Hinrichtung in Versailles

Pièges

Phantome, verschwundene Hüte und Enthauptungen: Teil 2

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Teil 1: Phantome, verschwundene Hüte und Enthauptungen

Wenn im Internet bewegte Bilder auftauchen, in denen zu sehen ist, wie der IS einer westlichen Geisel den Kopf abschlägt, wird jedes Mal die Frage diskutiert, wie man damit umgehen soll. Das muss so sein, weil es keine einfache Antwort darauf gibt. Ein bewährtes Mittel ist das der Ausgrenzung. Man stellt eine letztlich der eigenen Beruhigung dienende Distanz her, indem man das Geschehen in andere Erdteile oder andere Zeiten abschiebt und hat dann nur noch insofern damit zu tun, als man von Terroristen zum unfreiwilligen Zeugen solcher Brutalitäten gemacht wurde. Bei der Berichterstattung über die Enthauptungsvideos gehört es inzwischen zum Ritual, eine Verbindung zu "mittelalterlichen Grausamkeiten" herzustellen, vorzugsweise zu Grausamkeiten in der islamischen Welt des Mittelalters, das bekanntlich finster war. Ganz redlich ist das aber nicht. Das öffentliche, einer Inszenierung gleichende Kopfabschlagen hat in Europa eine lange Tradition, die weiter in unsere Gegenwart hineinragt, als wir es wahrhaben wollen, wenn wir über eine Barbarei sprechen, die immer nur die der anderen ist. In Frankreich endete sie in den frühen Morgenstunden des 17. Juni 1939 in Versailles, mit der Enthauptung des deutschen Serienmörders Eugen Weidmann. Natürlich macht das die Mordtaten des IS um nichts besser. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Im Dezember 1937, da haben wir aufgehört, verhaftete die französische Polizei einen Deutschen, der dann umstandslos fünf Morde gestand (und später noch einen sechsten). Das Motiv für die Taten blieb rätselhaft. Die geglättete Version von der Geschichte geht so, dass sich die Bande ein Vermögen ergaunern wollte, indem sie wohlhabende Ausländer entführte oder ausraubte. Jean de Koven gab daheim in Brooklyn Tanzstunden und war bestimmt nicht reich. Das wird üblicherweise so erklärt, dass Weidmann (trotz längerem Kanadaaufenthalt) einer von den Europäern war, die Amerikaner nur aus Filmen und Romanen kannten und glaubten, dass jeder von ihnen Millionär sei. Und dann forderte er 500 Dollar Lösegeld für Jean de Koven? Der Immobilienmakler Raymond Lesobre hatte auch nicht unbedingt ein Vermögen dabei, als er getötet wurde. Joseph Couffy war ein Chauffeur, den Weidmann im September 1937 für eine Fahrt zur Côte d’Azur anheuerte und dessen Auto er stahl, nachdem er ihm von hinten in den Kopf geschossen hatte. Der Mörder kann nicht ernsthaft geglaubt haben, dadurch ein Vermögen zu erbeuten. In Jouffys Brieftasche fand er wenigstens genug Geld, um sich ein paar schöne Tage machen und das Benzin für die Rückfahrt nach Paris bezahlen zu können.

Herrschaft des Verbrechens

Pièges, der Film von Robert Siodmak, nützt als Strukturmittel die Kontaktanzeigen in der Zeitung, die Adrienne ausschneidet, um sie dann abzuarbeiten. Das hat seine Entsprechung in der Affäre Weidmann. Bei der Durchsuchung der Villa Voulzie entdeckte die Polizei eine Sammlung fein säuberlich ausgeschnittener und geordneter Kleinanzeigen. Frauen suchten da einen Beschützer, eine gut gebaute Amazone wollte gern einen Herrn mit Sinn für Originalität in ihren Gemächern begrüßen, aber es gab auch seriöse Stellengesuche von Zimmermädchen, die auf einen Arbeitsplatz hofften (in der Zofen-Episode von Pièges kommt Adrienne den Mädchenhändlern auf die Spur). Wollte Weidmann demnach die Eltern von Zimmermädchen erpressen und so ein reicher Mann werden? Er und seine Komplizen inserierten auch selbst. Nichts davon war geeignet, den Kontakt zu Millionären herzustellen. Ermordet wurde vielmehr eine Frau, die sich als Kinderbetreuerin beworben hatte.

Ging es folglich doch nicht um Geld? Aber worum dann? Um die Lust am Töten? Wie passt die an eine kaltblütige Liquidierung erinnernde Methode dazu, mit der fünf von sechs Opfern ermordet wurden, der Genickschuss? Hatte Weidmann sich in einer Phantasiewelt verloren, in der er Abenteuer erleben wollte wie ein Filmheld? Oder gab es sexuelle Motive? In der Villa wurden etwa 15 Paar Schuhe gefunden, von Männern wie von Frauen. Nicht alle waren einem Besitzer zuzuordnen. Das führte zu Mutmaßungen darüber, dass es a) mehr Opfer gab als bekannt und b) Weidmann ein Fetischist war. Zwei von den ausgeschnittenen Kleinanzeigen waren an Fetischisten adressiert. Die Polizei befragte eine Prostituierte, die eine Weile lang - eher privat - eine sexuelle Beziehung mit dem Mörder unterhalten hatte und aussagte, dass er nie sadistische oder sonst irgendwie perverse Wünsche gehabt habe. Andererseits gab eine Zeugin zu Protokoll, Weidmann habe ihr gegenüber geäußert, dass er für sein Leben gern Frauenunterwäsche berühre. In Pièges deckt der Majordomus einer vornehmen Pariser Familie diesen Aspekt der Affäre ab. Die Szene ist so subversiv, weil sie genauso in einem Bordell spielen könnte wie in einem Domizil der Pariser High Society. Adrienne wurde als Zofe angestellt. Der Majordomus kommt in ihr Schlafzimmer, schenkt ihr ein Negligee und genießt es dann, sich ihren Wünschen zu unterwerfen, weil er außer Fetischist auch Masochist ist.

Pièges

Die vom Gericht zugezogenen Psychiater schrieben Routinegutachten und kamen zu dem Schluss, dass Weidmann ein Mörder und deshalb wohl nicht ganz normal, im Übrigen aber voll schuldfähig sei. Ein weitergehendes Interesse hatten sie nicht an ihm. Von der Verteidigung beigebrachte Gegengutachten waren damals nicht üblich. Experten und Scharlatane meldeten sich trotzdem mit ihren Theorien zu Wort. Der Mörder hatte einen Mutterkomplex (Weidmann hielt seine Mutter für eine Heilige), die streng katholische Erziehung durch seine Großeltern war schuld (Weidmann hatte, durch den Ersten Weltkrieg bedingt, einen Teil seiner Kindheit bei Opa und Oma in Köln verbringen müssen) oder auch die Pflichtvergessenheit der alten Leute, die das Kind sich selber überließen, wenn nicht gerade gebetet wurde. Andere hielten den adretten und kultivierten jungen Mann, der gleichzeitig den idealen Schwiegersohn verkörperte und ein scheinbar gefühlloser Mörder war, für die moderne Variante von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Bei Stevenson ist es so, dass Jekyll den Hyde in sich immer schlechter kontrollieren kann, wenn er ihn erst einmal herausgelassen hat. Dieser Theorie neigte der Untersuchungsrichter zu. Der Mord an Jean de Koven weckte das Monster in Weidmann, das dann nach und nach Besitz von ihm ergriff.

Pièges

Viele Anhänger hatte die These, dass Weidmann ein Agent der Nazis sei, den Hitler geschickt hatte, um durch scheinbar unerklärliche Verbrechen ein Gefühl der allgemeinen Verunsicherung zu erzeugen, wie es Dr. Mabuse bei Fritz Lang empfiehlt, zur Destabilisierung der Gesellschaft. Weidmann wurde so zur Projektionsfläche für alles, was die Franzosen an ihren deutschen Nachbarn unheimlich und bedrohlich fanden. Dabei musste man gar nicht erst über die Grenze schauen. Die Mabuse-Hypothese wirkte auch deshalb glaubhaft, weil kurz vor Weidmanns Verhaftung, nach einem gescheiterten Putschversuch, die Organisation secrète d’action révolutionnaire nationale (OSARN) aufgeflogen war. Die Cagoule, wie sie allgemein genannt wurde (cagoule = Kapuzenmaske), war eine rechtsextreme und antisemitische Terrorgruppe, die überall im Land geheime Waffenlager angelegt, die Armee infiltriert und seit 1935 Anschläge begangen hatte. Das Ziel der Cagoulards war es, den Staat so weit zu destabilisieren, dass die Volksfrontregierung des Sozialisten Léon Blum durch ein faschistisches Regime abgelöst werden konnte. Ihre Verbindungen reichten bis in höchste Kreise, was nie befriedigend aufgeklärt wurde. Einer der Geldgeber war Eugène Schueller, der Erfinder eines synthetischen Haarfärbemittels und Gründer des Kosmetikkonzerns L’Oréal, bei dem einige der als Putschisten gescheiterten Cagoulards unterkamen und dann auch diverse Nazis und Kollaborateure (nachzulesen in Michael Bar-Zohars Buch Bitter Scent: The Case of L’Oreal, Nazis, and the Arab Boycott).

