Ich war da, und das war die Macht

"Eine Messe ist möglich" - François Mitterand: eine Gestalt wie aus einem Roman?

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"Die Sphinx" oder "den Florentiner" nannte man François Mitterand schon zu Lebzeiten. Auch eine Dekade nach seinem Tod am 8. Januar 1996 gibt der vierte Präsident der V. Republik den Franzosen viele Rätsel auf. Wie ein republikanischer Monarch versöhnte er die Linke mit der Macht und wahrte Distanz.

Die Formel, dass es mitunter große Männer sind, "die Geschichte machen" steht spätestens, seit sie der Historiker Heinrich von Treitschke im 19. Jahrhundert zu Papier brachte, unter Verdacht. Nicht allein ist das Problem, dass man sie heute - nach Margret Thatcher und vor Angela Merkel - doch bitteschön geschlechtsneutral zu formulieren hätte. Sorge bereitet allen Wohlmeinenden besonders die Tatsache, dass, wer so spricht und schreibt, "die Strukturen", Herkunft und Prägung und alle anderen wichtigen Faktoren vernachlässigen könnte, die das Handeln des Einzelnen determinieren.

Werden heute vielleicht die "Klassen" nicht mehr so wichtig genommen wie einst, liebt man dafür "Kultur", "Mentalität", "symbolische Ordnungen", und neuerdings gar die Biologie als eigentliche Wirkungskräfte der Geschichte um so mehr - Hauptsache der Einzelne tut, was er tut, nicht weil er es will, sondern weil er nicht anders kann.

Derartiges Misstrauen gegen Individualität hat wohl auch damit zu tun, dass sie, konsequent zu Ende gedacht, dem Zufall Tür und Tor öffnen müsste. Doch stößt solche Entlastung von Freiheit in jenen Fällen an ihre systematische Grenze, in denen nicht zu leugnen ist, dass der Einzelne doch in seiner Individualität ganz persönlich den Gang politischer und anderer Ereignisse beeinflussen kann. Wie sähe die deutsche Geschichte ohne Hitler aus? Was wäre in der Kuba-Krise geschehen, wenn der Präsident nicht Kennedy sondern Nixon geheißen hätte? Wie wäre die Weltgeschichte ohne Gorbatschow verlaufen? Und wie ohne Mitterand?

Moderner Borgia, politische Ikone?

Auch eine Dekade nach seinem Tod am 8. Januar 1996 gibt der vierte Präsident der V. Republik den Franzosen viele Rätsel auf. Die moralische wie politische Kritik, die Mitterand seit seinem politischen Debüt im Jahr 1943 begleitete, ist keineswegs verstummt. Immer wieder erscheinen Bücher mit neuen "Enthüllungen" über das böse Treiben des Präsidenten, über größere und kleinere Geheimnisse, über sein Verhältnis zu Kollaboration und Resistance, zu Juden und Faschisten, über seine Frauenverhältnisse, die uneheliche Tochter und die Überwachung von Mitwissern solcher privaten Geheimnisse.

Mitterand dürfte das geahnt haben: Eine Sphinx, das wusste der humanistisch Gebildete, verführt mit den Rätseln, die sie aufgibt, auch zu immer neuen Anstrengungen, diese zu lösen - wenn dies auch, zumindest in der Mythologie, letztlich immer erfolglos bleiben muss.

Zugleich relativiert sich die schwarze Legende, in der Mitterand mitunter fast als ein moderner Borgia erscheint, der opportunistisch wie egozentrisch nichts als seinem Machtwillen diente, vor Intrigen und Verbrechen, Lügen sowieso, nicht zurückschreckte und nichts hinterließ, als einen zum Sündenbabel heruntergekommenen Staat, an dem sich die Hyänen der Korruption und des Rechtsextremismus laben. Andere Veröffentlichungen zollen dem Verstorbenen Respekt oder setzen ihre Verfasser zumindest in ein rechtes Verhältnis zu jenem. Fazit all dieser Publikationen: Zu seinem zehnten Todestag ist François Mitterand in Frankreich kaum weniger präsent als zu Lebzeiten.

