die Details verwendet und in welchem Kontext man sie zeigt. Problematisch wird es, wenn man den - artifiziellen und mit modernster Technik hergestellten - Detailreichtum mit Authentizität verwechselt. Jeunet hat den Schauplatz verlagert und durch die Entscheidung für eine Hinrichtung als Stummfilm das Gejohle entfernt, das durch Versailles hallte, als Weidmann der Kopf abgeschlagen wurde. So verfälscht man die Erinnerung.

Graf Dracula und die Weidmann-Girls

Ob Maurice Chevalier, der im Monat davor die letzte Einstellung für Pièges gedreht hatte, einer von den 170 Promis war, konnte ich nicht zweifelsfrei in Erfahrung bringen. Vielleicht hatte er kein Interesse mehr an der Affäre Weidmann, weil er inzwischen den Rohschnitt des Films gesehen und begriffen hatte, dass er neben Marie Déa nur die zweite Geige spielte. Oder er fand es doch zu gruselig, so kurz, nachdem er als Filmheld in letzter Minute der Guillotine entkommen war, an einer Enthauptung teilzunehmen. Bei der Gefängnispforte wäre Chevalier in mehrfacher Hinsicht mit dem - fiktiven und sehr realen - Tod konfrontiert worden. Der von ihm verkörperte Theaterproduzent Robert Fleury, dem der wahre Mörder belastendes Material und ein paar im Garten vergrabene Leichen unterjubelt, ist eine idealisierte, mit beruflichem Erfolg und Star-Appeal versehene Version von Roger LeBlond, Weidmann-Opfer Nummer 4 (falls die Liste vollständig ist). LeBlond hatte ein wenig Berufserfahrung in der Schlagerbranche gesammelt, wollte sich selbständig machen und suchte Investoren für seinen Einstieg ins Showgeschäft. Er starb in La Voulzie. Seine Leiche wurde mit zwei Genickschüssen gefunden. Eine Kugel war durch das rechte, die andere durch das linke Auge wieder ausgetreten. Million hatte die Nerven verloren und nicht genau genug gezielt, der kaltblütigere Weidmann hatte dem schwer Verletzten den Gnadenschuss gegeben. Es waren auch Entdeckungen wie diese, die Mutmaßungen über Weidmanns Agententätigkeit für die Gestapo glaubhaft erscheinen ließen.

Der amerikanische Korrespondent Webb Miller erzählte denn auch etwas von politischen Agitatoren, als er einem damals 17-jährigen Briten vorschlug, ihn zu einem Ereignis zu begleiten, bei dem etwas über das Leben und den Tod zu lernen sei. Für seine Reportage über die Enthauptung des Serienmörders Landru war Miller 1922 für den Pulitzerpreis nominiert worden. Der junge Brite, der sich zufällig in Paris aufhielt, würde knapp zwanzig Jahre später den von Peter Cushing alias Victor Frankenstein mit neuem Hirn und neuen Händen ausgestatteten und dann wiederbelebten Gehängten spielen und als Graf Dracula weltberühmt werden. Er hieß Christopher Lee. In seiner Autobiographie Lord of Misrule (siehe das Kapitel "Short Sharp Shock") berichtet er davon, wie er sich auf der nächtlichen Fahrt nach Versailles über die vielen Leute gewundert habe, die dort zusammenströmten - bis er dann die bereits aufgebaute Guillotine sah. "Ich versuche nicht, Ihnen Angst einzujagen", habe Miller dazu gesagt. "Aber ich rate Ihnen, mit dabei zu bleiben. Sie werden das Verhalten der Leute nie vergessen. Wie gern die Leute Blut sehen wollen. Wie grausam sie sein können!"

Gut möglich, dass Lee, als Begleiter eines bekannten amerikanischen Journalisten, tatsächlich einen Platz bekam, von dem aus man gut sehen konnte, was da vor sich ging. Jedenfalls schildert er, wie Weidmann aus der Gefängnispforte geführt, eilig zur Guillotine gedrängt und dort auf das Brett geworfen wurde, damit der "Photograph" seinen Kopf in Position bringen konnte: "In diesem Moment fiel das Beil, und ich dachte, dass ich selbst sterben würde." An diesem Morgen in Versailles erfuhr Lee, wie dicht unter dem Firnis der Zivilisation manchmal das Atavistische lauert. Das blutige Schauspiel verfolge ihn bis heute, schrieb er 2004 in einem Leserbrief an den Telegraph.