Serienmord mit Bildern

In Frankreich wie in Deutschland hätte man auf eine Mordsache wie die in Sachen Eugen Weidmann bestimmt gern verzichtet. Der Fall war ein Politikum mit Explosionsgefahr. Die Franzosen mussten sich darüber im Klaren sein, dass die unberechenbaren Machthaber in Berlin die Ereignisse argwöhnisch beobachten und sich womöglich zu irgendeiner Reaktion gezwungen sehen würden. Umgekehrt schätzte man in Berlin den propagandistischen Nutzwert der Angelegenheit offenbar als gering bis nicht vorhanden ein. Weidmanns Mutter flüchtete in die Illusion, dass ihr Sohn in eine Falle geraten war und unter der Folter Verbrechen gestanden hatte, die er nicht begangen hatte. Für die Nazis war dieser Serienkiller aus Frankfurt, der mordete, weil er geldgierig war, unter der Trennung von seiner Mutter litt oder beim Anblick von Schuhen in sexuelle Erregung geriet einfach nur peinlich. Sollte er wirklich ihr Agent gewesen sein, konnten sie das schlecht eingestehen. Der Antisemitismus gab auch nichts her, weil Weidmann nach Nazi-Maßstäben ein reinrassiger Arier war. Eine umfangreiche Berichterstattung in den deutschen Medien war unerwünscht. Die gleichgeschaltete Presse hielt sich sehr zurück. In Frankreich war das ganz anders. Dort versuchten investigative Journalisten, die "ganze Wahrheit" ans Licht zu bringen oder wenigstens Material für die Leser elektrisierende Geschichten zu finden.

Medienhistorisch ist der Fall auch deshalb interessant, weil er dem Publikum mehr über Bilder vermittelt wurde als bisher üblich. Pierre Lazareff, der Chefredakteur der Tageszeitung Paris-Soir, hatte vor einiger Zeit beschlossen, es den Amerikanern gleichzutun und die Faits divers, also die letzte, für die vermischten Nachrichten reservierte Seite im Blatt, zu illustrieren. Je spektakulärer die Photos, desto besser. Die France-Soir war damit so erfolgreich, dass andere, ebenfalls zum Imperium des Medienmagnaten Jean Prouvost gehörende Druckerzeugnisse wie die Frauenzeitschrift Marie-Claire, das Konzept übernahmen. Die Konkurrenz folgte sehr schnell nach. Ein paar Jahre vorher hätten die Käufer französischer Zeitungen primär über den Fall gelesen. Jetzt bekamen sie regelmäßig Photos von Weidmann, seinen Komplizen und den Opfern zu sehen.

Lazareff schickte zwei seiner Reporter zur Recherche nach Versailles. Colombani schreibt, dass die beiden am Morgen nach einem vom Untersuchungsrichter angeordneten Ortstermin ohne Probleme die Villa Voulzie betreten konnten, weil sie sehr früh gekommen waren und noch kein Polizist da war. Nicht jeder hatte damals schon verstanden, wie wichtig die Tatortsicherung ist. Den Reportern zufolge waren nicht einmal die Türen abgeschlossen. Nach der amtlichen Durchsuchung war das Haus in großer Unordnung. Auf dem Boden lagen Papiere herum, unter denen die Journalisten mehrere Amateurphotos mit einer unbekannten jungen Frau fanden. Über den Photographen, der die Aufnahmen entwickelt hatte, ließ sich ihre Identität feststellen. Es handelte sich um Janine Keller aus dem Elsass, die seit mehreren Wochen als vermisst gemeldet war und von deren Ermordung Weidmann bis dahin nichts erzählt hatte.

Für diese sensationelle Enthüllung räumte die France-Soir die komplette letzte Seite frei. Über zwei Spalten war ein Photo von Janine Keller abgedruckt - zum Ausschneiden, Herumzeigen und Aufbewahren. Jemand sollte mal untersuchen, ob und wie der Fall Weidmann die Wahrnehmung veränderte, indem er einen neuen Blick auf das Verbrechen freigab und dieses sichtbarer machte als bisher. Weidmann jedenfalls "erinnerte" sich jetzt daran, dass er auch Janine Keller getötet hatte. Die Mutter dreier Kinder hatte sich auf ein Zeitungsinserat gemeldet, in dem eine - nicht existierende - Familie aus Argentinien eine Betreuerin für die behinderte Tochter suchte. Weidmann hatte sich als ein Angestellter der Familie namens Thomas Brown ausgegeben, die Frau mit Hilfe von Million in die Caverne des Brigands gelockt (eine Höhle im Wald von Fontainebleau und ein beliebtes Ausflugsziel) und sie dort durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet. Durch die Ermordung Janine Kellers erbeuteten Weidmann und Million einige hundert Francs, zwei billige Ringe und die Zahlungsanweisung einer Bank über 1200 Francs, die Colette Tricot später einlöste. An der von Weidmann bezeichneten Stelle wurde die im sandigen Boden der Höhle vergrabene Leiche gefunden. Bei einem zweiten, im Sommer 1938 vom Untersuchungsrichter anberaumten Lokaltermin, brach Weidmann, der meistens unbeteiligt und gefühllos wirkte, wenn es um seine Opfer ging, plötzlich in Tränen aus. Er erklärte das damit, dass er an seine Mutter gedacht habe. Oder zumindest schreibt das seine Anwältin in dem Buch, das sie 30 Jahre danach über den Fall veröffentlichte.

Erschütterte Gemüter und Phantome

Der am 10. März 1939 beginnende Prozess war ein Ereignis ersten Ranges. Zeitungen und Zeitschriften nahmen das zum Anlass, die Affäre noch einmal zu rekapitulieren, Weidmann in eine Reihe mit anderen deutschen Serienmördern zu stellen (insbesondere mit Fritz Haarmann, Karl Denke, Carl Großmann und Peter Kürten) und einige grundsätzliche Fragen aufzuwerfen, die sich bei dem Verfahren stellten. "In den Prozessen gegen alle diese Monster verwundert am meisten, dass von den Leuten übereinstimmend versichert wird, die Mörder seien auf den ersten Blick sympathische Menschen gewesen", kommentierte das Fachblatt Détective. "Dasselbe hat man über den Killer Weidmann gesagt, den Mörder von Jean de Koven und anderen - und gerade das ist das Furchtbarste. […] Wo verläuft zwischen dem Verbrecher und den anderen die Grenzlinie von Moral und Menschlichkeit […]? Die schlichte Vorstellung, wonach sich die Menschen aufteilen in ‚Gute’ und ‚Böse’, in ‚Verbrecher’ und ‚anständige Leute’ ist scheinheilig und falsch zugleich. Das beweisen alle diese deutschen Mörder, das beweist vor allem die Affäre Weidmann, die der französischen Justiz und der Polizei zu schaffen macht und überall in der Welt die Gemüter erschüttert."

Besondere Ereignisse erfordern besondere Maßnahmen. Der Verhandlungssaal im Gerichtsgebäude von Versailles hatte das Flair einer alten Scheune. Für den Prozess wurde er renoviert und frisch gestrichen, zusätzliche Stühle wurden aufgestellt und für die aus aller Welt erwarteten Reporter Telefone installiert. Promis waren daran erkennbar, dass sie eine grüne Eintrittskarte erhalten hatten. Einer dieser Ehrengäste war Maurice Chevalier, der großes Interesse an dem Fall bekundet hatte. Für die France-Soir berichtete Colette, die berühmteste Schriftstellerin des Landes. Die Meisterin der sinnlichen Beschreibung fing bald an, sich zu langweilen, weil auch ein Sensationsprozess ziemlich dröge sein kann, wenn der Ausgang schon vorher feststeht und der Angeklagte keinen Anlass sieht, seine Geständnisse zu widerrufen. Colette war deshalb dankbar für das "Phantom", weil es für ein wenig Dramatik sorgte.

Jean-Georges Berry hatte seine Aufgabe als Untersuchungsrichter sehr ernst genommen und bei dem Versuch, die Morde zu verstehen, viel über den täglichen Existenzkampf der Deutschen erfahren, die ihre von den Nationalsozialisten regierte Heimat verlassen hatten. Einige deutsche Exilanten, die er befragt hatte, waren überzeugt, dass die Gestapo Weidmann nach Paris geschickt hatte, um dorthin geflüchtete Regimegegner zu beseitigen oder zu desavouieren. Das passte gut zu Fritz Frommer, dem jüdischen Kommunisten, der demnach liquidiert worden wäre und posthum in den Verdacht geriet, selbst zur Bande zu gehören, weil Weidmann es behauptete. Dem Phantom käme in diesem Szenario die Rolle eines Aufpassers von der Gestapo zu. Weidmann deutete dem Untersuchungsrichter gegenüber an, dass er eine oder mehrere Personen deckte, verwahrte sich aber andererseits dagegen, dass er in fremdem Auftrag gehandelt haben sollte. Beobachter, die trotzdem an der Verschwörungstheorie festhielten, erklärten das so, dass er zwar von der Gestapo rekrutiert worden war, zuletzt aber auf eigene Rechnung gemordet hatte, dass er aus Geltungssucht den "Ruhm" nicht teilen wollte oder in seinem Größenwahn nicht zugeben konnte, ein gedungener Killer zu sein, der auf Anweisung getötet hatte und nicht auf eigenen Entschluss.

