Hiroshima: Angriffsbefehl kam aus Deutschland

Seite 2: "Babies satisfactorily born" - Entscheidungsfindung in Potsdam

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Als der erste Atomtest durchgeführt wurde, hielt sich US-Präsident nicht im Weißen Haus in Washington auf, sondern er weilte in Potsdam vor den Toren der früheren deutschen Reichhauptstadt, um an der gleichnamigen Konferenz teilzunehmen. Also musste er von hier aus seinen Einsatzbefehl erteilen oder den ersten Angriff auf die Zeit nach seiner Rückkehr verschieben. Letzteres kam aber aus politischen Gründen nicht in Frage, da die sowjetische Führung ihre Kriegserklärung an Japan vorbereitete, um dort eigene Geländegewinne zu erzielen. Um dies zu verhindern, wollte die US-Regierung eine japanische Kapitulation durch einen Atomwaffeneinsatz erzwingen.

Die Anreise von den USA nach Potsdam dauerte damals eineinhalb Wochen: Harry S. Truman reiste am 6. Juli 1945 mit dem Zug von Washington DC nach Newport in Virginia. Dort bestieg der Präsident den Kreuzer "CA-31 USS AUGUSTA", der am 15. Juli in Antwerpen (Belgien) anlegte. Von dort ging es mit dem Pkw weiter nach Brüssel. Hier bestieg Truman die Präsidentenmaschine Douglas "VC-54C SKYMASTER SACRED COW", die ihn noch am gleichen Tag zum Fliegerhorst in Berlin-Gatow flog. Für die Dauer der Konferenz wurde er bis zum 2. August in einer Villa in Potsdam-Neubabelsberg am Griebnitzsee untergebracht.

Zu Beginn der Potsdam-Konferenz: Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin. Bild: nara.gov

Truman nannte die Villa "Little White House". Eigentlich hieß das Objekt "Haus Erlenkamp" und war 1891 von dem Verleger Carl Müller-Grote in der damaligen Kaiserstraße Nr. 2 erbaut worden. Mit der Machtübernahme der Nazis wurde die Straße kurzzeitig in "Straße der SA" umbenannt. Am 8. Mai 1945 requirierte die sowjetische Besatzungsmacht das Gebäude, und die Bewohner wurden kurzfristig vertrieben. Zusammen mit dem US-Präsidenten waren sein neuernannter Außenminister James Francis Byrnes und der Militärberater Admiral William Daniel Leahy ebenfalls in dem Haus untergebracht. Unter dem Dach hatte der Nachrichtenoffizier George M. Elsey als Chriffrierspezialist seine Funkstelle.

Josef Wissarionowitsch Stalin residierte ein paar Meter weiter in der Villa Herpich (heute: Karl-Marx-Str. 27); Churchill bzw. Attlee waren in der Villa Urbig (heute: Virchowstr. 23) einquartiert.

Nach dem Bombentest am 16. Juli wurde US-Präsident Truman noch am selben Tag von dem "Erfolg" unterrichtet. Der beauftragte Sonderassistent des Pentagons, George Leslie Harrison, schickte ein erstes Kurztelegramm, das um 19.30 Uhr in Potsdam eintraf: "Babies satisfactorily born". Bald darauf traf ein zweites Telegramm von Harrison ein:

Operation heute morgen erfolgt. Diagnose noch nicht vollständig, aber Ergebnisse erscheinen befriedigend und übertreffen bereits Erwartungen. Mitteilung an die Ortspresse erforderlich, weil das Interesse sich auf eine große Entfernung ausdehnt. Dr. Groves ist erfreut. Er kehrt morgen zurück. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.

George Harrison

Die US-Administration ließ es sich nicht nehmen, ihre damaligen Bündnispartner - in unterschiedlichem Umfang - über den Erfolg zu informieren. Da das Manhattan Project mit starker Beteiligung britischer Wissenschaftler durchgeführt wurde, unterrichtete man Winston Churchill am 17. Juli, dass man am Vortag einen ersten Prototypen erfolgreich getestet hatte. Allerdings konnte Churchill die militärpolitische Dimension dieser Nachricht nicht sofort erfassen.