Nach der Enthauptung wurden die Absperrungen aufgehoben. Hysterisierte "Weidmann-Girls" liefen zur Guillotine, um ihre Taschentücher in das Blut des Geköpften zu tauchen. Der Versuch einer Dame, den Grabpfleger des Gonards-Friedhofs zu bestechen, auf dem der Serienmörder anonym bestattet wurde, wirkt da schon fast dezent: sie bot dem Mann Geld für Weidmanns Kopf. Für solche Geschichten interessierten sich auch die Regisseure der Nouvelle Vague, die von amerikanischen Kriminalromanen und -filmen genauso fasziniert waren wie von wahren Verbrechen. Bei den frühen Werken der Neuen Welle hat man manchmal das Gefühl, als verberge sich Eugen Weidmann, der einer Interpretation nach mordete, weil er sein Leben wie einen Gangsterfilm inszenieren wollte, irgendwo zwischen den Bildern - im Off von Godards Außer Atem beispielsweise, wo Jean-Paul Belmondo als von der Polizei gesuchter Mörder in einem gestohlenen Auto durch Paris fährt wie vor ihm Weidmann und dann, in Gestalt von Jean Seberg, eine junge Amerikanerin trifft, die ihm zum Verhängnis wird.

Mörderische Befriedigung

Natürlich kann man es mit den Bezügen auch übertreiben. In dem Fall sind sie gar nicht so weit hergeholt. In den frühen Werken der Nouvelle Vague sieht man - gespiegelt durch den amerikanischen Film noir - ein Frankreich, das noch ganz unter dem Eindruck der 1930er und des Zweiten Weltkriegs stand. Die alten Ausgaben der Zeitschrift Détective, mit den Berichten zur Affäre, waren damals leicht zu finden, und die neuen, in denen nach einem "zweiten Weidmann" gefragt wurde, wenn man in Frankreich wieder einen Serienmörder gefasst hatte, sowieso. In einer populären Taschenbuchreihe erschien 1954 C. A. Dupins Weidmann le tueur, mit dem zeitgemäß gestylten Kopf von Jean de Koven und Weidmann in Gangsterpose oder vielleicht auch als Agent der Gestapo auf dem Cover (das True-Crime-Buch endet mit einem Kapitel über die NS-Verbrechen; Zwischenüberschrift: "Le tueur? Un Nazi.").

Offensichtlich wird die Verbindung in Les bonnes femmes (Die Unbefriedigten, 1959), Claude Chabrols Abrechnung mit dem Patriarchat und den Klischees von der romantischen Liebe. Vier junge Verkäuferinnen in Paris hoffen auf ein besseres Leben. Eine von ihnen, Jacqueline, lernt einen Motorradfahrer kennen, auf den sie ihre Träume projiziert und der von Anfang an sehr präsent war, wie ein unheimliches Phantom. Für Jacqueline ist dieser Ernest Lapierre ihr Märchenprinz. Madame Louise, die im Laden an der Kasse sitzt, ist schon älter und träumt auch noch von der großen Liebe. Einmal zeigt sie Jacqueline ihren wertvollsten Besitz. Als sie noch ein junges Mädchen war, erzählt sie, 1939, wurde ein sadistischer Frauenmörder namens Weidmann in Versailles auf die Guillotine geschickt. Ein schöner Bursche sei er gewesen, sagt sie, und in ihrem Gesicht meint man kurz das junge Mädchen zu erkennen, das Weidmann damals angehimmelt hat. Madame Louise öffnet ihre Handtasche und packt, voller Sorgfalt und wie bei einer wertvollen Reliquie, das Taschentuch aus, das sie damals, auf dem Trottoir neben dem Gefängnis Saint Pierre, in Weidmanns Blut getaucht hat und seitdem immer mit sich führt.