Von dem mysteriösen Mann im Hintergrund gibt es unterschiedliche Beschreibungen mit einer Konstante: er war deutlich kleiner als Weidmann und konnte nicht mit diesem verwechselt werden. Konkrete Beweise für seine Existenz wurden nicht erbracht. "[…] kaum noch verhüllt von Dunst", teilte die enttäuschte Colette ihren Lesern mit, "taucht vor uns endlich jener auf, den ich gestern das ‚unbekannte Phantom’ nannte. […] Und dann kommen Moro Giafferi und Planty, der Vorsitzende der Anwaltskammer, stürzen sich auf dieses Phantom und lassen es vor Weidmanns Nase tanzen. Doch der will von der Vorführung eines solchen Komplizen nichts wissen und spricht mit verhaltener Stimme: ‚Nein, nein, ich war es; ich selbst habe Frommer getötet.’ Er beugt sich über den Spiegel, worauf das Bild verschwindet. So zieht sich der geistesabwesende Gefangene auf seinen Größenwahn zurück, in dem all das andere bloß Albernheiten sind. […] Eine kalte Dämmerung bricht über das Ende der Vorstellung herein, die uns so lang vorkommt - wir ertragen das Entsetzliche leichter als die Langeweile." (Mehr von Colette über den Weidmann-Prozess in Band XIII der bei Flammarion erschienenen Œuvres complètes.)

Das rote Heft

Phantom hin oder her: dass die Nazis immer irgendwie mit dabei waren machte sich auf Schritt und Tritt bemerkbar. Im Gefängnis schrieb Weidmann, der nun gern bei Schiller und Goethe nach Stellen suchte, die seine Taten erklären (und ihn auf eine Stufe mit Deutschlands Dichtern und Denkern stellen) konnten, seine Reminiszenzen in ein rotes Schulheft. Das Heft hatte er einer früher in Frankfurt und jetzt in Frankreich lebenden Deutschen zugedacht, die über gemeinsame Bekannte mit seinen Eltern in Verbindung stand, ihn auf deren Bitten im Gefängnis besuchte und das Heft an die Eltern weiterleiten sollte. Dann war es verschwunden. In Verdacht geriet Weidmanns Verteidigerin Renée Jardin, die bestritt, die Aufzeichnungen an sich genommen zu haben. Für die Eltern war das Verschwinden der "Autobiographie" eine ständige Quelle der Angst. Sie fürchteten, dass der Text - vielleicht bearbeitet durch Renée Jardin - für Deutschland und das NS-Regime unvorteilhafte Stellen enthalten und veröffentlicht werden könnte. In dem Fall mussten sie mit schlimmen Konsequenzen rechnen.

Das rote Heft blieb verschwunden. Als die Wehrmacht 1940 in Frankreich einmarschierte, kamen Gestapoleute in das Gerichtsgebäude von Versailles und nahmen die dort archivierten Weidmann-Akten mit. Die Kanzleien und Privaträume der beteiligten Anwälte wurden auf den Kopf gestellt. Das gab den Gerüchten neue Nahrung, dass Weidmann als Auftragskiller der Nazis in Frankreich eingeschleust worden war. Jetzt sollten - wenn man an die Verschwörung mit Phantom glaubt - die Beweise vernichtet werden. Es hätte aber auch so Grund genug gegeben, die Akten über einen Serienkiller mitzunehmen, der peinlicherweise zur deutschen "Herrenrasse" gehörte und vor der Mordserie in Deutschland aus der Haft entlassen worden war. Renée Jardin setzte im besetzten Frankreich ihre Karriere als Juristin fort. Nach der Befreiung wurde sie wegen Kollaboration zum Tode verurteilt, dies allerdings in Abwesenheit, weil es ihr gelang, sich über Spanien in die USA abzusetzen. Dort heiratete sie den aus Holland stammenden, in Stanford lehrenden Hans Birnie, gab Literaturkurse und schrieb Gedichte.

Mehr darüber erfährt man in ihrem 1965 erschienenen Memoirenband Les Pas du proscrit. Dort teilt sie auch mit, dass die Affäre Weidmann der Höhepunkt ihres Lebens gewesen sei. 1968 veröffentlichte sie ein Buch über ihren Mandanten (und sich selbst), mit Auszügen aus dem roten Heft. Die Dame hatte offenbar nicht gelogen, als sie bestritt, das Manuskript an sich genommen zu haben, aber auch nicht ganz die Wahrheit gesagt. Ihre Ausführungen zu dem ominösen Schulheft bleiben etwas nebulös. In Jardins Buch ist ein Faksimile der ersten Seite einer mit Maschine getippten Abschrift des roten Hefts enthalten, deren Authentizität Weidmann per Fingerabdruck bestätigt (falls das tatsächlich seine Fingerabdrücke sind). Sensationelle Neuigkeiten sind in Le Cahier rouge d’Eugène Weidmann nicht enthalten. Falls Weidmann tatsächlich ein Agent Himmlers war behielt er es für sich. Oder Madame Jardin Birnie hat beschlossen, es uns nicht mitzuteilen.

Die Verteidigerin bittet zum Gebet

Robert Planty, dem Chef der Anwaltskammer von Versailles, war die Aufgabe zugefallen, aus einer Schar von Bewerbern (der Fall war äußerst prestigeträchtig) einige Pflichtverteidiger auszuwählen. Maître Planty hatte zunächst einmal sich selbst nominiert. Der Korse Vincent de Moro-Giafferi, vielleicht der berühmteste Strafverteidiger Frankreichs und weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt, war erst spät zum Verteidigerteam gestoßen und dies wohl auf Initiative von Weidmanns Eltern. 1921 hatte er bereits den als "Blaubart" in die Kriminalgeschichte eingegangen Frauenmörder Henri Landru verteidigt, in dessen alter Zelle jetzt Eugen Weidmann saß. Moro-Giafferi war Sozialist, ein entschiedener Gegner des Faschismus und Nationalsozialismus, und er vertrat häufig die in Frankreich gegründete Internationale Liga gegen Antisemitismus. Seine Verteidigungsstrategie ruhte auf zwei Säulen. Kurz gesagt: Weidmann war ein geistig abnormer Straftäter und das Opfer einer von Gewalt und Terror dominierten Gesellschaft, die ihn erst zu dem gemacht hatte, was er war. Seiner Meinung nach gehörte das Dritte Reich mit auf die Anklagebank. Die Todesstrafe lehnte er mit der Begründung ab, dass sie nur den Verbrecher töte, nicht aber das Verbrechen.

Moro-Giafferi mühte sich redlich, die Sozialisation seines Mandanten in einer Gesellschaft nachzuzeichnen, die erst von einem Krieg und dann von Revolution und Gegenrevolution erschüttert worden sei und jetzt von einem "gestiefelten Klugscheißer" regiert werde, der schon wieder den Krieg verherrliche und über eine Natur schwadroniere, die - Hitler zufolge - nur eine Gerechtigkeit kannte: die Macht. Weidmann vor der Guillotine retten konnte Moro-Giafferi dadurch nicht. Das lag daran, dass es keinen Zweifel an der Schuld des geständigen, vielen als Nazimonster geltenden Angeklagten gab, dass der Mann im Hintergrund ein Phantom blieb, dass die eher bodenständigen Geschworenen nicht einsahen, warum sie ein System schuldig sprechen sollten, wenn vor ihnen ein Mörder aus Fleisch und Blut saß und dass Weidmann nur widerwillig oder gar nicht mit seinen Anwälten kooperierte. Am liebsten hätte er ganz auf eine Verteidigung verzichtet, was die Prozessordnung aber nicht erlaubte. Das meiste Vertrauen hatte er zu Renée Jardin, der einzigen Frau im Team. Vom weiblichen Geschlecht fühlte er sich besser verstanden als vom männlichen.

Maître Jardin gruselte sich beim Gedanken an Weidmanns Verbrechen, zugleich war sie fasziniert von dem Mann, der so charmant plaudern konnte, Goethe und Schiller als seine Lieblingsautoren nannte und lange Passagen aus deren Werken aufsagen konnte, wodurch er nicht nur bei ihr den Eindruck erweckte, ein gebildeter und empfindsamer Mensch zu sein. Diese Facette seines Wesens, ob echt oder einstudiert, beschäftigte auch die Journalisten, die über den Fall berichteten. Eugen oder Eugène Weidmann, wie man ihn in Frankreich nannte, entsprach so gar nicht dem Bild, das man sich von einem brutalen Massenmörder machte. Die 40-jährige Renée Jardin wusste wohl selbst nicht so genau, ob sie sich in Weidmann verliebt, ob er den Mutterinstinkt oder etwas anderes in ihr wachgerufen hatte. Jedenfalls fühlte sie sich als eine Art Therapeutin ihres Mandanten, mit dem sie gemeinsam betete, und sie hielt sich zugute, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass er den Weg zurück zu Gott gefunden hatte. Ihren Kollegen ging die feingeistige Dame, die schon einige Gedichtbände veröffentlicht hatte, auf die Nerven. Da war bestimmt auch etwas männlicher Chauvinismus mit dabei. Die Beauftragte der Eltern warf Maître Jardin vor, ihren Mandanten nicht verteidigt, sondern ihn durch Religionskitsch und Gefühlsduselei so kirre gemacht zu haben, dass er sich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen ließ, statt um sein Leben zu kämpfen. Was immer der Grund war: Weidmann wirkte auf viele Beobachter wie ein Angeklagter, der nur in den Gerichtssaal kam, um verurteilt zu werden.