Zugleich ist er beliebter und geachteter denn je. Vor wenigen Tagen erst wurde eine Umfrage veröffentlicht, nach der die Franzosen Mitterand vor Charles de Gaulle als den "besten Präsidenten" der V. Republik nannten. Wie de Gaulle ist Mitterand längst über die Fronten der Parteizugehörigkeit in den Rang einer politischen Ikone erhoben. Das hat mehrere Ursachen.

"Das Leben ändern"

Da wären zunächst die objektiven Leistungen des Politikers Mitterand: Nach diversen Ministerposten während der IV. Republik wurde er während der Staatskrise 1958 und der zweiten Präsidentschaft de Gaulles zum Führer der Opposition. In den Sechziger Jahren gelang es ihm, peu a peu die zersplitterte nichtkommunistische Linke zu einigen und 1971 schließlich zur neu gegründeten "Parti Socialiste" zusammenzuschließen. Im folgenden Jahrzehnt zimmerte er den Schulterschluss und das höchst umstrittene Wahlbündnis mit der Parti Communiste, ohne die Öffnung zur bürgerlichen Mitte rückgängig zu machen.

Trotzdem sahen rechte und liberale Kommentatoren nach Mitterands Wahltriumph am 10.Mai 1981 (mit 52 Prozent der Stimmen) den Sieg von Gulag und Totalitarismus: "Wir fürchteten die Exzesse der lyrischen Illusion." schrieb der damalige "Figaro"-Kommentator Jean d'Ormesson in einem Rückblick:

Der 10. Mai erschien mir wie ein Donnerschlag. Als ob Frankreich das Lager der Gegner der Freiheit gewählt hätte. Ich glaube weiterhin, dass diese Gefahr tatsächlich bestand, und bedeutende Köpfe der Linken geben dies inzwischen durchaus zu.

Schließlich Mitterands Leistungen während seiner Präsidentschaft: "Die politische Mehrheit der Franzosen stimmt jetzt mit der sozialen Mehrheit überein." sagte er am Tag nach seiner Wahl, zu der er mit 110 Wahlversprechen angetreten war. "Changer la vie", "Das Leben ändern" lautete der Titel des Wahlprogramms. Tatsächlich brachte der rebellische Realist Mitterand mit seinem kühlen Wirklichkeitssinn auch die "Phantasie an die Macht", bewies, dass Politik noch gestalten und aktiv handeln kann, nicht nur verwalten und reagieren.

So verwirklichte er die Utopie eines sozialeren, freiheitlicheren Staates. Wichtige Reformen prägten die Innenpolitik: Die Todesstrafe wurde abgeschafft, auch die gegen Homosexuelle gerichteten Straftatbestände, das Rentenalter auf 60 Jahre vorverlegt, das Kindergeld aufgestockt, eine fünfte bezahlte Urlaubswoche ebenso eingeführt, wie ein soziales Mindesteinkommen und die 39-Stunden-Woche.

Die Kulturpolitik erhielt gesetzlich garantiert ein Prozent des Staatshaushalts. Mit einer Baupolitik, wie man sie seit Napoleon III. und den ersten Jahren der III. Republik nicht mehr erlebt hatte, schuf Mitterand nicht nur dauerhafte Erinnerungen an seine Regierungszeit, er renovierte den Louvre, ließ die Bastille-Oper, das Institut du Monde arabe, das Finanzministerium Bercy, die Cité des Sciences und die Cité de la Musique und die Nationalbibliothek neu bauen, sowie den Grand Arche de La Revolution im Viertel La Defense - Architektur als Ausdruck und gelungene Symbiose von Schönheit und Macht.