Am 24. Juli teilte Truman Stalin in einer Konferenzpause betont beiläufig mit, seine Rüstungsingenieure hätten ihn unterrichtet, dass man "a new weapon of unusual destructive force" entwickelt hätte. Stalin nahm diese Information betont gelassen zur Kenntnis, ohne eine Nachfrage zu stellen, und wünschte lediglich "good use of it against the Japanese", was wiederum Truman verwunderte. Was die US-Regierung damals noch nicht wusste war, dass Stalin über mehrere Spione unter den Wissenschaftlern im US-Atomwaffenlaboratorium in Los Alamos im Detail über das amerikanische Atombombenprojekt informiert war. Erst fünf Jahre später wurde der deutsch-britische Atomwissenschaftler Klaus Fuchs in Großbritannien wegen Landesverrats festgenommen.

Sitzung am 19. Juli 1945. Bild: nara.gov

Für die politischen Entscheidungsträger war ein Einsatz der Atombombe gegen japanische Städte zu keinem Zeitpunkt fraglich. Nachdem man drei Jahre lang mit tausenden von Wissenschaftlern und Milliardenkosten die Bombe entwickelt hatte, schien es nun eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass der Staatsapparat seine Bombe auch einsetzte. Aber es meldeten sich auch kritische Stimmen zu Wort.

Unter den beteiligten Nuklearphysikern hatte sich zunächst Leo Szilárd, der 1939 die Entwicklung einer US-Atombombe selbst angestoßen hatte, gegen einen Atombombenabwurf ausgesprochen. Auch der wissenschaftliche Leiter des Projektes, J. Robert Oppenheimer, sprach sich nun gegen einen Einsatz der Bombe aus. Beide wurden dafür später wie Landesverräter behandelt. Bei den Militärs sprachen sich General Dwight David Eisenhower, Admiral Ernest Joseph King und Admiral William Daniel Leahy gegen einen Atomangriff aus, auch der Oberbefehlshaber der Army Air Force General Henry Harley Arnold meldete Bedenken an. Die kritischen Diplomaten wurden angeführt vom früheren US-Botschafter in Japan und Staatssekretär im US Foreign Office Joseph Clark Grew, der von April bis Juli 1945 als geschäftsführender Außenminister amtierte.

Einen nennenswerten Einfluss auf die Entscheidungsfindung hatten diese Kritiker nicht. Unter den verantwortlichen Politikern und Militärs entbrannte lediglich ein Streit darüber, welche japanischen Städte auf die potentielle Zielliste aufgenommen und wann der Angriff durchgeführt werden sollte. Die ursprüngliche Liste umfasste vier Ziele: Hiroshima, Kokura, Kyoto und Niigata.

Der Zielausschuss des Pentagons empfahl Kyoto als Primärziel festzulegen. Aber Kyoto war eine historisch und kulturell überaus wichtige Stadt und ein Zentrum des Schintoismus. Daher hatte insbesondere Kriegsminister Henry Lewis Stimson Bedenken gegen einen Angriff auf diese Metropole. In seinem Tagebuch notierte er damals: "Wenn man diese Stadt als mögliches Ziel der Bombe mit einbezog, dann musste ein solcher Akt der Mutwilligkeit noch lange Zeit nach dem Krieg bei den Japanern eine solche Verbitterung hervorrufen, dass sie sich eher noch mit den Russen als mit uns abfinden würden."

Am 22. Juli verständigten sich Truman und Stimson in einem Vier-Augen-Gespräch in Potsdam darauf, dass Kyoto als Ziel nicht in Frage kam und stattdessen Hiroshima das "first target" sein sollte. In einem weiteren Gespräch zwischen Stimson und General Arnold am selben Tag empfahl letzterer, statt Kyoto sollte Nagasaki auf die Zielliste gesetzt werden.