Schwache Mädchen und starke Frauen

Die französische Justiz war sehr um ein rechtsstaatlich einwandfreies Verfahren bemüht, aber endlos hinziehen sollte es sich nicht. Der Prozess dauerte drei Wochen, und mehr durften es auch nicht sein, weil in Versailles 14 Tage später der Staatspräsident gewählt wurde, was nicht im Schatten eines Sensationsprozesses gegen einen Serienmörder vonstatten gehen sollte. Colette Tricot, ob "Ratgeberin" der Bande oder nicht, wurde am Ende freigesprochen. Ihr früherer Liebhaber, Jean Blanc, erhielt mildernde Umstände und 20 Monate Gefängnis. Eugen Weidmann und Roger Million wurden beide zum Tode verurteilt (und die Strafe für Million später in lebenslange Haft umgewandelt). Das war am 31. März 1939. Hingerichtet wurde Weidmann am 17. Juni. Dazwischen, im April und Mai 1939, drehte Siodmak den Film Pièges, der mit dem Verschwinden einer jungen Frau beginnt, die mit Tanzen ihr Geld verdient (man darf da an Jean de Koven denken), Elemente des Kriminalfalls auf interessante Weise kombiniert und den deutschen Goetheleser durch Maurice Chevalier ersetzt, den französischen Bonvivant schlechthin. Auch wenn sich der zum Tode Verurteilte am Schluss als unschuldig erweist: Das war schon richtig frech.

Von Chevalier ist der Spruch überliefert, dass es ihm bei einem Film ganz egal sei, wer als seine Partnerin engagiert werde, weil er sowieso die Hauptrolle spiele, und nur das sei wichtig. Siodmak machte sich die Hybris seines Stars zunutze und besetzte die fast unbekannte Marie Déa, die er zwar nicht auf der Straße für das Kino entdeckte wie gern behauptet (sie hatte zuvor in zwei Filmen mitgewirkt), die aber genau das mitbrachte, was die Rolle der Adrienne Charpentier erforderte: eine Mischung aus robustem Selbstbewusstsein und einer zwischen Fragilität und Steifheit changierenden Unsicherheit, hervorgerufen durch ihre geringe Kameraerfahrung. Adrienne ist die Blaupause für Carol Richman in Phantom Lady. Chevalier müsste irgendwann gemerkt haben, wer in Pièges tatsächlich die Hauptrolle spielt. Als Robert Fleury hat er zwar mehr zu tun als Alan Curtis, der Darsteller des unschuldig Verurteilten in Phantom Lady, aber den Film trägt Marie Déa.

Das ist umso bemerkenswerter wenn man bedenkt, dass Pièges einen Kriminalfall verarbeitet, in dem sich wie üblich alles auf den (natürlich männlichen) Täter konzentrierte und den Frauen die Nebenrollen zugewiesen wurden, als Opfer oder als frömmelnde Anwältin. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerieten sie nur durch die Entdeckung ihres Abbilds (die Photos von Janine Keller) oder durch ihr Verschwinden (Jean de Koven bis zum Auffinden ihrer Leiche). Wenn man den Prozess gegen Weidmann und Komplizen als eine Vorstellung vor Publikum betrachtet wie die Schriftstellerin Colette, die frühere Varietékünstlerin und Pantomimin, ist der Auftritt von Colette Tricot (ein Name wie aus einer Boulevardkomödie) symptomatisch. Anfangs noch als "Ratgeberin" gehandelt, schrumpfte ihre Rolle bald so sehr, dass beim Prozess nicht viel mehr übrig war als die eventuelle Mitwisserin und die Geliebte von Million, die mit Hilfe der von Jean de Koven erbeuteten Reiseschecks zu ein paar modischen Accessoires (eine Handtasche usw.) gekommen war.

Am letzten Tag des Prozesses schickte der Richter Colette Tricot mit dem Freispruch gleichsam von der Bühne, nachdem die Geschworenen darauf erkannt hatten, dass ihre Rolle im zu verhandelnden Drama für eine Verurteilung nicht wichtig genug war. Draußen vor dem Gerichtsgebäude wartete schon ihr Gatte, den sie einst für Blanc und dann für Million verlassen hatte, weil sie etwas erleben und aus dem kleinbürgerlichen Milieu ausbrechen wollte. Colette hatte sich Tagträumen hingegeben, in denen sie von Tyrone Power begehrt wurde oder die Geliebte von Nelson Rockefeller war. Monsieur Tricot, als Maschinenschlosser in einer Fabrik angestellt, war bereit, sie gnädig wieder aufzunehmen. Besser hätte man das nicht erfinden können. Seinen zentralen Platz im Spektakel behauptete Eugen Weidmann, der Ladykiller (in des Wortes doppelter Bedeutung). Er blieb der Hauptdarsteller und hatte nun noch seinen letzten Gang anzutreten, den das Publikum gespannt erwartete: den zur Guillotine.

Pièges

In Pièges spiegelt sich die von der Wirklichkeit gelieferte Vorlage in Form einer Handlung wieder, in der die Frauen erneut die Opfer, die Objekte und die Nebendarstellerinnen sind. Sie werden von Voyeuren und Fetischisten begafft, von Mädchenhändlern verschleppt und von einem Serienmörder umgebracht, oder sie sind Gespielinnen des Bonvivants. Wenn sie eine Erwerbstätigkeit ausüben und also Geld verdienen dürfen, um finanziell unabhängig zu sein, sehen wir sie als von Männern bezahlte Tanzpartnerin, als Zimmermädchen und als Anziehpuppe eines verrückten Modeschöpfers. Siodmak setzt dem eine junge, mutige und hellwache Heldin entgegen, ohne die der nominelle Hauptdarsteller am Ende der Handlung eine Leiche wäre. Statt die schwache, von einem starken Mann gerettete Mademoiselle zu spielen wird Marie Déa im Verlauf der Geschichte zur Detektivin, übernimmt also die Rolle, die traditionell der Held für sich beansprucht. Dafür muss man Siodmak ganz einfach mögen.

Der Beginn der Vorstellung verzögert sich

Adrienne, die mit Kommissar Tenier zusammenarbeitet, um den Mörder zu finden, hat ursprünglich bei einer Zeitung gearbeitet. In der Besetzungsliste taucht sie als la journaliste auf. Für diese Figurenkonstellation gibt es ein allseits bekanntes Vorbild: Fandor und Inspektor Juve, die Gegenspieler von Fantômas - nur dass eben bei Siodmak der Reporter eine Reporterin ist, was heute nicht mehr überraschend wirkt, es 1939 aber sehr wohl war (Hélène, die Freundin und Kollegin von Fandor in den Filmen mit Jean Marais und Louis de Funès, ist eine Zugabe der 1960er). Fantômas, der erste Band der Romanserie um den von Pierre Souvestre und Marcel Allain erdachten Superverbrecher, sollte voller Sensationen sein und den Leser beim Zuklappen des Buchs mit dem beunruhigenden Gefühl zurücklassen, dass gleich hinter der Ecke der fiktionalen Welt schon die Wirklichkeit auf ihn warten könnte. Also gibt es am Schluss eine Hinrichtung mit echtem Personal. Unter dem Gejohle der Menge kommt ein Pferdewagen angefahren, Gegenstände werden abgeladen, dann bauen Anatole Deibler und seine Assistenten ebenso routiniert wie sorgfältig - es handelt sich um ein Präzisionsexperiment - die Guillotine zusammen und richten sie in die Höhe. Inspektor Juve erklärt Fandor, von wo aus man am besten sehen kann, wie der Kopf vom Körper getrennt wird, und nach einer geglückten Generalprobe kann das eigentliche Schauspiel beginnen, nur dass dann der Falsche enthauptet wird, weil Fantômas von der Rolle des Hauptdarstellers in die des Regisseurs geschlüpft ist.

Anatole Deibler gab es wirklich, und er war - obwohl kamerascheu - berühmt. Sein Vater Louis war auch schon exécuteur en chef gewesen (der für ganz Frankreich zuständige Scharfrichter), und sein Großvater mütterlicherseits hatte das Amt in Algerien ausgeübt, wo die kolonisierten Araber miterleben durften, wie man Leuten zivilisiert den Kopf abschlägt (die von anderen Häftlingen beobachtete Enthauptung eines Gefangenen in Schlacht um Algier, Gillo Pontecorvos Film über den Algerienkrieg, ist eine Schlüsselszene: als Moment der Radikalisierung). Anatole assistierte erst seinem Opa in Algerien und dann seinem Vater. Nach dessen Rücktritt reiste er 40 Jahre lang als Chefhenker mit der Guillotine durch Frankreich und enthauptete (vermutlich) 299 Menschen. Am 2. Februar 1939 war er auf dem Weg zur Arbeit, als er in der Métro einen Herzinfarkt erlitt und wenig später starb. Monsieur Deibler, schrieb der Kriminalreporter Réné J. Piguet bedauernd in der Zeitschrift Détective, würde nun also fehlen, wenn Eugen Weidmann den Kopf verlor; sein Werkzeug habe er zum Glück dagelassen. Ein Henker, der nach einem von Promis gestürmten Mordprozess die Hinrichtung durchführt und selbst ein Promi ist: das hätte auch deshalb so gut gepasst, weil Deibler 1922 an selber Stelle den im selben Verhandlungssaal (und mit demselben Verteidiger) verurteilten Serienmörder Henri Désiré Landru ("Blaubart") enthauptet hatte, in dessen ehemaliger Zelle im Gefängnis Saint-Pierre (Nummer 3) jetzt Weidmann saß. Wenigstens Maître Mouthiers war mit dabei. Er hatte schon im Verfahren gegen Landru die Eintrittskarten kontrolliert und machte das jetzt wieder.