Mein größtes Bedauern empfinde ich darüber, dass ich Frankreich während der schlimmsten Krise regieren musste und dass ich nicht die Arbeitslosigkeit beenden oder wenigstens lindern konnte, nicht mehr als es mein Vorgänger konnte und als es die anderen westlichen Regierungen konnten, ganz gleich was ihre politische Farbe war.

Ökonomisch beendete Mitterand die Inflationspolitik seiner konservativeren Vorgänger - die ihre Finanzkrisen mit ständigen Abwertungen und gelegentlichen Währungsreformen "lösten" und schloss sich der deutschen Währungspolitik an. Dabei wandelte sich Mitterand nicht vom Verstaatlicher zum Privatisierer. Neun große Industriekonzerne und 39 Banken wurden verstaatlicht. Weiterhin liegt die Staatsquote in Frankreich deutlich über der in Deutschland.

Indem er sie zur Mitregierung zwang, entzauberte Mitterand die Kommunisten. Die Einführung des Verhältniswahlrechts 1986 bot zwar den Rechtextremisten der "Front Nationale" neue Möglichkeiten, vor allem aber spaltete sie die Rechten und sicherte der PS für ein weiteres Jahrzehnt die Macht (Mitterand wurde 1988 wiedergewählt mit 54 Prozent). Auch solche Fähigkeit zum Machterhalt gehört zur Kunst des Regierens.

"Wir müssen all das tun, was nicht unmöglich ist."

Europapolitisch verabschiedete sich Mitterand von europäischen Sonderwegen und setzte eine Quasi-Neugründung der Brüsseler Institutionen durch - aus Einsicht, dass dies im Interesse Frankreichs war: "Trennt nie die Größe Frankreichs vom Aufbau Europas. das ist unsere neue Dimension und unsere Ambition fürs nächste Jahrhundert." Aus der reinen Wirtschafts-Gemeinschaft wurde eine politische Union mit gemeinsamer Währung.

Im Gegensatz zu deutschen Gepflogenheiten, schwache Politiker ins Brüsseler Austragsstüberl abzuschieben, setzte Mitterand mit Jacques Delors den zweiten Mann der PS als Präsident der EG- (später EU-)Kommission durch. Flankiert wurden solche Reformen durch die Vertiefung der Partnerschaft mit Deutschland. Vor allem die Untersuchungen Tilo Schaberts haben überzeugend die Legende zerstört, wonach Mitterrand die deutsche Vereinigung verhindern oder jedenfalls "bremsen" wollte. Im Gegenteil:

Das sowjetische Imperium wird von innen befallen werden. Dann können die untertanen Länder die Freiheit wieder finden, und die Deutschen, heute magnetisiert durch das andere Deutschland, bekommen alle ihre Chancen wieder. Das ist die Angelegenheit von ungefähr zwanzig Jahren, ein Problem der Geduld.

So zitiert Schabert die geradezu prophetischen Sätze Mitterands aus Protokollen eines seiner ersten Gespräche mit dem damals gerade neu gewählten deutschen Kanzler Helmut Kohl am 21. Oktober 1982. Sie zeigen: Der damals mit den Kommunisten koalierende Sozialist Mitterrand hielt schon zu Beginn seiner Präsidentschaft den Zerfall des Ostblocks für sicher, eine reine Zeitfrage, "ein Problem der Geduld." Bereits dessen Vorgänger Helmut Schmidt hatte Mitterand immer wieder mit seinen Ausführungen zur "Chance zur Wiedervereinigung" verblüfft.

Man könne doch wesentliche historische Realitäten nicht leugnen, auch wenn sie im Widerspruch zu aktuellen Wirklichkeiten stünden erinnerte Mitterand in einer Formulierung die in ihrer Konfrontation zwischen "Wesen" und "Aktualität" an Hegels "um so schlimmer für die Tatsachen" erinnert.

