Hirnforschung in den Medien
Seite 4: Alter Wein in neuen Schläuchen
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Doch es ist nicht nur so, dass die Mär vom unbewusst gesteuerten Menschen von einigen Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftlern konstruiert wurde. Sie ist auch gar nicht neu.
Sigmund Freud habe ich oben schon erwähnt. Wenig bescheiden beschrieb er seine Erkenntnisse über die Psyche und dass das Ich nicht der "Herr im eigenen Hause" sei als eine der größten Kränkungen der Menschheit. Diese verglich er mit den Entdeckungen von Charles Darwin (1809-1882) und Nikolaus Kopernikus (1473-1543). In naturalistischen Kreisen ist die Figur der großen Kränkungen der Menschheit durch die Wissenschaft bis heute beliebt.
Doch schon im 19. Jahrhundert gab es ganz ähnliche Diskussionen, beispielsweise den Materialismusstreit. Phrenologen erhielten viel Zulauf für ihre Predigten dessen, was wir heute "Gehirnjogging" nennen würden. Cesare Lombroso (1835-1909) wollte menschliches Kriminalverhalten an Eigenschaften des Körpers festmachen und inspirierte hier und da präventive und therapeutische Maßnahmen, später sogar rassenbiologische Theorien.
Mahnende Stimmen wie etwa die des Anatomen und Rektors der Wiener Universität Joseph Hyrtl (1810-1894) gab es auch, konnten sich aber nicht durchsetzen. Denen, die im Menschen nur einen determinierten Automaten sahen, hielt der Anatom einen Mangel an guten Argumenten entgegen. Sie überzeugten nur mit der "Kühnheit ihres Auftretens".
Und, für unsere Betrachtung besonders interessant: "Ihre Erfolge beruhen […] in dem herrschenden Geiste der Zeit, welcher Lehren dieser Art umso lieber popularisiert, je gefährlicher sie der bestehenden Ordnung der Dinge zu werden versprechen", kritisierte er in seiner Antrittsvorlesung 1864. Manche Dinge scheinen sich nie zu ändern! Weil Sensationsmeldungen so viel mehr Aufmerksamkeit bekommen, werden sie immer wieder vertreten - und verbreitet.
Ähnlich zurückhaltend wie Hyrtl äußerte sich sein Zeitgenosse Emil Heinrich du Bois-Reymond (1818-1896), ein berühmter Physiologe. Wie Bewusstsein entsteht oder woher der freie Wille stamme, hielt er wissenschaftlich für prinzipiell unlösbar: "Ignorabimus!", nie werden wir es wissen. Mit dieser Haltung behält man vielleicht Recht - jedenfalls bis heute -, aber erhält man eher kein Forschungsgeld. Seinen Standpunkt der "Entsagung" hielt er übrigens für eine männliche Tugend.
Blick aus der Zukunft
Wie man in Zukunft über unsere Zeit der Übertreibungen und Hypes denken wird, muss sich zeigen. Wird die Nachwelt ähnlich über uns lachen wie viele heute über die Phrenologen im 19. Jahrhundert? Zur Ehrenrettung sei gesagt, dass nicht alle so arbeiten und denken.
Und überhaupt sei der Fairness halber erwähnt, dass die große Mehrheit der Hirnforscher verborgen im Labor arbeitet und in kleinen Erkenntnisschritten voranschreitet. Von deren Erkenntnisse hören wir nichts, weil sie weniger sensationell scheinen. Ein philosophischer Lehrer sagte mir einmal: "Die Stimme der Vernunft spricht leise." Das war ausgerechnet ein lebender Vertreter des von vielen so gescholtenen Leib-Seele-Dualismus.
Eine fast schon tragische Facette am Standpunkt von Haynes und Eckoldt, mit dem ich mich hier in vier Teilen ausführlicher beschäftigte, findet sich im Schlusskapitel ihres Buchs: Da werfen sie der Presse vor, "völlig übertriebene Erwartungen" zu verbreiten. Tragisch, da sie nicht merken, wie sie selbst den Hype anfeuern.
Zwar weisen sie weitreichende Aussagen über die Möglichkeiten des Gedankenlesens etwa des selbsternannten "Techno King" Elon Musk oder von Facebook zurück. Sie spielen aber selbst immer wieder mit Hinweisen auf Kriminalität und Strafrecht sowie mit bedeutungsschweren Bildern und Metaphern.
Wie Hypes entstehen
So hat Kommunikationsforschung schon vor vielen Jahren gezeigt, wie bildgebende Verfahren der Neurowissenschaften als "Fenster ins Gehirn" dargestellt werden (Racine et al, 2010). Damit übergeht man die vielen Verarbeitungs- und Rechenschritte, mit denen der Hirnforscher seinen Ergebnissen überhaupt erst Signifikanz gibt. "Fenster ins Gehirn", klingt das nicht irgendwie bekannt? Ach ja, das war der Titel von Haynes' und Eckoldts Buch.
Es ist außerdem gut belegt, dass Durchbrüche nahelegende Aussagen von Forschern - wie war das noch mit der "Epiphanie"? - und Pressemitteilungen ihrer Institute Hypes befeuern (Caulfield & Condit, 2012). Journalisten kann man nicht vorwerfen, diese Aussagen aufzugreifen. So wird dann auch die Studie von Haynes und Kollegen, in der die Willensfreiheit allenfalls am Rande behandelt wird, vor allem unter diesem Gesichtspunkt reflektiert (Beispiel 1, Beispiel 2, Beispiel 3 usw.).
Die Wissenschaftsjournalisten könnten allerdings kritischer Nachfragen und mehrere Standpunkte berücksichtigten. Wir sahen, dass Fragen nach den Voraussetzungen und dem Kontext von Experimenten deren Ergebnisse besser einordnen. Natürlich würde man damit einem Teil der Sensationslust aufgeben. Vielleicht bekäme man von seinen Leserinnen und Lesern dann aber auch wieder mehr Vertrauen.
Wir haben in dieser vierteiligen Serie gesehen, dass bei den Themen Bewusstsein, moralische Entscheidungen, Dualismus und Willensfreiheit immer wieder dieselben Muster auftraten: Hirnforscher wissen es besser als Philosophen. Bei näherer Betrachtung sind deren Erkenntnisse aber gar nicht so eindeutig, häufig sogar übertrieben und unplausibel.