Deibler hat es in Fantômas recht eilig und nur Zeit für einen kurzen Handschlag mit Inspektor Juve (der echte Henker begrüßt den fiktiven Polizisten), weil er sich verspätet hat. Sein Nachfolger Jules-Henri Desfourneaux war in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1939 pünktlich zur Stelle. Dennoch verzögerte sich die Hinrichtung. Auf dem Trottoir neben dem Gefängnis Saint-Pierre in Versailles wurde Weidmanns Kopf um 4 Uhr 32 vom Körper getrennt und nicht um 3 Uhr 50 wie vom Richter angeordnet. Dafür gibt es die unterschiedlichsten Erklärungen. Der Richter hatte die Sommer- mit der Winterzeit verwechselt. Die zahlreich nach Versailles gereisten Schaulustigen benahmen sich so ungebührlich, dass die Polizei erst für Ordnung sorgen musste. In der Weidmann-Nummer der Zeitschrift Murder Casebook und anderswo wird Desfourneaux vorgeworfen, dass er erst ewig brauchte, um die Guillotine aufzubauen und dann um ein Haar die Hinrichtung vermasselt hätte, weil nicht alle Teile korrekt montiert waren. Das könnte die Spätfolge von nach Deiblers Tod geäußerten Zweifeln sein, ob Desfourneaux (er hatte ein Alkoholproblem) den legendären Henker mit der 40-jährigen Amtszeit adäquat ersetzen könne.

Der von Colombani erzählten Version nach war es so, dass Desfourneaux mit der Begründung darauf bestand, länger als bis 3 Uhr 50 zu warten, weil er bei Dunkelheit nicht präzise arbeiten könne und auch die Leichenträger erst für 4 Uhr 30 bestellt habe. Daran stimmt zumindest, dass zum reibungslosen Ablauf der Veranstaltung der zügige Abtransport von Kopf und Rumpf des Delinquenten gehörte, weil es sonst zu unschönen Szenen kommen konnte. Desfourneaux müsste aber eigentlich in der Lage gewesen sein, seinen Beruf im Schein der Laternen auszuüben, weil es üblich war, vor Sonnenaufgang hinzurichten und nicht beim ersten Tageslicht wie in vielen Filmen. Später geriet er in Verdacht, von den Pressephotographen dafür bezahlt worden zu sein, dass er die Hinrichtung bis zur Morgendämmerung verzögerte. Mehr Tageslicht bedeutete schärfere Bilder vom Ereignis. Einer der Photographen war Paul Renaudon von der France-Soir. Er hatte sich im obersten Stockwerk eines neben dem Gefängnis liegenden Hotels ein Zimmer mit Balkon genommen. In Frankreich war es seit 1909 gesetzlich verboten, Hinrichtungen zu photographieren oder zu filmen (was dann zu einer Ausdehnung des Verbots auf andere Bereiche und zu einer institutionalisierten Filmzensur führte). Wie strikt das durchgesetzt wurde ist eine andere Frage. Mindestens einer von Renaudons Kollegen muss unten auf der Straße gestanden haben, mit unverstellter Sicht auf die Guillotine. Die dort stationierten Polizisten sollten ihn eigentlich bemerkt haben. Auch zwei Filmdokumente gibt es von der Enthauptung.

Der Photograph kann kein Blut sehen

Als verbürgt darf gelten, dass Desfourneaux und seine Assistenten längere Zeit damit beschäftigt waren, den Boden auszugleichen, weil der Gehsteig neben der Pforte in der Gefängnismauer leicht abschüssig war. Die Guillotine musste ganz waagrecht stehen, um den Kopf "sauber" (also komplett) vom Rumpf zu trennen. Renée Jardin berichtet, dass sie Zeugin davon wurde, wie der Henker die Funktionstüchtigkeit der Köpfmaschine überprüfte, ehe sie zu Weidmanns Zelle ging. Offenbar lief alles wie geschmiert (das Wort ist nicht frivol, die Schienen für das Fallbeil mussten gut geölt sein). Der Guillotinen-Homepage Bois de Justice zufolge verklemmte sich bei der Hinrichtung wegen der unsachgerechten Montage das Brett, als es von der Vertikalen in die Horizontale gekippt werden sollte, und die beiden Henkersgehilfen Georges Martin und Henri Sabin mussten Weidmann nach vorne hieven, bis Körper und Brett in Position waren. Das wird dann wohl so stimmen. Oder es war doch so wie im Tatsachenroman von Roger Colombani, wo Weidmann sich im letzten Moment gegen den Tod auflehnt, was ihm aber nichts mehr nützt.

Martin und Sabin waren "Assistenten zweiter Klasse". André Obrecht, der Neffe und Ziehsohn von Anatole Deibler, war nach dessen Tod zum Assistenten erster Klasse befördert worden (und würde Desfourneaux 1951 auf dem Chefposten nachfolgen). Das Murder Casebook wirft Desfourneaux vor, die Enthauptung so vermurkst zu haben, dass Obrecht Weidmann an Haaren und Ohren ziehen musste, um seinen Kopf unter dem Fallbeil in die richtige Position zu bringen. Das ist ungerecht. Der erste Assistent machte das immer so, auch bei Deibler. Es gehörte zu seinen Aufgaben, den Kopf auf die richtige Seite des unteren Halsstücks (funette genannt) zu bringen, bevor das Gegenstück, die obere Funette, nach unten geschoben wurde und der Verurteilte den Kopf nicht mehr befreien konnte. Üblicherweise zog der Assistent dabei an den Haaren oder an den Ohren. Obrecht dürfte sich schon deshalb für die Ohren entschieden haben, weil Weidmann das Haar sehr kurz trug.

Töten, auch wenn es im Staatsauftrag geschieht, ist eine schmutzige Angelegenheit. Obrecht wurde dafür kritisiert, dass er vor dem Niedergehen des Fallbeils ein paar Schritte zurücktrat, statt auf seinem Posten bei der Guillotine auszuharren, am Kopfende des Delinquenten. Offenbar verstieß das gegen die Berufsehre der Henker, oder gegen das in Hunderten von Hinrichtungen eingeübte Ritual. Wahrscheinlich trat er etwas zurück, um nicht mit Blut bespritzt zu werden. Wer wollte ihm das verdenken? Für Desfourneaux war es die fünfte Enthauptung, bei der er verantwortlich war (zwei in Vertretung des verstorbenen Deibler, jetzt die dritte als offiziell bestätigter exécuteur en chef), für Obrecht vermutlich die fünfte als erster Assistent; davor, als zweiter Assistent, hatte er hinter der Lunette gestanden, wo es weniger blutig war.

Ab und an kann man lesen, dass es einer von den Henkersgehilfen gewesen sei, der die Hinrichtungsphotos in Augenhöhe machte. Das ist ein Missverständnis. Obrecht machte keine Schnappschüsse vom Kopfabschlagen und war trotzdem "der Photograph". So nannte man den ersten Assistenten, weil er der Letzte war, der das Gesicht des Verurteilten sah, bevor dieser getötet wurde. Die Bezeichnung hat damit zu tun, dass die Photographie lange Zeit als ein unheimliches, an der Grenze zwischen Leben und Tod angesiedeltes Medium verstanden wurde - so wie dann auch der Film in den Anfangsjahren der Kinematographie, was wir weitgehend verdrängt oder vergessen haben. Nur gelegentlich kann man merken, dass das mulmige Gefühl von früher noch vorhanden ist. Wahrscheinlich verdankt der "Photograph" seinen Beinamen der eine Weile lang sehr beliebten Theorie, dass sich die letzten starken Eindrücke vor dem Tod als Erinnerungsbild in die Netzhaut einbrennen. In The Clansman (1905), der Romanvorlage für The Birth of a Nation, entdeckt Doktor Cameron mit Hilfe eines Mikroskops auf der Netzhaut einer toten, vor ihrem Suizid vergewaltigten Weißen das Abbild eines schwarzen Monsters (man sieht nur, was man weiß, sagt Goethe). Das ist eine Art Photo des Vergewaltigers und reicht als Beweis aus, um den Mann zu hängen. Da es bei Enthauptungen in erster Linie um das Seherlebnis ging, und um die Wirkung auf den Zuschauer, ist es nur konsequent, wenn der Assistent im Augenblick des Todes ein "Photo" vom Kopf des Delinquenten macht, mit der Netzhaut als Speichermedium. (Falls das auch für den Chefhenker gilt und die Speicherkapazität groß genug ist, hätte Doktor Cameron - in einem Roman zumindest - nach Anatole Deiblers Tod die hier zu besichtigenden Bilder der Enthaupteten von seiner Netzhaut abnehmen können.)