Les bonnes femmes

Les bonnes femmes könnte da - trotz der verwirrenden, weil nicht zum Genre passenden Kriminalmusik des wunderbaren Paul Misraki - gerade noch einmal die Kurve hin zur Komödie kriegen, als die sich der Film anfangs ausgibt. Doch dann unternimmt Jacqueline mit Lapierre eine Landpartie. Das gemeinsame Mittagessen ist eine der gruseligsten Restaurantszenen, die ich kenne. Mit diesem Mann sollte man nicht in den Wald gehen. Jacqueline tut es trotzdem. Nur Lapierre kommt lebend wieder heraus, und die Inszenierung deutet an, dass er wohl früher oder später André Obrecht begegnen wird, der bei Weidmanns Hinrichtung der "Photograph" gewesen und zum Chefhenker aufgestiegen war, als Les bonnes femmes in den französischen Kinos lief. Das alles ist so verstörend, weil Chabrol auf Beruhigungspillen verzichtet und einen fast dokumentarischen Blick beibehält, statt die fundamentale Unheimlichkeit solcher Taten mit wohlfeilen Erklärungen zuzudecken. Die Landpartie wirkt auch wie ein Kommentar zum Verhalten der anderen Männer im Film den Frauen gegenüber. Chabrol nahm man das sehr übel. Les bonnes femmes, heute als Meisterwerk gepriesen, wurde nach der Uraufführung fürchterlich verrissen und hätte beinahe die noch junge Karriere des Regisseurs beendet.

Les bonnes femmes

Wie sehr der Fall Weidmann mit den Nazis und dem Dritten Reich verbunden blieb, und zugleich mit Ogern aus einer noch weiter zurückliegenden französischen Vergangenheit, kann man anhand von Michel Tourniers 1970 erschienenem Roman Der Erlkönig überprüfen. Der Ich-Erzähler, Abel Tiffauges, hat nicht nur die gleiche Größe und das gleiche Gewicht wie Weidmann, er ist auch am selben Tag geboren und verfolgt von Tag zu Tag den Prozess gegen diesen mit. Dann lässt er sich überreden, einige Frauen zur Hinrichtung nach Versailles zu fahren. Auf Drängen der Frauen treffen sie schon am Abend davor dort ein. In Versailles wird ein großes Picknick veranstaltet. Unmut macht sich breit, als in den Bistros das Bier ausgeht. Schließlich müssen die Gendarmen und Soldaten eingreifen, und dann fordert die laut skandierende Menge, dass die Vorstellung endlich beginnen soll. Als Weidmann aus dem Portal des Gefängnisses geführt wird stellt eine von Abel Tiffauges’ Begleiterinnen überrascht fest, dass er aussieht wie Abel (die Frage, ob Volker Schlöndorff das mit der Besetzung von John Malkovich in Der Unhold gut getroffen hat, beantworte man sich bitte selbst). Tiffauges hieß die Burg von Gilles de Rais, der als "Blaubart" zu einer von Legenden umrankten Figur wurde. Man kann da also durch die Burg des Vaters aller Serienmörder ein Labyrinth betreten, wo einen der Weg zu Goethes Ballade vom Erlkönig führt, über Landru (dem "modernen Blaubart") zu Weidmann und von da zu sexuell deviantem Verhalten und zur Napola, der "Nationalpolitischen Erziehungsanstalt" der Nazis. Wo man wieder herauskommt, und ob überhaupt, weiß ich nicht genau. Tourniers mit dem Prix Goncourt ausgezeichnetes Buch ist immer noch sehr lesenswert.

Tod eines Heiligen

Vor der Enthauptung wurde Weidmann formell aus der Haft entlassen und dem Henker überantwortet. Desfourneaux schlug ihm - indirekt, weil das Auslösen eines zum Tode führenden Mechanismus zivilisierter ist - den Kopf ab und begleitete die zweigeteilte Leiche zum Friedhof, wo er sie der Bevollmächtigten der Eltern übergab. Das gehörte zu dem Ritual, das die Würde der Veranstaltung betonen sollte und fand immer auf die gleiche Weise statt. Eugen Weidmann aber war ein Star, dessen Hinrichtung Tausende von Schaulustigen angezogen hatte. Das änderte alles. Während die Assistenten des Henkers wie üblich mit einem nassen Schwamm das Fallbeil säuberten, ein paar Eimer Wasser auf das Trottoir kippten und die Köpfmaschine abbauten, blieben einige von denen, die in der Affäre Weidmann eine Rolle gespielt hatten, noch etwas stehen und unterhielten sich mit den Journalisten. "Er war ein einziger Widerspruch", sagte Moro-Giafferi über seinen Mandanten. "Als Verbrecher war er ein Monster, aber gestorben ist er wie ein Heiliger."

