"Ich verstehe nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht"

Seite 4: "Die Gefahr geht davon aus, dass sich der Staat in immer mehr Bereiche der Wirtschaft einmischt"

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Schlimme Äußerungen, die von Politkern gegen die Ärmsten in unserer Gesellschaft gerichtet waren, gibt es viele . Denken Sie nur daran, wie Oswald Metzger, damals noch Politiker der Grünen, gesagt hat, viele Kinder der Sozialhilfeempfänger würden "verdickt und verdummt" aufwachsen. Im Zuge der Agenda-Reformen wurde eine regelrechte Hetzjagd gegen die Ärmsten betrieben - medial und politisch.

Und zu dem Kommentar von Augstein: Die Überschrift "Zur Hölle mit den Reichen" macht eben das, was wir oft in Überschriften finden: zuspitzen. Aber nochmal zu den "kapitalistischen Reformen", die Sie ja gerne stärker durchgesetzt sehen möchten: Wie sollten diese denn konkret ablaufen. Was müsste aus Ihrer Sicht in Deutschland, aber auch in anderen Ländern getan werden?

Rainer Zitelmann: Ich bestreite nicht, dass es auch Vorurteile gegen Arme gibt, aber ich bestreite, dass man einen Artikel im SPIEGEL veröffentlichen würde mit der Überschrift "Zur Hölle mit den Armen". Und dass das nicht vorstellbar ist, ist gut so. Oder würden Sie das dann auch mit dem Hinweis rechtfertigen, das sei eben eine normale journalistische Zuspitzung? Also ich messe hier nicht mit zweierlei Maß, wenn es um Vorurteile gegen Arme, Reiche oder andere Gruppen der Gesellschaft gehe.

Nun zu Ihrer Frage, welche Reformen ich mir wünschen würde. Ich nenne nur mal ein paar Beispiele, damit Sie sehen, was ich meine: Erstens würde ich mir wünschen, dass sich unsere Regierung wieder an den Maastrichter Vertrag hält…

Q.: … statt ihn laufend zu brechen.

A. Genau. Ich meine hier vor allem den Verstoß gegen die "No-bailout"-Klausel. Zweitens würde ich mir wünschen, dass im Bereich des Baurechtes erheblich entbürokratisiert wird, weil durch alle möglichen unnötigen Vorschriften zum Energiesparen und durch andere Öko-Vorschriften das Bauen massiv behindert und verteuert wird, was zur Wohnungsknappheit in den Metropolen beiträgt.

Drittens würde ich mir wünschen, dass das Steuerrecht massiv vereinfacht wird und Steuern für alle gesenkt werden, was keineswegs zu geringeren Steuereinnahmen führen muss. Viertens würde ich mir wünschen, dass nicht bei jeder Bankenkrise Banken auf Kosten der Steuerzahler gerettet werden, denn das hat mit Marktwirtschaft nicht das Geringste zu tun. Es ist jedoch immer wieder geschehen und wird auch immer wieder geschehen. Fünftens verstehe ich nicht, warum der Staat Anteile an der Telekom besitzen muss. Mit dem Geld, das durch den Verkauf dieser Anteile eingenommen würde, könnte man Sinnvolleres tun, zum Beispiel für die innere Sicherheit.

Sechstens würde ich mir wünschen, dass man die planwirtschaftliche "Energiewende" wieder rückgängig macht und im Energiebereich wieder Marktwirtschaft statt Planwirtschaft herrscht.

Sie schreiben in Ihrem Buch ja selbst, dass wir nicht in einer Zeit leben, in der eine Art kommunistischer Umsturz bevor steht. Warum also überhaupt dieses Buch und dieses flammende Plädoyer für den Kapitalismus?