Hinrichtungsparty in Versailles

Handwerkliche Fehler oder nicht: Desfourneaux und seine Auftraggeber durften mit dem Resultat zufrieden sein. Der Maßstab für den Erfolg einer Hinrichtung war die Geschwindigkeit. Schnelligkeit galt als ein Zeichen von Humanität. Man war schließlich nicht bei den Barbaren (zeitgenössischen Berichten nach wurde in den Kolonien nicht ganz so flott und präzise geköpft, und man sparte am Personal). Vom Erscheinen Weidmanns in der Gefängnispforte bis zur Enthauptung vergingen weniger als 20 Sekunden. Viel schneller hätte Deibler das auch nicht hingekriegt. Interessanterweise ist bei dieser Bewertung die Schnelligkeit mit Publikum und Sichtbarkeit gekoppelt, und nicht mit der Erfahrungswirklichkeit des Verurteilten, der möglichst wenig leiden soll, wie es dann immer heißt. Für Weidmann war der Weg in den Tod aber viel länger als der von der Gefängnispforte bis zum Fallbeil. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Rechnet man von dem Datum an, an dem ihm klar geworden sein muss, dass er den Kopf verlieren würde, also eventuell vom Tag seiner Verhaftung an? Von dem Tag an, an dem das Urteil gesprochen wurde? Nimmt man die Zeitspanne zwischen der Enthauptung und dem Moment, in dem ihm eröffnet wurde, dass der Staatspräsident sein Gnadengesuch abgelehnt hatte? Da ist es doch viel einfacher, man orientiert sich am Zuschauer. Weniger als 20 Sekunden von der Tür in der Gefängnismauer bis zum Tod. Das ist das Maß. Eine Heuchelei ist es aber ebenfalls.

Man könnte auch von dem Moment an rechnen, in dem Weidmann in der Todeszelle den Trubel draußen vor dem Gefängnis hörte. Schätzungen nach sollen am Abend davor zwischen 10.000 und 40.000 Schaulustige nach Versailles gefahren sein, die dort die Nacht zum Tag machten. Die Bistros hatten rund um die Uhr geöffnet, was auch bedeutet, dass viele Besoffene dabei waren (oder wenigstens irgendwo in den umliegenden Straßen grölten), als zwei Minuten nach halb fünf das Fallbeil niederging. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung marschierte Militär auf. Ein Hotelier machte das Geschäft seines Lebens, weil er Zimmer mit Aussicht vermieten konnte. Im Stockwerk unter Renaudon, dem Photographen von der France-Soir, fand eine Hinrichtungsparty statt, deren Teilnehmer sich das Ziel gesetzt hatten, in dem Moment, in dem Weidmanns Kopf fiel, die Champagnerkorken knallen zu lassen.

Un long dimanche de fiançailles

Als Jean-Pierre Jeunet die Hinrichtung von Tina Lombardi (Marion Cotillard) in Un long dimanche de fiançailles (Mathilde - Eine große Liebe) drehte, orientierte er sich an den Filmen und Photos von der Enthauptung Eugen Weidmanns. Im Audiokommentar der DVD zeigt er sich stolz darauf, wie gut die Umsetzung gelungen sei. So, kann (und soll) man sich denken, sah das also aus, wenn jemand mit dem Fallbeil getötet wurde. Das stimmt, denn die Enthauptung ist der echten, auf Film festgehaltenen ziemlich genau nachgestellt, und doch ist es nur die halbe Wahrheit. Das kurze Stück Schwarzweißfilm in Mathilde ist ein seltsamer Hybrid. Vorlage war der heimlich aufgenommene Streifen eines Amateurfilmers von 1939, den man - der schlechten Qualität wegen - für dokumentarisches Material aus der Stummfilmzeit halten könnte und der bei Jeunet, künstlich gealtert, als Aufnahme aus eben jener Stummfilmzeit (einige Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs) wieder auftaucht. In diesem Stück "Stummfilm" stellt der oft für die Genauigkeit im Detail gelobte Jeunet etwas nach, das es so erst nach der Enthauptung von Eugen Weidmann gab, obwohl ihm dessen Hinrichtung als Vorbild diente.

Bei Jeunet ist die Exekution von Tina Lombardi eine zwar gruselige, aber sehr geordnete Veranstaltung. Der Scharfrichter und seine Gehilfen gehen schnell und routiniert ihrer Arbeit nach, Tina verliert den Kopf, Männer in Uniform, würdige Offizielle in schwarzen Anzügen und vielleicht noch ein paar Angehörige der Täterin und ihrer Opfer sehen dabei zu. Man muss aber den Eindruck haben, dass das Ganze im Hof eines Gefängnisses stattfindet, geschützt vor den Blicken einer neugierigen Öffentlichkeit. Das ist eine nicht unbedeutende Abweichung von der Wirklichkeit der frühen 1920er. Jeunet hat die Enthauptung vom Trottoir neben dem Gefängnis auf die andere Seite der Mauer verlegt und damit etwas vorweggenommen, das es erst nach dem Tag gab, an dem Eugen Weidmann starb. Bis dahin waren Hinrichtungen in Frankreich öffentlich, was nicht heißt, dass jeder Schaulustige einen Blick auf den makabren Höhepunkt der Vorstellung erhaschen konnte.

In Versailles hatte die Polizei Absperrgitter aufgestellt, hinter denen sich schon Stunden vor der Hinrichtung die Menge drängte. In den Bereich innerhalb der Absperrungen kam nur, wer eine Eintrittskarte hatte. Das waren Parlamentsabgeordnete, Kulturschaffende, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Leute mit Beziehungen. Colombani schreibt in Die Affäre Weidmann, dass Paul Renaudon genug Zeit hatte, sie von seinem Hotelfenster aus durchzuzählen: rund 170 Promis sollen es gewesen sein, die sich im Laufe der Nacht versammelten und darauf warteten, dass Weidmann aus der Pforte des Gefängnisses Saint Pierre trat, hinter dessen Mauern sich Strafverfolger und Verteidiger - falls sie es nicht schon früher erledigt hatten wie Maître Jardin - noch rasch ein Photo signieren ließen, denn schließlich war der Delinquent ein berühmter Mann. Als André Obrecht Weidmanns Kopf an den Ohren über die untere Funette zog hatte die High Society einen Halbkreis um die Guillotine gebildet, in einem Sicherheitsabstand von etwa zwanzig Metern (das spritzende Blut).

Ein Bild davon, obwohl gesetzwidrig entstanden (Renaudon hatte es vom Balkon seines Hotelzimmers aus geschossen), wurde von den in die Kritik geratenen Behörden als Beleg für die Würde der Veranstaltung ins Feld geführt. Bis Jeunet das Photo als Vorlage für seinen Film auswählte hätte ich gesagt, dass der Versuch missglückt ist. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. "Haupt- und Nebenhandlungen sind präzise bis ins Detail ausgearbeitet", rühmte der Kulturkanal ARTE, als Mathilde im Rahmen eines Themenschwerpunkts zum Ersten Weltkrieg ausgestrahlt wurde. Das mag so sein. Es kommt aber darauf an, wie man die Details verwendet und in welchem Kontext man sie zeigt. Problematisch wird es, wenn man den - artifiziellen und mit modernster Technik hergestellten - Detailreichtum mit Authentizität verwechselt. Jeunet hat den Schauplatz verlagert und durch die Entscheidung für eine Hinrichtung als Stummfilm das Gejohle entfernt, das durch Versailles hallte, als Weidmann der Kopf abgeschlagen wurde. So verfälscht man die Erinnerung.

Graf Dracula und die Weidmann-Girls

Ob Maurice Chevalier, der im Monat davor die letzte Einstellung für Pièges gedreht hatte, einer von den 170 Promis war, konnte ich nicht zweifelsfrei in Erfahrung bringen. Vielleicht hatte er kein Interesse mehr an der Affäre Weidmann, weil er inzwischen den Rohschnitt des Films gesehen und begriffen hatte, dass er neben Marie Déa nur die zweite Geige spielte. Oder er fand es doch zu gruselig, so kurz, nachdem er als Filmheld in letzter Minute der Guillotine entkommen war, an einer Enthauptung teilzunehmen. Bei der Gefängnispforte wäre Chevalier in mehrfacher Hinsicht mit dem - fiktiven und sehr realen - Tod konfrontiert worden. Der von ihm verkörperte Theaterproduzent Robert Fleury, dem der wahre Mörder belastendes Material und ein paar im Garten vergrabene Leichen unterjubelt, ist eine idealisierte, mit beruflichem Erfolg und Star-Appeal versehene Version von Roger LeBlond, Weidmann-Opfer Nummer 4 (falls die Liste vollständig ist). LeBlond hatte ein wenig Berufserfahrung in der Schlagerbranche gesammelt, wollte sich selbständig machen und suchte Investoren für seinen Einstieg ins Showgeschäft. Er starb in La Voulzie. Seine Leiche wurde mit zwei Genickschüssen gefunden. Eine Kugel war durch das rechte, die andere durch das linke Auge wieder ausgetreten. Million hatte die Nerven verloren und nicht genau genug gezielt, der kaltblütigere Weidmann hatte dem schwer Verletzten den Gnadenschuss gegeben. Es waren auch Entdeckungen wie diese, die Mutmaßungen über Weidmanns Agententätigkeit für die Gestapo glaubhaft erscheinen ließen.

