Hinter dem Regenbogen

Der deutsche Fußball: Ideen und Wünsche regieren, die Realität spielt hingegen keine Rolle und Versagensangst übernimmt – das Psychogramm einer Gesellschaft?

Wir Deutschen haben keine Ahnung von Taktik.
Matthias Sammer

Vielleicht sollten die deutsche Nationalmannschaft und der DFB weniger über Regenbogenfarben reden als darüber, wie man Spiele gewinnt.

Irgendwie war es ja klar. Den Gedanken, dass die deutsche Fußballnationalmannschaft ihr WM-Auftaktspiel gegen Japan verlieren könnte, hatte man in den letzten zehn Tagen so wenig zugelassen, dass im Vorfeld sogar auf die rein rhetorische, aber immerhin höfliche Floskel verzichtet wurde, Japan sei "ein schwerer Gegner", den man "nicht unterschätzen" solle.

Jeder in Fußball-Deutschland wusste: Da man im Gruppenspiel gegen Spanien keineswegs mit sicheren Punkten rechnen konnte, galt zwingend: Das japanische Team muss geschlagen werden. "Siegen oder Fliegen."

Schock und Unverständnis

Umso größer waren Schock und Unverständnis nach dem 1:2. Man merkte es den Spielern Thomas Müller und Ilkay Gündogan, die sich im Fernsehinterview stellten, und dem Bundestrainer Hansi Flick an, dass sie zwar viele Worte, aber keine Erklärung für diese Niederlage parat hatten.

Stattdessen versicherten sie, man habe doch das Spiel bis zum Gegentor im Griff gehabt – hatte man? –, es sei ein gutes Spiel gewesen – war es das? –, aber niemand fand den Mut, über die miserable Chancenverwertung zu sprechen.

Oder über die offenkundig desaströsen Auswechslungen des Bundestrainers. Oder darüber, dass diese Mannschaft schon vor Beginn des Spiels nicht den Fokus auf diese Begegnung gerichtet hatte, sondern bestenfalls auf das zweite Gruppenspiel gegen Spanien, vor allem aber auf die politischen Randerscheinungen der WM und die unselige Debatte über politische Statements von hoch bezahlten Profisportlern.

Desinteresse für Japan, falsche Prioritäten

Beispielhaft zeigte das die ARD-Berichterstattung im Vorfeld des deutschen Auftaktspiels. Sie war schwiemelnd emotional und platt politisch: Stundenlang debattierten Experten wie Samy Khedira, Thomas Hitzlsperger und die aus dem Stadioninnenraum strafversetzte Jessy Wellmer zum tausendundersten Mal über die korrupte Fifa und dann darüber, ob die deutsche Mannschaft gar einen Punktabzug in Kauf nehmen sollte. Ob sich die Europäer vielleicht gegen die Fifa zusammen tun sollten, und andere derlei realitätsfremde und fußballweltmeisterschaftsferne Themen.

Realitätsfern sind diese schon deshalb, weil die Geschichte, Macht- und Temperamentsverschiebungen der Fifa nicht nur die Korruption einzelner Personen spiegeln oder gar die Herkunft von Sepp Blatter und Gianni Infantino aus dem gleichen schweizerischen Tal, sondern grundsätzliche Prozesse der Globalisierung, die sich im Fußball als Abbild der Gesellschaft besonders deutlich und unverblümt zeigen.

Realitätsfern, unfokussiert, arrogant und willensschwach

Nach dem Anpfiff wurde zunächst einmal mehr fünf Minuten lang darüber räsonniert, was für ein "wichtiges Zeichen" es gewesen sei, dass sich die DFB-Kicker zum Gruppenfoto die Hand vor den Mund gehalten hatten. Was im Übrigen die Fifa selbst nicht übertrug, sondern nur die zusätzlichen vorab bereitgestellten Kameras der ARD.

Genauso realitätsfern, unfokussiert, arrogant und willensschwach präsentierte sich zuvor auch die deutsche Nationalmannschaft im Spiel selbst. Und die ARD-Berichterstattung während des Spiels spiegelte diese Haltung recht exakt.

Schmunzelnd und mit gönnerhaften Höhöhö wurde von den Kommentatoren konstatiert, dass die Japaner als ihr Ziel das Erreichen der K.o.-Runde ausgegeben hatten, also den zweiten Platz in einer Gruppe mit Spanien und Deutschland. Nicht ein einziges Mal setzte man sich dagegen ernsthaft mit der Taktik Japans auseinander und damit, wie man als Trainer der Japaner wohl seine Mannschaft auf ein Spiel gegen Deutschland einstellen würde.

"Put yourself in the shoes of the others"

Dabei ist der Satz "put yourself in the shoes of the others", also die Bereitschaft und vor allem die Fähigkeit, sich in die andere Seite hineinzuversetzen, ja eine der Kernforderungen aller Anwälte von Diversität und Inklusion sozial benachteiligter Gruppen. Sie gilt auch auf und neben dem Platz.

Man könnte also unabhängig davon, ob man die politische Agenda der Identitätspolitik und ihren Forderungen nach Diversität teilt, eine Menge darüber lernen, wie man besser Fußball spielt.

Das hat nämlich nichts damit zu tun, aus wie vielen Hautfarben und Geschlechtern eine aufgestellte Mannschaft besteht, sondern wie sie sich mit dem Anderen im Anderen, also dem Fußballgegner und sich selbst auseinandersetzt.

Selbstüberschätzung, Druck und heimliche Versagensangst

So fehlte auch jede Frage nach einer Lehre aus den ersten WM-Spielen von Holland, Dänemark, und vor allem aus der überraschenden Niederlage Argentiniens gegen die Mannschaft von Saudi-Arabien.

