"Ich verstehe nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht"

Seite 2: Erhöhung des Kapitalismus-Anteils führt zur Senkung der Armut

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Der Teufel liegt bei Ihren Ausführungen im Detail. Auch wenn tatsächlich der verstärkte Einsatz von kapitalistischen Elementen in Ländern wie China zur ökonomischen Verbesserung der Menschen beigetragen hat, sagt das aber erstmal noch nichts darüber aus, wie ein völlig entfesselter Kapitalismus sich später auswirken wird. Außerdem: Was heißt es, wenn Sie von einer "Mehrheit der Menschen" sprechen? Wir sehen überall auf der Welt viel Armut - letztlich auch in kapitalistischen Ländern. Hinzu kommt: Wenn ich Sie richtig verstehe, plädieren Sie eben tatsächlich für einen Kapitalismus, der sich selbst überlassen ist und Politik nur noch minimal eingreift. Damit ist der Konzentration von Reichtum und schließlich von Macht und Einfluss in den Händen weniger Akteure Tür und Tor geöffnet. Oder sehen Sie das anders?

Rainer Zitelmann:: Also ich habe nicht von einem "wild entfesselten Kapitalismus" gesprochen, sondern davon, was passiert, wenn der "Kapitalismus"-Anteil in einer Volkswirtschaft erhöht wird. China ist nur ein Beispiel. Schauen Sie sich Korea an: In den 60er-Jahren war das ein armes Land, so wie heute viele afrikanische Länder. Heute ist Nordkorea immer noch bettelarm, Südkorea dagegen gehört zu den führenden Exportnationen und den Menschen geht es sehr viel besser. Besser als früher und besser als in Nordkorea. Was ist passiert? Südkorea hat sich - anders als Nordkorea - für den kapitalistischen Weg entschieden.

Ja, Armut gibt es überall auf der Welt. Viel zu viel. Aber die Armut ist in den letzten Jahrzehnten stärker gesunken als jemals zuvor. Und das lag genau daran, dass Länder wie China und Indien den Kapitalismus-Anteil erhöht haben. Ende der 50er-Jahre sind in China bei Maos Experiment des "Großen Sprungs nach vorne" noch 45 Millionen Menschen verhungert. Heute ist China die führende Exportnation und den Menschen geht es sehr viel besser.

Und das ist kein Einzelbeispiel: Die Weltbank veröffentlicht regelmäßig Daten zur Armutsentwicklung in den Entwicklungsländern. Eine Untersuchung belegt, dass die Rate extremer Armut in den am wenigsten kapitalistischen Entwicklungsländern Ländern bei 41,5 Prozent lag, jedoch nur bei 2,7 Prozent unter den Entwicklungsländern mit dem relativ höchsten Kapitalismus-Anteil.

Aber Sie plädieren doch dafür, dass sich "der Staat" weitestgehend aus allem zurückzieht und dem Kapitalismus seinen Lauf lässt. Was ist das denn sonst als ein "entfesselter Kapitalismus". Oder habe ich Sie falsch verstanden?

Rainer Zitelmann: Für die Leser, die mein Buch nicht gelesen haben: Das ist keine polemische Streitschrift, sondern ein wirtschaftshistorisches Buch. Ich schaue mir an, was passiert ist, wenn sich der Staatseinfluss auf die Wirtschaft massiv ausgeweitet hat und was geschehen ist, wenn er reduziert wurde. Das zeige ich an praktischen Beispielen.

Nehmen Sie Schweden in den 70er- und 80er Jahren: Das war so ein System, wie es sich viele Antikapitalisten wünschen: Extrem hohe Steuern, extreme Regulierungen, hoher Staatsanteil an der Wirtschaft. Bekanntlich ist Schweden damit vor die Wand gefahren. Es ging den Schweden in dem Maße besser (ab den 90er-Jahren), wie es wieder kapitalistischer wurde.

Oder nehmen Sie Großbritannien. Ich denke, dass viele Leser bestimmt Thatcher nicht leiden können: Aber schauen Sie mal, wie schlimm die Verhältnisse in Großbritannien in den 60er- und 70er-Jahren waren, als der Steuersatz bis zu 98% betrug, weite Teile der Wirtschaft sozialisiert waren und die Macht der Gewerkschaften sehr hoch war: Das Land war der "kranke Mann Europas" mit hoher Inflation und Arbeitslosigkeit, durch Dauerstreiks lahmgelegt. Thatcher senkte die Steuern, privatisierte Staatsunternehmen und deregulierte - und den Menschen ging es danach besser. Das Gegenbeispiel, wo der Staatseinfluss massiv ausgeweitet wird, können Sie derzeit in Venezuela in seinen Auswirkungen sehen.