Der amerikanische Korrespondent Webb Miller erzählte denn auch etwas von politischen Agitatoren, als er einem damals 17-jährigen Briten vorschlug, ihn zu einem Ereignis zu begleiten, bei dem etwas über das Leben und den Tod zu lernen sei. Für seine Reportage über die Enthauptung des Serienmörders Landru war Miller 1922 für den Pulitzerpreis nominiert worden. Der junge Brite, der sich zufällig in Paris aufhielt, würde knapp zwanzig Jahre später den von Peter Cushing alias Victor Frankenstein mit neuem Hirn und neuen Händen ausgestatteten und dann wiederbelebten Gehängten spielen und als Graf Dracula weltberühmt werden. Er hieß Christopher Lee. In seiner Autobiographie Lord of Misrule (siehe das Kapitel "Short Sharp Shock") berichtet er davon, wie er sich auf der nächtlichen Fahrt nach Versailles über die vielen Leute gewundert habe, die dort zusammenströmten - bis er dann die bereits aufgebaute Guillotine sah. "Ich versuche nicht, Ihnen Angst einzujagen", habe Miller dazu gesagt. "Aber ich rate Ihnen, mit dabei zu bleiben. Sie werden das Verhalten der Leute nie vergessen. Wie gern die Leute Blut sehen wollen. Wie grausam sie sein können!"

Gut möglich, dass Lee, als Begleiter eines bekannten amerikanischen Journalisten, tatsächlich einen Platz bekam, von dem aus man gut sehen konnte, was da vor sich ging. Jedenfalls schildert er, wie Weidmann aus der Gefängnispforte geführt, eilig zur Guillotine gedrängt und dort auf das Brett geworfen wurde, damit der "Photograph" seinen Kopf in Position bringen konnte: "In diesem Moment fiel das Beil, und ich dachte, dass ich selbst sterben würde." An diesem Morgen in Versailles erfuhr Lee, wie dicht unter dem Firnis der Zivilisation manchmal das Atavistische lauert. Das blutige Schauspiel verfolge ihn bis heute, schrieb er 2004 in einem Leserbrief an den Telegraph.

Nach der Enthauptung wurden die Absperrungen aufgehoben. Hysterisierte "Weidmann-Girls" liefen zur Guillotine, um ihre Taschentücher in das Blut des Geköpften zu tauchen. Der Versuch einer Dame, den Grabpfleger des Gonards-Friedhofs zu bestechen, auf dem der Serienmörder anonym bestattet wurde, wirkt da schon fast dezent: sie bot dem Mann Geld für Weidmanns Kopf. Für solche Geschichten interessierten sich auch die Regisseure der Nouvelle Vague, die von amerikanischen Kriminalromanen und -filmen genauso fasziniert waren wie von wahren Verbrechen. Bei den frühen Werken der Neuen Welle hat man manchmal das Gefühl, als verberge sich Eugen Weidmann, der einer Interpretation nach mordete, weil er sein Leben wie einen Gangsterfilm inszenieren wollte, irgendwo zwischen den Bildern - im Off von Godards Außer Atem beispielsweise, wo Jean-Paul Belmondo als von der Polizei gesuchter Mörder in einem gestohlenen Auto durch Paris fährt wie vor ihm Weidmann und dann, in Gestalt von Jean Seberg, eine junge Amerikanerin trifft, die ihm zum Verhängnis wird.

Mörderische Befriedigung

Natürlich kann man es mit den Bezügen auch übertreiben. In dem Fall sind sie gar nicht so weit hergeholt. In den frühen Werken der Nouvelle Vague sieht man - gespiegelt durch den amerikanischen Film noir - ein Frankreich, das noch ganz unter dem Eindruck der 1930er und des Zweiten Weltkriegs stand. Die alten Ausgaben der Zeitschrift Détective, mit den Berichten zur Affäre, waren damals leicht zu finden, und die neuen, in denen nach einem "zweiten Weidmann" gefragt wurde, wenn man in Frankreich wieder einen Serienmörder gefasst hatte, sowieso. In einer populären Taschenbuchreihe erschien 1954 C. A. Dupins Weidmann le tueur, mit dem zeitgemäß gestylten Kopf von Jean de Koven und Weidmann in Gangsterpose oder vielleicht auch als Agent der Gestapo auf dem Cover (das True-Crime-Buch endet mit einem Kapitel über die NS-Verbrechen; Zwischenüberschrift: "Le tueur? Un Nazi.").

Offensichtlich wird die Verbindung in Les bonnes femmes (Die Unbefriedigten, 1959), Claude Chabrols Abrechnung mit dem Patriarchat und den Klischees von der romantischen Liebe. Vier junge Verkäuferinnen in Paris hoffen auf ein besseres Leben. Eine von ihnen, Jacqueline, lernt einen Motorradfahrer kennen, auf den sie ihre Träume projiziert und der von Anfang an sehr präsent war, wie ein unheimliches Phantom. Für Jacqueline ist dieser Ernest Lapierre ihr Märchenprinz. Madame Louise, die im Laden an der Kasse sitzt, ist schon älter und träumt auch noch von der großen Liebe. Einmal zeigt sie Jacqueline ihren wertvollsten Besitz. Als sie noch ein junges Mädchen war, erzählt sie, 1939, wurde ein sadistischer Frauenmörder namens Weidmann in Versailles auf die Guillotine geschickt. Ein schöner Bursche sei er gewesen, sagt sie, und in ihrem Gesicht meint man kurz das junge Mädchen zu erkennen, das Weidmann damals angehimmelt hat. Madame Louise öffnet ihre Handtasche und packt, voller Sorgfalt und wie bei einer wertvollen Reliquie, das Taschentuch aus, das sie damals, auf dem Trottoir neben dem Gefängnis Saint Pierre, in Weidmanns Blut getaucht hat und seitdem immer mit sich führt.

Les bonnes femmes

Les bonnes femmes könnte da - trotz der verwirrenden, weil nicht zum Genre passenden Kriminalmusik des wunderbaren Paul Misraki - gerade noch einmal die Kurve hin zur Komödie kriegen, als die sich der Film anfangs ausgibt. Doch dann unternimmt Jacqueline mit Lapierre eine Landpartie. Das gemeinsame Mittagessen ist eine der gruseligsten Restaurantszenen, die ich kenne. Mit diesem Mann sollte man nicht in den Wald gehen. Jacqueline tut es trotzdem. Nur Lapierre kommt lebend wieder heraus, und die Inszenierung deutet an, dass er wohl früher oder später André Obrecht begegnen wird, der bei Weidmanns Hinrichtung der "Photograph" gewesen und zum Chefhenker aufgestiegen war, als Les bonnes femmes in den französischen Kinos lief. Das alles ist so verstörend, weil Chabrol auf Beruhigungspillen verzichtet und einen fast dokumentarischen Blick beibehält, statt die fundamentale Unheimlichkeit solcher Taten mit wohlfeilen Erklärungen zuzudecken. Die Landpartie wirkt auch wie ein Kommentar zum Verhalten der anderen Männer im Film den Frauen gegenüber. Chabrol nahm man das sehr übel. Les bonnes femmes, heute als Meisterwerk gepriesen, wurde nach der Uraufführung fürchterlich verrissen und hätte beinahe die noch junge Karriere des Regisseurs beendet.

Les bonnes femmes

Wie sehr der Fall Weidmann mit den Nazis und dem Dritten Reich verbunden blieb, und zugleich mit Ogern aus einer noch weiter zurückliegenden französischen Vergangenheit, kann man anhand von Michel Tourniers 1970 erschienenem Roman Der Erlkönig überprüfen. Der Ich-Erzähler, Abel Tiffauges, hat nicht nur die gleiche Größe und das gleiche Gewicht wie Weidmann, er ist auch am selben Tag geboren und verfolgt von Tag zu Tag den Prozess gegen diesen mit. Dann lässt er sich überreden, einige Frauen zur Hinrichtung nach Versailles zu fahren. Auf Drängen der Frauen treffen sie schon am Abend davor dort ein. In Versailles wird ein großes Picknick veranstaltet. Unmut macht sich breit, als in den Bistros das Bier ausgeht. Schließlich müssen die Gendarmen und Soldaten eingreifen, und dann fordert die laut skandierende Menge, dass die Vorstellung endlich beginnen soll. Als Weidmann aus dem Portal des Gefängnisses geführt wird stellt eine von Abel Tiffauges’ Begleiterinnen überrascht fest, dass er aussieht wie Abel (die Frage, ob Volker Schlöndorff das mit der Besetzung von John Malkovich in Der Unhold gut getroffen hat, beantworte man sich bitte selbst). Tiffauges hieß die Burg von Gilles de Rais, der als "Blaubart" zu einer von Legenden umrankten Figur wurde. Man kann da also durch die Burg des Vaters aller Serienmörder ein Labyrinth betreten, wo einen der Weg zu Goethes Ballade vom Erlkönig führt, über Landru (dem "modernen Blaubart") zu Weidmann und von da zu sexuell deviantem Verhalten und zur Napola, der "Nationalpolitischen Erziehungsanstalt" der Nazis. Wo man wieder herauskommt, und ob überhaupt, weiß ich nicht genau. Tourniers mit dem Prix Goncourt ausgezeichnetes Buch ist immer noch sehr lesenswert.