Keine Nation konnte doch für immer zerrissen sein. Auch nicht die deutsche. Aber "Cela se fera en douceur." "In Sanftheit" werde die deutsche Frage gelöst werden "vielleicht sogar vor dem Ende des Jahrhunderts. Es werden keine Generationen nötig sein." In diesen, von Schabert ausführlich zitierten Protokollen beweist Mitterand einen Freiheitssinn, der in deutlichem Widerspruch zum Zerrbild des Opportunisten steht, das seine Gegner von ihm zeichnen. "Wir müssen all das tun, was nicht unmöglich ist." - dieser Satz bündelt Mitterands Verständnis von freier, souveräner und visionärer Politik.

Als es dann später wirklich zum Umsturz der europäischen Verhältnisse kam, unterstützte Mitterand die Außenpolitik der Regierung Kohl gegen Widerstände der britischen Premierministerin Thatcher wie gegen Washington. Zugleich drängte er darauf, dass sich die deutsche Wiedervereinigung nicht auf Kosten der Westbindung vollziehe. Im Verein mit dem damaligen westdeutschen Außenminister Genscher war Mitterand der Garant der Fortsetzung der bisherigen Außenpolitik der Bundesrepublik: Absage an jede Neutralisierung, Verzicht auf nukleare Bewaffnung, Anerkennung der Ostgrenzen.

Seinen einzigen Streit mit Kohl, so Mitterand in seinen Memoiren, habe sich um diese letzte Frage gedreht. Offenbar ließ es Kohl in dieser Frage an Widerstand gegen rechte Unionspolitiker fehlen. Geschichtlich gebildet erkannte Mitterrand die Gefahr eines neuerlichen deutschen "Sonderweges". "Die französische Nation", kommentiert Schabert, "geführt von Präsident Mitterrand, verknüpfte ihre eigene Zukunft mit der Zukunft Deutschlands und mit der Zukunft Europas. Frankreich brach mit sich selbst, mit seiner über Jahrhunderte eingeübten Gewohnheit, für jede Not der Nation nur wiederum durch die Nation eine Abhilfe zu suchen."

Mit Spott begegnete Mitterand in seinen Memoiren vor allem seinem Vorgänger Valerie Giscard d'Estaing: Mit den Jahreszeiten habe Giscard seine Meinung gewechselt: "Föderalist reinsten Wassers im Herbst, deutscher Konföderalist bei Wintersbeginn, Kreuzritter der Vereinigung beim ersten Frühlingsraunen." Dagegen lobte der Expräsident im Rückblick seinen Nachfolger und dessen Formel "Es geht nicht darum, das Europa von Jalta zu überwinden, um in das Europa von Sarajewo zurückzufallen."

Mitterand trat für die Erweiterung der Europäischen Union ein, für eine gemeinsame Außenpolitik:

Um Europa zu bauen, braucht man einen langen Atem, das ist kein Sprint. Denken Sie doch daran, dass wir mehrere Jahrhunderte der Konfrontation und des Ringens um Einfluss überwinden müssen. Trotzdem wird die Europa-Idee die beherrschende Idee der Zukunft sein, oder sie wird untergehen. Ich habe meine Wahl getroffen.

Deutlich näherte Mitterand Frankreich an Israel an, unterstützte die US-Nachrüstungspolitik kurz nach seinem ersten Wahlsieg. Er bekannte sich zur Force de frappe. So wahrte Mitterand im Außenpolitischen Frankreichs Souveränität und seine Stellung in der Welt. Selten hat ein französischer Präsident so viel geschaffen.

"Republikanischer Monarch"

Nicht weniger wichtig war die Form die Mitterand seiner Politik gab oder mehr noch: Dass er ihr überhaupt, vom ersten Moment seiner Regierung an bis in seine letzten Lebensstunden, eine Form gab. Man hat von Mitterand als von einem "Republikanischen Monarch" gesprochen, seine Gegner spotteten über ihn als "Pharao". Aber "Mitterrandismus" ist weniger absolutistisches Gebaren als das Bewusstsein, dass die Form nicht weniger wichtig ist als der Inhalt, und dem zufolge die Ästhetisierung der Macht, die nur für den verwerflich ist, der Macht per se für etwas Böses halten will.

