Hirnforschung in den Medien

Seite 2: Neuromythos Willensfreiheit

Erinnern wir uns noch einmal an den eingangs erwähnten Aufruf von Nobelpreisträger Sperry, Hirnforscher müssten der Bevölkerung praktische Lösungen versprechen. Bei den bisher genannten Beispielen - Bewusstsein, moralisches Urteilen und Leib-Seele-Dualismus - liegen diese aber gar nicht auf der Hand.

Das ist beim Willensfreiheitsproblem anders: Angeblich müsse das Strafrecht revidiert werden. Dass Kriminalität Aufmerksamkeit auf sich zieht, weiß jede Redaktion. Und so leiten Haynes und Eckoldt ihr Kapitel über den freien Willen dann auch mit Verbrechen und terroristischen Anschlägen ein (Hirnforschers Märchen: Von Terroranschlägen zur Willensfreiheit).

Die Frage, wie der Mensch frei sein könne, wenn die Natur kausal determiniert ist, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen (Das kleine Einmaleins des Leib-Seele-Problems). Dabei ist es übrigens nicht weniger rätselhaft, wie Bewusstsein, Wahrnehmungs- und Denkvorgänge überhaupt entstehen. Und wie diese wiederum unser Verhalten und damit auch den Verlauf der Welt beeinflussen können.

Als sich die moderne Biologie entwickelte, schlug Thomas Huxley (1825-1895) mit einer Weiterentwicklung von René Descartes' (1596-1650) Gedanken den Epiphänomenalismus vor: Bewusstseinsvorgänge entstünden zwar aus physiologischen Prozessen, hätten aber keinen Einfluss auf den Körper. Willensfreiheit bestehe schlicht in einem Gefühl und der Freiheit von äußerem Zwang.

Bewusster und freier Wille

In der neuen Diskussion konzentrierte man sich dann vor allem auf das Problem der bewussten Steuerung unseres Verhaltens: Daher spricht man eher vom bewussten als vom freien Willen. Die Frage ist dann, inwiefern wir die bewusste Kontrolle über unsere Entscheidungen und unser Verhalten haben.

Diese warf natürlich schon vor rund 100 Jahren Sigmund Freud (1856-1939) auf, was aber meist nicht erwähnt wird. Dabei diskutierten auch schon seine Schüler die Frage, ob man für Trauminhalte verantwortlich ist, wenn diese ohne eigenes Zutun entstehen. Das ist ganz analog zur heutigen Diskussion, ob man für seine Taten verantwortlich ist, wenn man darüber keine bewusste Kontrolle hat.

Anders als bei Freud, der zwar neurologisch forschen wollte, dafür aber keine Förderung erhielt, schienen dann die Experimente Benjamin Libets (1916-2007) Anfang der 1980er gefundenes Fressen. Jedenfalls für diejenigen, die den Menschen als unbewusst gesteuerten Automaten darstellen wollten. Im dritten Teil meiner Kritik von Haynes' und Eckoldts neuem Buch erklärte ich, warum ich das für einen Mythos halte (Hirnforschers Märchen: Von Terroranschlägen zur Willensfreiheit).

Kurz zusammengefasst: Libets Versuch zeigte zwar, dass dem Moment der bewussten Entscheidung ein Bereitschaftspotenzial im Gehirn vorausging. Dieses allein konnte aber gar nicht die vollständige Ursache der Entscheidung sein. Dafür sprachen nicht nur Libets Daten, sondern auch seine eigenen Erklärungen: Immerhin entstand dasselbe Gehirnsignal auch, wenn sich die Versuchspersonen nicht für eine Bewegung entschieden ("Veto").

Doch es hat wenig genutzt. Die alternative Sichtweise vom unbewusst gesteuerten Menschen war wohl schlicht zu verlockend. Rund vierzig Jahre lang und eben bis ins neue Buch von Haynes und Eckoldt lässt sich nachvollziehen, wie die neurowissenschaftliche Mär vom unfreien Menschen verbreitet wurde.

Haynes selbst versuchte, mit einem Versuch im Kernspintomographen noch eins draufzulegen. Entscheidungen seien nicht nur einige hundert Millisekunden vorher unbewusst im Gehirn festgelegt, wie angeblich bei Libet, sondern mindestens sieben Sekunden! Ich habe hier ausführlich dargelegt, warum ich auch diese Erklärung für unplausibel halte.

Schnellkurs Neuro-Kosmologie

In Nature, wo seine vielzitierte Studie erschien und gleich in Bezug zu strafrechtlichen Konsequenzen gesetzt wurde, folgte ein paar Jahre später ein knalliger Artikel über den freien Willen. Wieder einmal spielte man Philosophie und Hirnforschung gegeneinander aus.

Haynes erklärte darin, er hätte seine Ergebnisse selbst nicht glauben können:

Der erste Gedanke, den wir hatten, war: "Wir müssen kontrollieren, ob das wahr ist." Daher führten wir mehr Gültigkeitsprüfungen durch, als ich jemals bei einer anderen Studie gesehen habe.

Smith, 2011, S. 24; Übers. d. A.

Unglaublich, aber wahr? Der Hirnforscher weiter: "Ich bin sehr ehrlich mit Ihnen, ich finde es schwierig, hiermit umzugehen. Wie kann ich einen Willen 'meinen' nennen, wenn ich nicht einmal weiß, wann er stattfand und was er entschieden hat?" (ebenda). Die Journalistin, die Haynes hier interviewte, spricht schließlich von einer "Epiphanie" (Erscheinung einer Gottheit unter den Menschen; Moment einer großen und plötzlichen Enthüllung).

Haynes Worte klingen tatsächlich nach einem Erleuchtungsmoment: "Plötzlich hatte ich diese große Vision über das ganze deterministische Universum, mich selbst, meinen Platz in ihm und all diesen verschiedenen Punkten, wo wir glauben, selbst Entscheidungen zu treffen, doch nur irgendeinen Kausalfluss spiegeln" (ebenda, S. 25). Manch ein Guru spricht so über "Karma".

Erinnern wir uns an den Versuch, um den es hier geht: Versuchspersonen wurde alles verboten, was unsere Entscheidungen sonst auszeichnet: etwa Abwägen oder Vorausplanen. Wer nicht spontan oder zufällig genug die Knöpfe drückte, wurde erst gar nicht zum Experiment zugelassen oder sogar nach Datenerhebung ausgeschlossen.

Von der ohnehin schon exklusiven Gruppe der rechtshändigen, 21- bis 30-Jährigen, erfüllte gerade einmal ein Drittel die Ansprüche der Hirnforscher. Was sagen dann aber die Ergebnisse noch über den Menschen aus, zumal die Wahl zwischen linkem oder rechtem Knopf völlig sinnlos war?! Natürlich werden diese wesentlichen Einschränkungen hinterher nicht mehr erwähnt. In ihrem neuen Buch hätten Haynes und Eckoldt dafür auf 300 Seiten genug Platz gehabt.