Gerade dieses Spiel wirkt in seiner Mischung aus Selbstüberschätzung, hohem Druck und heimlicher Versagensangst im Nachhinein wie eine Blaupause und Nemesis für das deutsche Auftreten.

Über weite Strecken des Spiels wurde dieses dann vom ARD-Kommentator schöngeredet. Obwohl spätestens zur Halbzeitpause die Schrift an der Wand nicht zu übersehen war: Das einzige deutsche Tor war früh durch Foulelfmeter gefallen, es folgten viel zu viele vergebene Chancen, während der Gegner zunehmend an Boden gewann und sich eigene Chancen erarbeitete.

Dass die zähen Japaner in der zweiten Halbzeit zunehmend angriffslustiger und irgendwann auch riskanter auftreten würden, war vorauszusehen. Die ARD sah dagegen "ein gutes Spiel" der Deutschen. An Argentinien dachte dagegen keiner.

Klassenprimus in der Schule des Konventionellen

Nun also?

Interessant war an diesem Spiel auch, dass diesmal gar nicht die notorische deutsche Arroganz in Selbstherrlichkeit umschlug – sondern im Gegenteil in nackte Angst. Wieder einmal zeigte sich damit der Fußball als Psychogramm einer Gesellschaft. Diesmal einer Gesellschaft zwischen Entschlusslosigkeit, Zaudern und hilflosem Stochern nach der Richtung, in die es gehen müsste und könnte.

Genau so spielen die Deutschen zurzeit auch Fußball: Immer wieder ist die Klage zu hören, es gebe keine Führungsfiguren im Fußball – diese Diagnose stimmt. Aber wer Führungsfiguren einfordert, der muss sie auch wollen. Und Deutschland will nicht geführt werden. Deutschland will kein Charisma, keine Außeralltäglichkeit, es verweigert sich dem Bruch mit den Konventionen. Im Gegenteil möchte es in der Schule des Konventionellen der Klassenprimus sein.

Aber wer über das Tragen von Regenbogenarmbändern räsonniert statt über die richtige Taktik gegen Japan, der wird vielleicht Weltmeister der Wokeness, aber nicht Fußball Weltmeister.

Es ist also keine Arroganz, die das deutsche Spiel scheitern lässt. Sondern es sind falsche und fehlgeleitete Prioritäten, es sind die Nerven, es ist die innere Unsicherheit. Die deutschen Spieler sind zu jung, sie sind zu sensibel und sie sprechen viel zu viel über den Regenbogen. Wie in der Politik ist ein grassierender Realitätsverlust erkennbar.

Dazu gehört auch, einen erfahrenen Spieler wie Hummels zu Hause zu lassen mit dem Argument, es gehe um "die Zukunft". Nun haben sie beim DFB ihre Zukunft um den Preis der Gegenwart. Ideen und Wünsche regieren, die Realität spielt hingegen keine Rolle.

"One Energy", nicht "One Love"

Es ist auch Doppelmoral.

Warum sollen ausgerechnet Fußballspieler Probleme lösen, die die Politik nicht zu lösen vermag? Warum sollen sie eine bessere oder andere Realität repräsentieren, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat? Warum sollen sie "One Love" skandieren, wo das Motto im Umgang mit Katar, aber auch mit anderen Diktaturen der Welt eher heißt "one energy"?

Bezeichnet ist die Aufregung über das von der Fifa vorgeschlagen Armband, auf dem steht "ohne Diskriminierung".

Dies wird allgemein als fauler Kompromiss gesehen. Aber warum eigentlich? Geht es nicht genau darum? Ist es nicht sogar eine Kernforderung der sogenannten "Identitätspolitik", sich Diskriminierung abzugewöhnen?

Warum verlangt man von Menschen, deren persönliche oder soziale, kulturelle und politische Geschichte mit Gleichstellung von Frauen nichts am Hut hat, und bei denen es schon ein Fortschritt ist, wenn Schwule und Lesben nicht öffentlich ausgepeitscht oder gesteinigt, sondern nur eingesperrt werden, dass sie europäische Lebensformen annehmen sollen?

Natürlich: Weil die Menschenrechte universal gültig sind und nicht etwa nur eine kulturelle Identität des Westens. Das stimmt und das ist zu verteidigen. Nicht auf andere übertragen muss man aber eine Gleichstellungspolitik, die noch nicht mal in allen westlichen Ländern praktiziert, geschweige denn von diesen Gesellschaften widerspruchslos akzeptiert wird.

Genau das ist es aber, was die medial organisierte Öffentlichkeit derzeit unter der Flagge der Ampel-Regierung von den Fußballern der deutschen Nationalmannschaft verlangt. Warum aber sollen sie mehr Mut aufbringen als jeder Politiker?

Ein deutsches Problem

Wer sich mit Fußballinteressierten aus aller Welt, und selbstverständlich vor allem aus demokratischen Ländern des Globus, unterhält, der wird schnell erkennen, dass diese deutsche Haltung vollkommen einmalig ist. Ein deutsches Problem. Niemand interessiert sich in Spanien oder Uruguay oder in den Niederlanden ernsthaft dafür, dass die Fußballer zum Sprachrohr linksliberaler Werte werden.

Vielmehr weiß man realistisch betrachtend, dass ein größerer Teil der Fußballer schon durch ihre Einkommenslage, die sie im Nu in die oberen Zehntausend der jeweiligen Gesellschaft katapultiert, so (rechts) denken, wie sie leben.