Der Augenblick, in dem die Widersprüchlichkeit Mitterands zu einer singulären symbolischen Geste verschmolz, war der 21. Mai 1981. Die Ewigkeit im Blick legte der frisch gewählte Präsident im Pariser Pantheon am Grab des Sozialisten Jean Jaurès eine Rose nieder. Allein (aber von einer Kamera begleitet und somit zugleich vor aller Augen) schritt er ins Mausoleum, hielt dort ein paar Minuten inne - eine Geste der Zwiesprache mit den Toten. Er wolle "den Toten ähnlich sehen" sagte Milan Kundera einmal über Mitterand. Symbolisch verdichtet zeigt dieser Moment die Aufspaltung der zwei Körper des Präsidenten, der es nie zuließ, dass der öffentliche mit dem privaten zusammenfiel oder der eine vom anderen aufgefressen wurde - und der doch das Wechselverhältnis zwischen beiden öffentlich inszenierte.

Erst wenige Tage zuvor hatten die Ärzte bei ihm Krebs diagnostiziert. "Treffen Sie Ihre Dispositionen!" habe er gesagt, berichtete sein getreuer Berater Jacques Attali, er werde das Jahr nicht überleben. Dass er trotzdem 14 Jahre lebte, liegt an einer enormen persönlichen Lebensenergie und Willenskraft, die sich vermutlich auch daraus speiste, dass Mitterand immer davon ausging, dass seine Zeit eng bemessen war, und ihm nicht viel Zeit blieb.

Zugleich wollte er sich nie als siech, schmerzgeplagt und medikamentengeschwächt der Öffentlichkeit preisgeben. "Gegen den Willen eines Menschen kommt nichts an", formulierte er einmal seine Überzeugung. Aber all das ist zwar wahr, aber doch in der Rückschau noch zu nahe an einem christlichen Märtyrer-Konzept. Mitterand war zwar katholisch sozialisiert, aber im Leben ein großer Skeptiker und Agnostiker.

Man weiß inzwischen, dass Mitterrand noch den Zeitpunkt seines Todes selbst bestimmte, "à l'ancienne", "auf antike Art", wie "Le Monde" schrieb. Am Samstag, den 6. Januar 1996 fragte er seinen Arzt, wie lange er noch zu leben habe, wenn er außer Schmerzmitteln alle Medikamente absetzen würde. Nach der Auskunft "Ein bis drei Tage" schrieb der Ex-Präsident mit blauer Tinte auf drei Seiten präzise Anweisungen für seine Beisetzung nieder.

"Eine Messe ist möglich" heißt es darin, ein Schlüsselsatz für die schillernde Persönlichkeit François Mitterrands und seine Liebe für Zwischentöne. Am folgenden Tag nahm er dann Abschied von seiner Familie und ließ die Vorhänge seines Zimmers schließen. Am Morgen des 8. Januar war er tot. Dem langsamen öffentlichen Sterben hatte er den Tod vorgezogen.

"La force tranquille"

Mitterands Politikverständnis ist ein Verständnis für Gesten und für Timing. Politik ist eben mitunter "ein Problem der Geduld." Überliefert ist auch seine Bemerkung, man müsse "der Zeit Zeit lassen." Passenderweise hieß der Walkampfslogan für seine Wiederwahl 1988 "La force tranquille", "Die ruhige Kraft", ein Bild voller Selbstbeherrschung als Gegenentwurf zum gaullistischen Kandidaten Chirac. "Die wichtigste Qualität eines Staatsmannes ist die Gleichgültigkeit." fasste Mitterand seine Selbstbeobachtungen zusammen:

Das heißt, eine gewisse Distanz zur Brutalität der Ereignisse zu wahren, sich nicht beeindrucken zu lassen.