Am Abend des 24. Juli traf ein weiteres Telegramm von Harrison ein, das aufgrund der Wetterverhältnisse die Angriffschancen verklausuliert bewertete:

Eine Operation ist vom 1. August an jederzeit möglich, je nach Vorbereitungsstand des Patienten und der Wetterbedingungen. Vom Zustand des Patienten aus gesehen nur geringere Chancen vom 1. bis 3. August, gute Chancen vom 4. bis 5. August und nahezu sichere vor dem 10. August, sofern kein unerwarteter Rückfall eintritt.

George Harrison

Als das Telex in Potsdam-Neubabelsberg eintraf, rief Truman seine engsten Mitarbeiter zu einer spontanen Beratung zusammen: Kriegsminister Henry Lewis Stimson, Luftgeneral Henry Harley Arnold und den Generalstabchef General George Catlett Marshall. Bei dieser Diskussion wurde festgelegt, dass vier Städte auf der veränderten Zielliste verblieben: Hiroshima, Kokura, Niigata and Nagasaki.

Diese präsidiale Entscheidung für einen Atombombenangriff auf Japan wurde unmittelbar nach Washington an den Zielausschuss im Pentagon übermittelt. Dort wurde die Auswahl von Nagasaki kritisiert. Der beteiligte Brigadegeneral Thomas Francis Farrell berichtete dazu:

Die Sitzung fand teils in General Handys Büro (Generalleutnant Thomas Troy Handy vertrat General Marshall als amtierenden Stabschef, solange dieser in Potsdam weilte, G. P.) teils in anderen Räumen statt, aber unter den Anwesenden befanden sich General Spaatz, General Eaker, General Craig. Ich vertrat General Groves. Ein Offizier … traf mit einem Schreiben aus Potsdam ein, das eine Empfehlung General Arnolds enthielt, Nagasaki als Ziel miteinzubeziehen.

Eine Anzahl von Offizieren machte Bedenken geltend, und für General Groves erhob ich den Einwand, die Stadt habe nicht die optimale Struktur und Dimension als Angriffsziel für die großen Bomben. Nagasaki war eine lange und schmale Stadt und lag zwischen Hügelketten eingebettet. Dadurch würde die Druckwirkung der Bomben beeinträchtigt werden. Die Stadt war auch schon bei verschiedenen Gelegenheiten ziemlich stark bombardiert worden, und deshalb würde es schwierig sein, die Wirkung der Atombombe über die existierenden Schäden hinaus festzustellen.

Thomas Farrell

Über diese Frage wurden zwischen Washington und Potsdam mehrere Telegramme ausgetauscht, jedoch blieb es bei der Entscheidung, Nagasaki als Eventualziel einzuplanen.

Atombombe Little Boy, mit der Hiroshima zerstört wurde. Bild: archives.gov

Daraufhin setzte Generalleutnant Thomas Troy Handy am 25. Juli 1945 einen schriftlichen militärischen Operationsbefehl auf. Dieser war an den Commanding General United States Army Strategic Air Forces in the Pacific, General Carl Andrew Spaatz, gerichtet. Das Schreiben basierte auf einem Textentwurf von Generalmajor Leslie Richard Groves vom 23. Juli:

The 509th Composite Group, 20th Air Force will deliver its first special bomb as soon as weather will permit visual bombing after about 3 August 1945 on one of the targets: Hiroshima, Kokura, Niigata and Nagasaki. To carry military and civilian scientific personnel from the War Department to observe and record the effects of the explosion of the bomb, additional aircraft will accompany the airplane carrying the bomb.

Leslie Richard Groves

Daraufhin gab das Hauptquartier der 20th Air Force, die auf der Pazifikinsel Guam stationiert war, den militärischen Angriffsbefehl "Number 13" heraus: "20. Luftflotte greift am 6. August Ziele in Japan an. Hauptziel: Industrieanlagen der Stadt Hiroshima."