Hinrichtung in Versailles

Seite 2: Erschütterte Gemüter und Phantome

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Der am 10. März 1939 beginnende Prozess war ein Ereignis ersten Ranges. Zeitungen und Zeitschriften nahmen das zum Anlass, die Affäre noch einmal zu rekapitulieren, Weidmann in eine Reihe mit anderen deutschen Serienmördern zu stellen (insbesondere mit Fritz Haarmann, Karl Denke, Carl Großmann und Peter Kürten) und einige grundsätzliche Fragen aufzuwerfen, die sich bei dem Verfahren stellten. "In den Prozessen gegen alle diese Monster verwundert am meisten, dass von den Leuten übereinstimmend versichert wird, die Mörder seien auf den ersten Blick sympathische Menschen gewesen", kommentierte das Fachblatt Détective. "Dasselbe hat man über den Killer Weidmann gesagt, den Mörder von Jean de Koven und anderen - und gerade das ist das Furchtbarste. […] Wo verläuft zwischen dem Verbrecher und den anderen die Grenzlinie von Moral und Menschlichkeit […]? Die schlichte Vorstellung, wonach sich die Menschen aufteilen in ‚Gute’ und ‚Böse’, in ‚Verbrecher’ und ‚anständige Leute’ ist scheinheilig und falsch zugleich. Das beweisen alle diese deutschen Mörder, das beweist vor allem die Affäre Weidmann, die der französischen Justiz und der Polizei zu schaffen macht und überall in der Welt die Gemüter erschüttert."

Besondere Ereignisse erfordern besondere Maßnahmen. Der Verhandlungssaal im Gerichtsgebäude von Versailles hatte das Flair einer alten Scheune. Für den Prozess wurde er renoviert und frisch gestrichen, zusätzliche Stühle wurden aufgestellt und für die aus aller Welt erwarteten Reporter Telefone installiert. Promis waren daran erkennbar, dass sie eine grüne Eintrittskarte erhalten hatten. Einer dieser Ehrengäste war Maurice Chevalier, der großes Interesse an dem Fall bekundet hatte. Für die France-Soir berichtete Colette, die berühmteste Schriftstellerin des Landes. Die Meisterin der sinnlichen Beschreibung fing bald an, sich zu langweilen, weil auch ein Sensationsprozess ziemlich dröge sein kann, wenn der Ausgang schon vorher feststeht und der Angeklagte keinen Anlass sieht, seine Geständnisse zu widerrufen. Colette war deshalb dankbar für das "Phantom", weil es für ein wenig Dramatik sorgte.

Jean-Georges Berry hatte seine Aufgabe als Untersuchungsrichter sehr ernst genommen und bei dem Versuch, die Morde zu verstehen, viel über den täglichen Existenzkampf der Deutschen erfahren, die ihre von den Nationalsozialisten regierte Heimat verlassen hatten. Einige deutsche Exilanten, die er befragt hatte, waren überzeugt, dass die Gestapo Weidmann nach Paris geschickt hatte, um dorthin geflüchtete Regimegegner zu beseitigen oder zu desavouieren. Das passte gut zu Fritz Frommer, dem jüdischen Kommunisten, der demnach liquidiert worden wäre und posthum in den Verdacht geriet, selbst zur Bande zu gehören, weil Weidmann es behauptete. Dem Phantom käme in diesem Szenario die Rolle eines Aufpassers von der Gestapo zu. Weidmann deutete dem Untersuchungsrichter gegenüber an, dass er eine oder mehrere Personen deckte, verwahrte sich aber andererseits dagegen, dass er in fremdem Auftrag gehandelt haben sollte. Beobachter, die trotzdem an der Verschwörungstheorie festhielten, erklärten das so, dass er zwar von der Gestapo rekrutiert worden war, zuletzt aber auf eigene Rechnung gemordet hatte, dass er aus Geltungssucht den "Ruhm" nicht teilen wollte oder in seinem Größenwahn nicht zugeben konnte, ein gedungener Killer zu sein, der auf Anweisung getötet hatte und nicht auf eigenen Entschluss.