Nicht weniger als für politische Inhalte und eine bestimmte Ästhetik, steht Mitterand für Erfahrung einer bestimmten Generation: Die heute 45 bis 65jährigen erlebten den historischen Machtwechsel nach 23 Jahren Vorherrschaft der Rechten als ihren Sieg. Die Nacht des 10. Mai 1981 auf dem Pariser Bastille-Platz, wo damals Tausende von Anhängern der Linken den Wahlsieg trotz Gewitterregens bis in die frühen Morgenstunden feierten, gehört zu den magisch-romantischen Momenten der französischen Geschichte: Ein Augenblick voll reiner Hoffnung.

Die Leute tanzten auf den Straßen. Wildfremde Menschen fielen sich um den Hals und schenkten sich rote Rosen. Die Kneipen machten die ganze Nacht nicht zu - ein exzessiver Freudentaumel, die ganze Nation wirkte bekifft.

der damalige ARD-Korrespondent Ulrich Wickert

Die Erinnerung an Mitterand ist die Erinnerung an jene Zeit, in der Politik unbestritten den Anspruch erheben durfte, das Leben zu verändern - voller Nostalgie und Wehmut. Legenden beherrschen Mitterands Verhältnis zum Vichy-Regime und zum Judentum - woran Mitterands Geheimniskrämerei nicht unschuldig ist. Mitterand begann als Anhänger der Rechten und unternahm Anstrengungen, das Kollaborateursregime von Vichy aus seiner eigenen Vita zu verdrängen. Vor allem Scham über diesen Teil seiner Vergangenheit dürfte der Grund dafür gewesen sein. Für ernstzunehmende Historiker ist das Thema längst erledigt. Ihnen gilt Mitterrand als typischer "vichysto-résistant", ein Anhänger des Maréchal Petain, der über dessen Politik zum eindeutigen Widerstandskämpfer wurde.

Im Gegensatz zu vielen Landsleuten war Mitterand ab 1943 ein offener Anhänger der Exilregierung de Gaulles. Kein ehrloser Weg. Als Präsident ging Mitterand in der Anerkennung der französischen Verantwortung für die Verbrechen Vichys weiter als jeder Präsident vor ihm. Doch er ließ auch am Grab Pétains einen Kranz niederlegen. Petain war schließlich auch der Sieger von Verdun.

Politik "à l'ancienne"

Bis heute hat sich die "Parti Socialiste" PS nicht vom Ende der Ära Mitterands erholt und steht ziemlich miserabel da: Gepeinigt von Korruptionsskandalen, geschüttelt von inneren Kämpfen, ohne klare Linie, ohne ein Thema, eine Strategie, wenigstens eine Taktik geht sie in die Frühphase der Präsidentschaftswahl 2007. Dem Florentiner wäre das nicht passiert. Ebenfalls hätte er den Abend des 29. Mai 2005 vermieden. Da feierten die Nein-Sager das Scheitern der europäischen Verfassung als rauschhaften Sieg über den "Ultraliberalismus" - als hätte der globale Kapitalismus eine entscheidende Niederlage erlitten. Dabei hatte sie gerade mit Mitterands Diktum gebrochen:

Man darf aber nichts zulassen, was das Erreichte in der Union schwächen würde. Frankreich und Deutschland werden allen Grund haben, ihr Handeln in dieser Hinsicht besser aufeinander abzustimmen.

Den europafreundlichen Reformisten um Francois Hollande und die vermutliche Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royale, Ministerin unter Mitterand, stehen die linken Linken um Arnaud Montebourg unversöhnlich gegenüber, weitaus radikaler als die Linkspartei hierzulande. Heute dominiert in Frankreich nicht nur in dieser Frage ein Sozialismus des Nein, in dem sich Opportunismus und Fundamentalismus die Hände reichen, der den Wirklichkeitssinn Jean Jaurès´ vergessen hat und in schmutziger Allianz mit den Rechtsextremen von Le Pens Front National und den Nationalpopulisten der demokratischen Rechten.

