Hirnforschung in den Medien

Seite 5: Ausblick

Es ließen sich viele weitere Beispiele anführen, doch irgendwann müssen wir auch einmal zum Ende kommen. Daher ein paar weitere Themengebiete in Kürze, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Die von Antonio Damasio Anfang der 1990er wieder popularisierte und vielfach kopierte Geschichte vom Bahnarbeiter Phineas Gage, der bei einem Unfall einen Teil seines Frontalhirns verlor, beruht auf krassen Verzerrungen und Auslassungen; Gage war danach kein "Psychopath", fand im Gegenteil wieder Arbeit und lebte ein geregeltes Leben. Der Fall wird auch heute noch dazu verwendet, die Determinierung der Persönlichkeit durch das Gehirn zu untermauern.
  • Gerhard Roth hat sogar Quellen ins Gegenteil verkehrt, um nachzuweisen, dass sich Menschen über ihren eigenen Willen täuschen würden (siehe z.B. in Schleim, 2011). Solche Berichte über angebliche Willenstäuschungen wurden vielfach kopiert, ohne die Originalquellen zu kontrollieren.
  • Daniel Dennett hat sich ein Experiment ausgedacht oder zumindest falsch erinnert, um zu belegen, dass der Mensch quasi unbewusst ferngesteuert werden könnte, ohne es zu bemerken (Das unfreie Subjekt ist ein Konstrukt des Hirnforschers). Auch diese Geschichte wurde vielfach kopiert, ohne dass man sie mit einer Quelle belegen könnte.
  • Um den Gedanken der adulten Neurogenese, also dass im Erwachsenengehirn neue Nervenzellen entstehen können, ist ein wahrer Hype entstanden. Es gibt Erklärungen für "Gott und die Welt", die auf diesem Mechanismus aufbauen. Dabei ist zweifelhaft, ob es adulte Neurogenese überhaupt gibt (Vielleicht doch keine neuen Nervenzellen im Gehirn - na und?!).
  • Wer hätte die "Spiegelneuronen" vergessen, mit denen ebenfalls "Gott und die Welt" erklärt werden sollte? Gregory Hickok, Professor für Kognitionswissenschaft an der University of California in Irvine, entlarvte sie weitgehend als Mythos ("The myth of mirror neurons", 2014).
  • Und das "Kuschelhormon" Oxytocin darf natürlich nicht fehlen, mit dem der Komiker John Oliver 2016 die Hirnforschung aufs Korn nahm. Manche Wissenschaftler bieten mit ihren Übertreibungen sogar Satirikern eine Angriffsfläche.

Traurig, aber wahr: Bei vielen dieser Beispiele liefert die Netzcommunity auf Wikipedia akkuratere Beschreibungen als einige renommierte Hirnforscher in ihren Büchern und mitunter sogar die wissenschaftlichen Fachzeitschriften, "Peer Review" zum Trotz. Ob man so das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewinnt, ist fraglich.

Fazit

Wie eingangs erwähnt, empfahl der Nobelpreisträger Roger Sperry seinen Kollegen, der Öffentlichkeit Lösungen für ihre Probleme zu versprechen. Viele dieser Anwendungen sind vierzig Jahre später immer noch in weiter Ferne, falls sie überhaupt realistisch sind.

Komisch, dass diejenigen, die sich selbst so lautstark auf die Standards der Wissenschaft berufen und Philosophen als unproduktiv darstellen, bei näherer Betrachtung oft so unsauber arbeiten. Es kann schon einmal passieren, im Experiment Aufmerksamkeit und Bewusstsein zu verwechseln. Den Menschen aber immer wieder als unbewusst determinierten Roboter darzustellen, wo die Versuche das Gegenteil bestätigen, ist schon ein starkes Stück.

Dass wir Menschen unbewusst beeinflusst werden können, wussten wir zudem schon lange vor der "Dekade des Gehirns". Experimente wie die von Libet oder Haynes zeigen vor allem, dass Menschen die Anweisungen der Forscher befolgen. Wenn das die Möglichkeit beinhaltet, sich bewusst umzuentscheiden, sieht man das auch in den Ergebnissen. Natürlich geht auch so eine Entscheidung dann mit Gehirnvorgängen einher, die wir aber noch gar nicht verstanden haben.

Mir scheint es kein Ruhmesblatt für die Hirnforschung zu sein, dass die Kernspintomographie nach viel Gerede über Lügendetektion und Gedankenlesen im Strafprozess vor allem dies ist: ein Instrument, um das Strafmaß verurteilter Mörder zu reduzieren (Farahany, 2016). Die wissenschaftlichen Standards sind für diesen Teil des Gerichtsprozesses in den USA besonders niedrig. Dann soll gezeigt werden, dass die Täter aufgrund ihrer Gehirnanatomie oder -Funktion nicht anders konnten.

In dem Eingangszitat erhob Sperry die Hirnforschung zur obersten Autorität: "Es kommt alles im Gehirn zusammen." Der Satz ist richtig, doch in einem ganz anderen Sinne: Unser Gehirn ist Ergebnis von sowohl Natur als auch Kultur. So können Sperry und seine Nachfolger zwar nicht den Menschen erklären. Doch wir können umgekehrt das Verhalten des Hirnforschers historisch, philosophisch, soziologisch und psychologisch verstehen.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.