Von dem mysteriösen Mann im Hintergrund gibt es unterschiedliche Beschreibungen mit einer Konstante: er war deutlich kleiner als Weidmann und konnte nicht mit diesem verwechselt werden. Konkrete Beweise für seine Existenz wurden nicht erbracht. "[…] kaum noch verhüllt von Dunst", teilte die enttäuschte Colette ihren Lesern mit, "taucht vor uns endlich jener auf, den ich gestern das ‚unbekannte Phantom’ nannte. […] Und dann kommen Moro Giafferi und Planty, der Vorsitzende der Anwaltskammer, stürzen sich auf dieses Phantom und lassen es vor Weidmanns Nase tanzen. Doch der will von der Vorführung eines solchen Komplizen nichts wissen und spricht mit verhaltener Stimme: ‚Nein, nein, ich war es; ich selbst habe Frommer getötet.’ Er beugt sich über den Spiegel, worauf das Bild verschwindet. So zieht sich der geistesabwesende Gefangene auf seinen Größenwahn zurück, in dem all das andere bloß Albernheiten sind. […] Eine kalte Dämmerung bricht über das Ende der Vorstellung herein, die uns so lang vorkommt - wir ertragen das Entsetzliche leichter als die Langeweile." (Mehr von Colette über den Weidmann-Prozess in Band XIII der bei Flammarion erschienenen Œuvres complètes.)

Das rote Heft

Phantom hin oder her: dass die Nazis immer irgendwie mit dabei waren machte sich auf Schritt und Tritt bemerkbar. Im Gefängnis schrieb Weidmann, der nun gern bei Schiller und Goethe nach Stellen suchte, die seine Taten erklären (und ihn auf eine Stufe mit Deutschlands Dichtern und Denkern stellen) konnten, seine Reminiszenzen in ein rotes Schulheft. Das Heft hatte er einer früher in Frankfurt und jetzt in Frankreich lebenden Deutschen zugedacht, die über gemeinsame Bekannte mit seinen Eltern in Verbindung stand, ihn auf deren Bitten im Gefängnis besuchte und das Heft an die Eltern weiterleiten sollte. Dann war es verschwunden. In Verdacht geriet Weidmanns Verteidigerin Renée Jardin, die bestritt, die Aufzeichnungen an sich genommen zu haben. Für die Eltern war das Verschwinden der "Autobiographie" eine ständige Quelle der Angst. Sie fürchteten, dass der Text - vielleicht bearbeitet durch Renée Jardin - für Deutschland und das NS-Regime unvorteilhafte Stellen enthalten und veröffentlicht werden könnte. In dem Fall mussten sie mit schlimmen Konsequenzen rechnen.

Das rote Heft blieb verschwunden. Als die Wehrmacht 1940 in Frankreich einmarschierte, kamen Gestapoleute in das Gerichtsgebäude von Versailles und nahmen die dort archivierten Weidmann-Akten mit. Die Kanzleien und Privaträume der beteiligten Anwälte wurden auf den Kopf gestellt. Das gab den Gerüchten neue Nahrung, dass Weidmann als Auftragskiller der Nazis in Frankreich eingeschleust worden war. Jetzt sollten - wenn man an die Verschwörung mit Phantom glaubt - die Beweise vernichtet werden. Es hätte aber auch so Grund genug gegeben, die Akten über einen Serienkiller mitzunehmen, der peinlicherweise zur deutschen "Herrenrasse" gehörte und vor der Mordserie in Deutschland aus der Haft entlassen worden war. Renée Jardin setzte im besetzten Frankreich ihre Karriere als Juristin fort. Nach der Befreiung wurde sie wegen Kollaboration zum Tode verurteilt, dies allerdings in Abwesenheit, weil es ihr gelang, sich über Spanien in die USA abzusetzen. Dort heiratete sie den aus Holland stammenden, in Stanford lehrenden Hans Birnie, gab Literaturkurse und schrieb Gedichte.

Mehr darüber erfährt man in ihrem 1965 erschienenen Memoirenband Les Pas du proscrit. Dort teilt sie auch mit, dass die Affäre Weidmann der Höhepunkt ihres Lebens gewesen sei. 1968 veröffentlichte sie ein Buch über ihren Mandanten (und sich selbst), mit Auszügen aus dem roten Heft. Die Dame hatte offenbar nicht gelogen, als sie bestritt, das Manuskript an sich genommen zu haben, aber auch nicht ganz die Wahrheit gesagt. Ihre Ausführungen zu dem ominösen Schulheft bleiben etwas nebulös. In Jardins Buch ist ein Faksimile der ersten Seite einer mit Maschine getippten Abschrift des roten Hefts enthalten, deren Authentizität Weidmann per Fingerabdruck bestätigt (falls das tatsächlich seine Fingerabdrücke sind). Sensationelle Neuigkeiten sind in Le Cahier rouge d’Eugène Weidmann nicht enthalten. Falls Weidmann tatsächlich ein Agent Himmlers war behielt er es für sich. Oder Madame Jardin Birnie hat beschlossen, es uns nicht mitzuteilen.