Das stärkste Hindernis auf dem Weg der Linken zurück zur Macht ist aber der ewige Unruhestifter, Mitterands einstiger Musterschüler Laurent Fabius, das linke Pendant zum rechten Innenminister Nicholas Sarkozy. Mit der unausgesprochenen Parole "Ich oder das Chaos" zündelt Fabius an allen Ecken gleichzeitig, um dann als Feuerwehrmann aufzutreten. Der Rechten geht es freilich nicht besser: Wenn Sarkozy der Brutus der französischen Politik ist, wie es Victor Noirs neues Buch "Nicolas Sarkozy ou le destin de Brutus" nahe legt, und Dominique de Villepin vielleicht ihr neuer Augustus, wer war dann Mitterand? Jedenfalls ein Politiker, der bei aller Modernität auch Politik "à l'ancienne", "auf antike Art" gemacht hat.

"Fürstliche Macht, gewiss"

Die Herrschaft römischer Politiker war nicht die Herrschaft einer Partei im modernen Sinn einer Parteiorganisation, sondern eine Parteiung von Freunden. Über das Ethos solcher Freundesverbindungen schreibt der Historiker Ronald Syme: "Treue konnte nur wieder durch Treue gewonnen werden. Cäsar ließ nie einen Freund im Stich, was auch immer sein Charakter und seine Stellung waren." Solche Parallelen erklären viel über die Logik von Mitterands Politikverständnis und zugleich seine Loyalität manchen "unbequemen" Freunden gegenüber. "To have friends, is power" schreibt Thomas Hobbes.

Vor allem war Mitterand seinen Gegnern immer einen Schritt voraus: "Für jede Lage hatte er immer gleich mehrere Strategiepapiere in der Schublade", erinnert sich der Gaullist Chirac, dem Ahnliches nicht passieren könnte, bewundernd. Zum Bild des "Florentiners", in dem Undurchschaubarkeit genauso mitschwingen wie der "Machiavellismus" des Florentiner Staatsdenkers Machiavelli und die ambitiöse Prunksucht eines Lorenzo die Medici, gehört auch ein kühl-brillanter Realismus, mit der Mitterand Parteien und Menschen wie Schachfiguren hin und her schob - manchmal an der Grenze zum Zynismus.

"Meines Wissen sind das keine Fachleute für Luftschläge" meinte er, als die zu Neoliberalen mutierten ehemaligen Maoisten und "Nouveaux Philosophes" Alain Finkielkraut und André Glucksmann eine französische Intervention in Bosnien forderten, und über die Autoren Mitterand-kritischer Bücher meinte er süffisant: "Ich mache sie reich. Das sind die Armen, die von meinem Teller essen."

Eine der interessantesten Äußerungen gilt seiner Art der Amtsführung und der Ausgabenpolitik:

Ich war da, und das war die Macht. Das war von Dauer, und so hatte ich Zeit. ... Ich also sagte, jedes Mal, wenn die Minister kamen und sagten: ,Man muss die Haushaltsbewilligungen reduzieren, wir kürzen sie um soundsoviel Prozent`, da sagte ich ,also, nein, diese hier nicht`. Das ist fürstliche Macht, gewiss, ich gebe es zu! Und wenn? Es gäbe niemals eine Politik zur Architektur in Frankreich, wenn man den Haushalt von Jahr zu Jahr kalkulierte; das ist unmöglich, es fehlt immer die nötige Milliarde, weil man immer im Defizit ist. Also hielt ich stand!