Tod eines Heiligen

Vor der Enthauptung wurde Weidmann formell aus der Haft entlassen und dem Henker überantwortet. Desfourneaux schlug ihm - indirekt, weil das Auslösen eines zum Tode führenden Mechanismus zivilisierter ist - den Kopf ab und begleitete die zweigeteilte Leiche zum Friedhof, wo er sie der Bevollmächtigten der Eltern übergab. Das gehörte zu dem Ritual, das die Würde der Veranstaltung betonen sollte und fand immer auf die gleiche Weise statt. Eugen Weidmann aber war ein Star, dessen Hinrichtung Tausende von Schaulustigen angezogen hatte. Das änderte alles. Während die Assistenten des Henkers wie üblich mit einem nassen Schwamm das Fallbeil säuberten, ein paar Eimer Wasser auf das Trottoir kippten und die Köpfmaschine abbauten, blieben einige von denen, die in der Affäre Weidmann eine Rolle gespielt hatten, noch etwas stehen und unterhielten sich mit den Journalisten. "Er war ein einziger Widerspruch", sagte Moro-Giafferi über seinen Mandanten. "Als Verbrecher war er ein Monster, aber gestorben ist er wie ein Heiliger."

Dieser dann oft zitierte Ausspruch konnte den Behörden so wenig gefallen wie das ganze Drumherum. Die Frauen mit ihren Taschentüchern, die volksfestähnliche Stimmung und vor allem: die Bilder, die dabei entstanden und die anschließenden Berichte in der Presse - das war ein großes Ärgernis. Édouard Daladier, der Premierminister (das ist der, der im Jahr davor mit Hitler und Chamberlain das Münchner Abkommen geschlossen hatte), fürchtete um den Ruf seines Landes. Solche Szenen wie in Versailles sollten sich nie mehr wiederholen. Deshalb endete die Affäre Weidmann, die dem Publikum in Frankreich - dank der nun mit Photos bebilderten Faits divers - so reichhaltig illustriert präsentiert worden war wie kaum ein Kriminalfall zuvor, mit der Verbannung der Todesstrafe aus der Öffentlichkeit. Dadurch, dass Weidmanns Enthauptung zum Medienereignis wurde, kam ein Prozess zum Abschluss, der sich über mehrere Etappen erstreckte und Jahrzehnte dauerte. (Hoffen wir also, dass sich die Henker vom IS, die Barbaren aus dem Mittelalter, nicht auch darin an den ehemaligen Kolonialherren aus Europa - oder den Amerikanern - orientieren.)

Die Wirklichkeit ist oft paradox. Die Todesstrafe sollte öffentlich sein, wegen der abschreckenden Wirkung (ohnehin ein Unsinn). Und die Öffentlichkeit sollte möglichst wenig davon sehen, wegen der Würde und der westlichen Zivilisiertheit und so weiter. Bis 1870 war es in Frankreich üblich, die Verurteilten auf einem Gerüst zu enthaupten. Dafür musste ein Schafott gezimmert werden. Das kostete Geld, war zeitaufwendig und gab den Gaffern Gelegenheit zu ungebührlichem Verhalten. Darum wurde 1870 verfügt, dass die Guillotine fortan ebenerdig zu errichten war (das Schafott in Tourniers Der Erlkönig ist nur ein halber Anachronismus, weil da mehrere Zeitebenen gedanklich übereinander gelegt werden). Den Unterhaltungswert schmälerte das erheblich, weil das Vorspiel stark verkürzt und der direkte Blick auf das Spektakel nun auf einen relativ kleinen Kreis beschränkt war. Wer sehen wollte, wie so eine Hinrichtung genau ablief und keinen Platz in den vorderen Reihen ergattern konnte, dem half das Kino weiter.

Les Incendiaires

Georges Méliès, der unübertroffene Meister der Phantastik, hatte auch eine frühe Form des Dokudramas im Angebot. Im Frankreich des beginnenden 20. Jahrhunderts sorgten die Landbevölkerung terrorisierende Räuberbanden für Schlagzeilen. Die Banditen waren Mörder, Folterer und Vergewaltiger, und wenn man sie lebendig erwischte endeten sie meistens auf der Guillotine. Als gelernter Zauberkünstler trieb Méliès gern mit dem Entsetzen Scherz, indem er Köpfe abschnitt, sie aufblies oder vervielfältigte und die zerstückelten Körper am Schluss wieder zusammensetzte. 1906 drehte er einen der Filme, mit denen er seine Phantasmagorien in der Realität verankerte. In Les Incendiaires überfallen Banditen einen Bauern, töten ihn und stecken seinen Hof in Brand. Die Polizei entdeckt das Versteck der Bande. Nach Flucht und Schießerei wird der Anführer gefasst und zum Tode verurteilt. In seinen Albträumen sieht er die Köpfmaschine, dann folgt die Hinrichtung. Draußen vor dem Gefängnistor, im Schein der Laternen (so war das für gewöhnlich), haben der Henker und seine Assistenten die Guillotine aufgebaut, alles funktioniert, der Verurteilte kommt heraus und wird enthauptet, Kopf und Rumpf werden in einem Korb verstaut und abtransportiert, einer aus dem Henkerteam wäscht das Blut von der Guillotine ab.

Les Incendiaires

So, wie der Film es zeigt, lief es auch bei Weidmann ab. Nur der "Photograph" ist bei Méliés von anderem Kaliber. Statt zurückzutreten hält er den Kopf des Delinquenten an den Ohren fest und zieht ihn nach vorn, als das Fallbeil niedergeht. Méliès handelte sich mit den Brandstiftern viel Ärger ein, obwohl die Handlung den gängigen Moralvorstellungen entspricht. Ein Verbrechen wird begangen, der Haupttäter gefasst und verurteilt, am Schluss erfährt er seine gerechte Strafe. Trotzdem war die Empörung groß. Das Ende mit Kopfabschlagen und Saubermachen durfte nur in Orten vorgeführt werden, wo der Bürgermeister oder ein anderer Repräsentant des Gemeinwesens dies ausdrücklich genehmigt hatte. War das nicht der Fall, musste das Ende abgeschnitten werden wie das Haupt des Banditen. Darin zeigt sich die ganze Schizophrenie von Justiz und Filmzensur. Wenn im Kino eine der Realität nachgestellte Enthauptung zu sehen war schritt die Polizei ein, während außerhalb der Lichtspieltheater, in der Wirklichkeit, Menschen geköpft wurden, und zwar vor den Gefängnistoren, der abschreckenden Wirkung wegen, weshalb die Vorstellung von der Bühne (dem Schafott) herunter auf die Straße geholt wurde und tunlichst vor Tagesanbruch zu enden hatte, weil nicht zu viele Leute sehen sollten, was da genau passierte.

Auch rund um die realen Enthauptungen gab es kleinere und größere Skandale wie den um die Dreifachhinrichtung in Valence im Jahre 1909. Geköpft wurden die Mitglieder einer Bauernhöfe überfallenden Räuberbande wie bei Méliès. Weil Deibler, inklusive der Pausen zum Reinigen des Fallbeils, sechs Minuten brauchte, um die drei Männer zu enthaupten, und weil das ausnahmsweise lange nach Sonnenaufgang stattfand, hatten die Photographen ausreichend Gelegenheit und Licht, um viele Bilder in ungewöhnlich guter Qualität zu machen. Diese Aufnahmen waren illegal, die Regierung war empört, und die Franzosen konnten einen Teil der Photos mit nach Hause nehmen oder an Freunde verschicken, als noch bis in die 1920er hinein neu aufgelegte Postkartenserie.

Für viele Zeitgenossen war mit den Vorkommnissen um Weidmanns Enthauptung endgültig die Grenze des Erträglichen überschritten. Daladier forderte beim Justizminister einen Bericht an, und bei der nächsten Kabinettssitzung wurde eine Änderung des entsprechenden Artikels im Strafgesetzbuch beschlossen. Hinrichtungen fanden von nun an im Inneren des jeweiligen Gefängnisses statt, im Beisein von Offiziellen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Befürworter der Todesstrafe verloren damit ihr wichtigstes Argument: die (angeblich) abschreckende Wirkung. Das war ein schwerer Schlag. Die Gegner der Todesstrafe sahen bereits deren Ende nahen. Das war zu optimistisch. Weidmann war der Letzte, der in Frankreich öffentlich hingerichtet wurde (die Zeit der deutschen Besatzung einmal ausgenommen). Aber der letzte Mensch, der durch die Guillotine starb, war Hamida Djandoubi, ein wegen Mordes und Vergewaltigung einer Minderjährigen verurteilter Zuhälter aus Tunesien. Das war am 10. September 1977 in Marseille. Vier Jahre später wurde die Todesstrafe abgeschafft. Die Enthauptung von Eugen Weidmann, dem Serienmörder aus dem Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, markiert eine wichtige Etappe auf dem Weg dahin.

Das ist ein guter Moment für eine Pause, und zum Luftholen. Im dritten (und letzten) Teil nehmen wir die Spur des verschwundenen Huts in Phantom Lady wieder auf. Auch um ein paar neue Köpfe werden wir nicht herumkommen. Abgeschlagen werden sie aber nicht mehr, weil sie als Skulpturen im Atelier eines Bildhauers stehen. Ich werde dann auch verraten, wer der Mörder ist. Wer so etwas nicht mag und trotzdem weiterlesen will: Vorher Phantom Lady schauen. Ein sehr guter Film.

Teil 3: Zwischen Schädelstätte und Endlosschleife

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.