Die Verteidigerin bittet zum Gebet

Robert Planty, dem Chef der Anwaltskammer von Versailles, war die Aufgabe zugefallen, aus einer Schar von Bewerbern (der Fall war äußerst prestigeträchtig) einige Pflichtverteidiger auszuwählen. Maître Planty hatte zunächst einmal sich selbst nominiert. Der Korse Vincent de Moro-Giafferi, vielleicht der berühmteste Strafverteidiger Frankreichs und weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt, war erst spät zum Verteidigerteam gestoßen und dies wohl auf Initiative von Weidmanns Eltern. 1921 hatte er bereits den als "Blaubart" in die Kriminalgeschichte eingegangen Frauenmörder Henri Landru verteidigt, in dessen alter Zelle jetzt Eugen Weidmann saß. Moro-Giafferi war Sozialist, ein entschiedener Gegner des Faschismus und Nationalsozialismus, und er vertrat häufig die in Frankreich gegründete Internationale Liga gegen Antisemitismus. Seine Verteidigungsstrategie ruhte auf zwei Säulen. Kurz gesagt: Weidmann war ein geistig abnormer Straftäter und das Opfer einer von Gewalt und Terror dominierten Gesellschaft, die ihn erst zu dem gemacht hatte, was er war. Seiner Meinung nach gehörte das Dritte Reich mit auf die Anklagebank. Die Todesstrafe lehnte er mit der Begründung ab, dass sie nur den Verbrecher töte, nicht aber das Verbrechen.

Moro-Giafferi mühte sich redlich, die Sozialisation seines Mandanten in einer Gesellschaft nachzuzeichnen, die erst von einem Krieg und dann von Revolution und Gegenrevolution erschüttert worden sei und jetzt von einem "gestiefelten Klugscheißer" regiert werde, der schon wieder den Krieg verherrliche und über eine Natur schwadroniere, die - Hitler zufolge - nur eine Gerechtigkeit kannte: die Macht. Weidmann vor der Guillotine retten konnte Moro-Giafferi dadurch nicht. Das lag daran, dass es keinen Zweifel an der Schuld des geständigen, vielen als Nazimonster geltenden Angeklagten gab, dass der Mann im Hintergrund ein Phantom blieb, dass die eher bodenständigen Geschworenen nicht einsahen, warum sie ein System schuldig sprechen sollten, wenn vor ihnen ein Mörder aus Fleisch und Blut saß und dass Weidmann nur widerwillig oder gar nicht mit seinen Anwälten kooperierte. Am liebsten hätte er ganz auf eine Verteidigung verzichtet, was die Prozessordnung aber nicht erlaubte. Das meiste Vertrauen hatte er zu Renée Jardin, der einzigen Frau im Team. Vom weiblichen Geschlecht fühlte er sich besser verstanden als vom männlichen.

Maître Jardin gruselte sich beim Gedanken an Weidmanns Verbrechen, zugleich war sie fasziniert von dem Mann, der so charmant plaudern konnte, Goethe und Schiller als seine Lieblingsautoren nannte und lange Passagen aus deren Werken aufsagen konnte, wodurch er nicht nur bei ihr den Eindruck erweckte, ein gebildeter und empfindsamer Mensch zu sein. Diese Facette seines Wesens, ob echt oder einstudiert, beschäftigte auch die Journalisten, die über den Fall berichteten. Eugen oder Eugène Weidmann, wie man ihn in Frankreich nannte, entsprach so gar nicht dem Bild, das man sich von einem brutalen Massenmörder machte. Die 40-jährige Renée Jardin wusste wohl selbst nicht so genau, ob sie sich in Weidmann verliebt, ob er den Mutterinstinkt oder etwas anderes in ihr wachgerufen hatte. Jedenfalls fühlte sie sich als eine Art Therapeutin ihres Mandanten, mit dem sie gemeinsam betete, und sie hielt sich zugute, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass er den Weg zurück zu Gott gefunden hatte. Ihren Kollegen ging die feingeistige Dame, die schon einige Gedichtbände veröffentlicht hatte, auf die Nerven. Da war bestimmt auch etwas männlicher Chauvinismus mit dabei. Die Beauftragte der Eltern warf Maître Jardin vor, ihren Mandanten nicht verteidigt, sondern ihn durch Religionskitsch und Gefühlsduselei so kirre gemacht zu haben, dass er sich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen ließ, statt um sein Leben zu kämpfen. Was immer der Grund war: Weidmann wirkte auf viele Beobachter wie ein Angeklagter, der nur in den Gerichtssaal kam, um verurteilt zu werden.

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