Das ist jetzt aber etwas zu einfach. Die von Ihnen angeführten Beispiele verweisen erstmal nur darauf, dass es darauf ankommt, welche staatliche Eingriffe durchgeführt werden und vor allem eben auch auf welche Weise. Wie sollte der Kapitalismus Ihrer Meinung nach denn angelegt sein?

Rainer Zitelmann: Genau darum geht es ja: Welche Rolle soll der Staat spielen, welche der Markt? Das ist doch die Kernfrage, um die es in der ganzen Diskussion geht.

Zu Ihrer Frage, wie der Kapitalismus "angelegt sein sollte": Ich habe kein Modell, keine Utopie, keine Wunschvorstellung einer perfekten Gesellschaft. Das ist ja genau das, was ich den Antikapitalisten vorwerfe: Die malen sich irgendwelche idealen Gesellschaften aus und vergleichen damit dann die Realität. Die Realität kommt dann naturgemäß immer schlecht weg. Ich vergleiche nicht irgendwelche Kopfkonstrukte mit der Realität, sondern ich vergleiche in meinem Buch Dinge, die man vergleichen kann.

Nehmen Sie Venezuela und Chile. Venezuela ist das am wenigsten kapitalistische Land in Südamerika, wo Hugo Chávez seinen "Sozialismus im 21. Jahrhundert" ausprobiert hat. Das Ergebnis: Im erdölreichsten Land der Welt hungern die Menschen, die Inflation ist so hoch wie nirgendwo sonst auf der Welt. Über eine Million Menschen haben das Land schon verlassen.

Vor fünf Jahren lobte Sahra Wagenknecht noch Chávez in höchsten Tönen und meinte, Venezuela beweise, dass ein anderes Wirtschaftssystem möglich sei. Aber genau dieses System ist wieder einmal - wie alle sozialistischen Experimente in der Geschichte - gescheitert. Chile dagegen ist eines der kapitalistischsten Länder auf der Welt. Und dort geht es den Menschen sehr, sehr viel besser.

"Kapitalistische Reformen": Steuersenkungen und Privatisierungen

In Ihrem Buch gibt es ein Kapitel mit dem Titel "Plädoyer für kapitalistische Reformen". Da äußern Sie doch gewisse Vorstellungen, wie Kapitalismus aussehen sollte bzw. was sich verändern müsste. Können Sie unseren Lesern sagen, wofür Sie plädieren?

Rainer Zitelmann: Mit "kapitalistischen Reformen" meine ich das, was man in Schweden ab Beginn der 90er-Jahre gemacht hat, ich meine Reformen, wie sie von Reagan und Thatcher in den 80er-Jahren in den USA und Großbritannien durchgeführt wurden, ich meine auch die heute so verhassten Reformen von Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010. Und nicht zuletzt meine ich Reformen, wie sie von Deng Xiaoping nach Maos Tod eingeleitet wurden.

All diese Reformen wurden nicht aus einer Laune heraus gemacht, sondern deshalb, weil die Wirtschaft in den betreffenden Ländern zuvor in einer schlimmen Lage war. Am drastischsten war das in Großbritannien in den 70er-Jahren. Lesen Sie mal "SPIEGEL"-Berichte aus der damaligen Zeit - ich habe sie ausführlich in meinem Buch zitiert.

Und mein Befund ist: Wenn die Rolle des Staates zu stark ausgeweitet wurde, wenn der Markt zu weit zurückgedrängt wurde, dann entstehen erhebliche Probleme, die nur durch kapitalistische Reformen gelöst werden können. Diese Reformen beinhalten meist Steuersenkungen und Privatisierungen. Ganz generell kann man den Geist solcher Reformen auf den Punkt bringen: Mehr Vertrauen in die spontanen Kräfte des Marktes, Misstrauen gegen einen allmächtigen Staat.

Heute mache ich mir vor allem Sorgen über die Rolle der Zentralbanken. Die EZB hat Marktmechanismen im Finanzsystem durch ihre Nullzinspolitik und durch die Anleihenkäufe weitgehend ausgehebelt. Die Ursachen der Finanzkrise wurden von der Politik weder erkannt noch angegangen.

Aus meiner Sicht sind wir noch mitten in der Finanzkrise, nur dass eben die Symptome nicht mehr sichtbar sind. Aber wer würde auf die Idee kommen, einen Heroinabhängigen für gesund zu erklären, nur weil er durch regelmäßige Gaben von Methadon keine offensichtlichen Entzugserscheinungen mehr hat? Die Anleihenkäufe und die Nullzinsen sind das Methadon im Finanzbereich, und der Markt ist weitgehend ausgehebelt. Das macht mir Sorgen.