Dieser dann oft zitierte Ausspruch konnte den Behörden so wenig gefallen wie das ganze Drumherum. Die Frauen mit ihren Taschentüchern, die volksfestähnliche Stimmung und vor allem: die Bilder, die dabei entstanden und die anschließenden Berichte in der Presse - das war ein großes Ärgernis. Édouard Daladier, der Premierminister (das ist der, der im Jahr davor mit Hitler und Chamberlain das Münchner Abkommen geschlossen hatte), fürchtete um den Ruf seines Landes. Solche Szenen wie in Versailles sollten sich nie mehr wiederholen. Deshalb endete die Affäre Weidmann, die dem Publikum in Frankreich - dank der nun mit Photos bebilderten Faits divers - so reichhaltig illustriert präsentiert worden war wie kaum ein Kriminalfall zuvor, mit der Verbannung der Todesstrafe aus der Öffentlichkeit. Dadurch, dass Weidmanns Enthauptung zum Medienereignis wurde, kam ein Prozess zum Abschluss, der sich über mehrere Etappen erstreckte und Jahrzehnte dauerte. (Hoffen wir also, dass sich die Henker vom IS, die Barbaren aus dem Mittelalter, nicht auch darin an den ehemaligen Kolonialherren aus Europa - oder den Amerikanern - orientieren.)

Die Wirklichkeit ist oft paradox. Die Todesstrafe sollte öffentlich sein, wegen der abschreckenden Wirkung (ohnehin ein Unsinn). Und die Öffentlichkeit sollte möglichst wenig davon sehen, wegen der Würde und der westlichen Zivilisiertheit und so weiter. Bis 1870 war es in Frankreich üblich, die Verurteilten auf einem Gerüst zu enthaupten. Dafür musste ein Schafott gezimmert werden. Das kostete Geld, war zeitaufwendig und gab den Gaffern Gelegenheit zu ungebührlichem Verhalten. Darum wurde 1870 verfügt, dass die Guillotine fortan ebenerdig zu errichten war (das Schafott in Tourniers Der Erlkönig ist nur ein halber Anachronismus, weil da mehrere Zeitebenen gedanklich übereinander gelegt werden). Den Unterhaltungswert schmälerte das erheblich, weil das Vorspiel stark verkürzt und der direkte Blick auf das Spektakel nun auf einen relativ kleinen Kreis beschränkt war. Wer sehen wollte, wie so eine Hinrichtung genau ablief und keinen Platz in den vorderen Reihen ergattern konnte, dem half das Kino weiter.

Les Incendiaires

Georges Méliès, der unübertroffene Meister der Phantastik, hatte auch eine frühe Form des Dokudramas im Angebot. Im Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts sorgten die Landbevölkerung terrorisierende Räuberbanden für Schlagzeilen. Die Banditen waren Mörder, Folterer und Vergewaltiger, und wenn man sie lebendig erwischte endeten sie meistens auf der Guillotine. Als gelernter Zauberkünstler trieb Méliès gern mit dem Entsetzen Scherz, indem er Köpfe abschnitt, sie aufblies oder vervielfältigte und die zerstückelten Körper am Schluss wieder zusammensetzte. 1906 drehte er einen der Filme, mit denen er seine Phantasmagorien in der Realität verankerte. In Les Incendiaires überfallen Banditen einen Bauern, töten ihn und stecken seinen Hof in Brand. Die Polizei entdeckt das Versteck der Bande. Nach Flucht und Schießerei wird der Anführer gefasst und zum Tode verurteilt. In seinen Albträumen sieht er die Köpfmaschine, dann folgt die Hinrichtung. Draußen vor dem Gefängnistor, im Schein der Laternen (so war das für gewöhnlich), haben der Henker und seine Assistenten die Guillotine aufgebaut, alles funktioniert, der Verurteilte kommt heraus und wird enthauptet, Kopf und Rumpf werden in einem Korb verstaut und abtransportiert, einer aus dem Henkerteam wäscht das Blut von der Guillotine ab.