Auch solche Sätze illustrieren: Mitterrand hatte einen hochempfindlichen Sinn für die Komplexität der Dinge, und war trotzdem jederzeit fähig, zu entscheiden. Vielleicht, weil er selbst einer der kompliziertesten, widersprüchlichsten europäischen Politiker der Nachkriegszeit war. Mitterrand war kein Technokrat. "Organisationen interessierten Mitterrand wenig. Menschen interessierten ihn." (Schabert) Von ihm stammt die spöttische Formulierung, noch niemand habe die Regierung gesehen, sondern immer nur Menschen, die regieren. Mitterrand war ein Intellektueller, ausgestattet mit eminent historischem Sinn, von der literarischen Tradition Frankreichs geprägt, aber dem ländlichen Frankreich tief verbunden.

Er schrieb 18 Bücher, bei seinem Amtsantritt bereits feierten ihn manche als "geborenen Dichter", verglichen ihn mit Chateaubriand, Pascal und Stendhal. Grausam wie eine Katze spielte er mit der literarischen oder historischen Unkenntnis anderer und distanzierte sie durch beißende Ironie. Liest man seine Reden und Interviews heute wieder, ist die Leichtigkeit bemerkenswert, mit der er voller Kenntnis und Gedankenschärfe von einem Thema zu einem anderen überleitet, ohne dass die Qualität seiner Äußerungen darunter litt.

Die Versöhnung der Linken mit der Macht

Mitterand steht für die Versöhnung der Linken mit der Macht, für die Fähigkeit, Macht auszuüben, politischen Pragmatismus zu zeigen, ohne die eigenen Ideale preiszugeben und in Beliebigkeit zu enden. Wäre Mitterrand nicht krank gewesen und hätte er kandidieren dürfen, hätten ihn die Franzosen 1995 auch ein drittes Mal gewählt. Doch wenigstens bestimmte er seinen Nachfolger. Folgt man Mitterands Biographen Benamou, so hat der Präsident im November 1994 einen Emissär - vermutlich Jacques Pilhan, den ehemaligen Imageberater Mitterrands und pikanterweise heutigen Imageberater Chiracs - zu Jacques Chirac geschickt.

Er müsse jetzt unbedingt seine Kandidatur bekannt geben, und zwar außerhalb von Paris, möglichst an einem symbolischen Ort, sonst sei alles zu spät für ihn. Drei Tage später fuhr Chirac in die Stadt de Gaulles, ins nordfranzösische Lille, und erklärte seine Kandidatur. Da fürchtete François Mitterrand schon nicht mehr um seinen Rang in der Geschichte: "Ich bin der letzte der großen Präsidenten, nach mir wird es solche nicht mehr geben in Frankreich."

Wenn Frankreich heute das einzige Land Europas ist, welches eine kulturelle Bastion gegen die Amerikanisierung des Westens darstellt, das auf seiner Eigenart beharrt, so ist dies nicht zu geringem Maß Mitterands Werk. Mitterrand stand für eine andere, größere Idee von Frankreich und Europa als das der derzeitigen, in kleinbürgerliche Händel verstrickten Politiker. Darf man Mitterand nun einen "großen Mann" nennen? Francois Mauriacs Bemerkung, Mitterrand sei "eine Gestalt wie aus einem Roman", war jedenfalls mehr als ein Bonmot.

Georges-Marc Benamou: "Junger Mann, Sie wissen nicht, wovon Sie reden"; Gespräche mit Mitterand während dessen letzten Regierungsjahren. Danach der Film von Robert Guédiguian: "Le promeneur du Champ de Mars", Frankreich 2005.

Tilo Schabert: "Wie Weltgeschichte gemacht wird. Frankreich und die deutsche Einheit"; Klett-Cotta, Stuttgart 2002, 592 S., 35,- Euro

Mazarine Pingeot: "Bouche cousue"; Mitterands uneheliche Tochter, heute Schriftstellerin und Journalistin, schildert darin die späten Jahre ihres Vaters, aus der privaten Sicht der Tochter.