Rainer Zitelmann: Die Gefahr für den Kapitalismus ist heute in der Tat weniger, dass eine sozialistische Revolution kommt und alle Betriebe verstaatlicht. Die Gefahr geht davon aus, dass sich der Staat in immer mehr Bereiche der Wirtschaft einmischt - die Energiewirtschaft und die Wohnungswirtschaft sind nur zwei von vielen Beispielen. Meine Kritik richtet sich jedoch vor allem gegen die Zentralbanken, die sich ähnlich aufspielen wie die mächtigen Planungsbehörden einst in sozialistischen Ländern.

Was sollten diese stattdessen tun?

Rainer Zitelmann: Die EZB sollte sich genau auf die Aufgabe beschränken, der ihr laut Gesetz zukommt, sich nämlich um die Geldwertstabilität zu kümmern. Aber heute überzieht die EZB massiv ihren Kompetenzbereich, hebelt Marktgesetze aus, kauft in gigantischem Stil Anleihen und schafft faktisch den Zins ab.

Durch die Politik der Zentralbanken, in diesem Fall durch die Fed, ist es schon in der Vergangenheit zu riesigen Problemen gekommen: Ich erinnere an die Hauspreiskrise in den USA, die schließlich zur Finanzkrise führte. Das führte uns an den Rand einer Weltwirtschaftskrise.

Und Sie befürchten, dass wir auf eine noch größere Krise zusteuern.

Rainer Zitelmann: Ja, weil die Politik der Zentralbanken zu erheblichen Fehlallokationen führt und neue Blasen erzeugt. Ein Hohn ist es dann, wenn solche Krisen als Beleg für ein angebliches Marktversagen gewertet werden, obwohl es tatsächlich ein Staatsversagen war. In meinem Buch habe ich ein ganzes Kapitel den Ursachen der Finanzkrise gewidmet und gezeigt, dass diese nicht - wie allgemein behauptet - ein Ergebnis von zu viel Deregulierung und "neoliberaler Politik" war, sondern ganz im Gegenteil eine direkte Folge unsinniger Eingriffe des Staates und der Zentralbank.

Auch weltweit mache ich mir große Sorgen, wenn ich etwa sehe, wie Trump den Freihandel zunehmend in Frage stellt, der aber eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Marktwirtschaft ist. Mein Buch habe ich geschrieben, weil immer mehr die Vorstellung vorherrscht, der "Markt" habe versagt und der allmächtige Staat müsse überall eingreifen zum Segen der Menschen.

Der Staat soll sich auf das konzentrieren, was seine Kernaufgabe ist, nämlich die innere und die äußere Sicherheit zu garantieren. Hier versagt unser Staat bekanntlich kläglich. Stattdessen steht im Koalitionsvertrag der GroKo, dass die Politik die Menschen vor "Einsamkeit" schützen wolle. Ich verstehe auch nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht.

In Ihrem Buch setzen Sie sich auch damit auseinander, warum Intellektuelle angeblich mehrheitlich den Kapitalismus nicht mögen. Was wollen Sie damit erreichen?

Rainer Zitelmann: Meine kühne Hoffnung ist, dass einige Intellektuelle mal über ihre eigenen Vorurteile nachdenken, statt nur über die von anderen Menschen. Es ist doch erklärungsbedürftig, dass der Kapitalismus, der mehr zur Überwindung der Armut beigetragen hat als jedes andere System in der Geschichte, von Intellektuellen so scharf abgelehnt wird, während selbst die schlimmsten sozialistischen Diktaturen von führenden Intellektuellen im 20. Jahrhundert immer wieder verharmlost oder sogar gepriesen wurden.

Ich versuche in dem Kapitel eine Erklärung dafür zu geben, warum Intellektuelle - übrigens keineswegs nur Linksintellektuelle, sondern auch Rechtsintellektuelle - den Kapitalismus so barsch ablehnen. Was mich ärgert ist, dass dies nicht einmal als erklärungsbedürftig betrachtet wird. Aus meiner Sicht ist der Antikapitalismus so etwas wie eine identitätsstiftende Religion für viele Intellektuelle.