Les Incendiaires

So, wie der Film es zeigt, lief es auch bei Weidmann ab. Nur der "Photograph" ist bei Méliés von anderem Kaliber. Statt zurückzutreten hält er den Kopf des Delinquenten an den Ohren fest und zieht ihn nach vorn, als das Fallbeil niedergeht. Méliès handelte sich mit den Brandstiftern viel Ärger ein, obwohl die Handlung den gängigen Moralvorstellungen entspricht. Ein Verbrechen wird begangen, der Haupttäter gefasst und verurteilt, am Schluss erfährt er seine gerechte Strafe. Trotzdem war die Empörung groß. Das Ende mit Kopfabschlagen und Saubermachen durfte nur in Orten vorgeführt werden, wo der Bürgermeister oder ein anderer Repräsentant des Gemeinwesens dies ausdrücklich genehmigt hatte. War das nicht der Fall, musste das Ende abgeschnitten werden wie das Haupt des Banditen. Darin zeigt sich die ganze Schizophrenie von Justiz und Filmzensur. Wenn im Kino eine der Realität nachgestellte Enthauptung zu sehen war schritt die Polizei ein, während außerhalb der Lichtspieltheater, in der Wirklichkeit, Menschen geköpft wurden, und zwar vor den Gefängnistoren, der abschreckenden Wirkung wegen, weshalb die Vorstellung von der Bühne (dem Schafott) herunter auf die Straße geholt wurde und tunlichst vor Tagesanbruch zu enden hatte, weil nicht zu viele Leute sehen sollten, was da genau passierte.

Auch rund um die realen Enthauptungen gab es kleinere und größere Skandale wie den um die Dreifachhinrichtung in Valence im Jahre 1909. Geköpft wurden die Mitglieder einer Bauernhöfe überfallenden Räuberbande wie bei Méliès. Weil Deibler, inklusive der Pausen zum Reinigen des Fallbeils, sechs Minuten brauchte, um die drei Männer zu enthaupten, und weil das ausnahmsweise lange nach Sonnenaufgang stattfand, hatten die Photographen ausreichend Gelegenheit und Licht, um viele Bilder in ungewöhnlich guter Qualität zu machen. Diese Aufnahmen waren illegal, die Regierung war empört, und die Franzosen konnten einen Teil der Photos mit nach Hause nehmen oder an Freunde verschicken, als noch bis in die 1920er hinein neu aufgelegte Postkartenserie.

Für viele Zeitgenossen war mit den Vorkommnissen um Weidmanns Enthauptung endgültig die Grenze des Erträglichen überschritten. Daladier forderte beim Justizminister einen Bericht an, und bei der nächsten Kabinettssitzung wurde eine Änderung des entsprechenden Artikels im Strafgesetzbuch beschlossen. Hinrichtungen fanden von nun an im Inneren des jeweiligen Gefängnisses statt, im Beisein von Offiziellen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Befürworter der Todesstrafe verloren damit ihr wichtigstes Argument: die (angeblich) abschreckende Wirkung. Das war ein schwerer Schlag. Die Gegner der Todesstrafe sahen bereits deren Ende nahen. Das war zu optimistisch. Weidmann war der Letzte, der in Frankreich öffentlich hingerichtet wurde (die Zeit der deutschen Besatzung einmal ausgenommen). Aber der letzte Mensch, der durch die Guillotine starb, war Hamida Djandoubi, ein wegen Mordes und Vergewaltigung einer Minderjährigen verurteilter Zuhälter aus Tunesien. Das war am 10. September 1977 in Marseille. Vier Jahre später wurde die Todesstrafe abgeschafft. Die Enthauptung von Eugen Weidmann, dem Serienmörder aus dem Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, markiert eine wichtige Etappe auf dem Weg dahin.

Das ist ein guter Moment für eine Pause, und zum Luftholen. Im dritten (und letzten) Teil nehmen wir die Spur des verschwundenen Huts in Phantom Lady wieder auf. Auch um ein paar neue Köpfe werden wir nicht herumkommen. Abgeschlagen werden sie aber nicht mehr, weil sie als Skulpturen im Atelier eines Bildhauers stehen. Ich werde dann auch verraten, wer der Mörder ist. Wer so etwas nicht mag und trotzdem weiterlesen will: Vorher Phantom Lady schauen. Ein sehr guter Film.

Teil 3: Zwischen Schädelstätte und Endlosschleife

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