Joe Bidens Bruchlandung: Der alte Mann muss jetzt gehen
Die Debatte zwischen Biden und Trump war geradezu ein historisches Desaster. Wie konnte es dazu kommen? Ein Telepolis-Leitartikel.
Was für eine unglaubliche Fehlkalkulation! Welche Hybris, welches kaputte Selbstverständnis muss hinter der Entscheidung der US-Demokraten gestanden haben, den amtierenden Präsidenten Joe Biden vor die Kamera zu stellen - und das auch noch live. Die Entscheidung zeigt vorrangig den professionellen Niedergang einer politischen Partei. Das wird auch den Demokraten am Tag nach dem Desaster schmerzlich bewusst.
Politico, CNN, die New York Times, die Washington Post – überall herrscht Unverständnis und Scham über das, was gestern Abend zu sehen war.
In einer Zeit, in der die politische Landschaft der USA von Unsicherheit geprägt sei, habe dieses erste Präsidentschaftsduell zwischen Biden und Trump die Unruhe nur noch verstärkt, heißt es etwa beim Magazin Politico.
Und daran sind die Demokraten schuld. Sie haben auf diese Debatte gedrängt.
Biden: heiser, unkonzentriert, fehlerhaft
Biden sorgte von Anfang an mit heiserer Stimme und Bandwurmsätzen für Kopfschütteln. Es fiel ihm sichtlich schwer, seine wirtschaftspolitischen Erfolge überzeugend darzustellen.
Bei der Darstellung zentraler gesundheitspolitischer Initiativen seiner Amtszeit unterliefen ihm inhaltliche Fehler. Man habe "endlich Medicare besiegt", sagte Biden über das Programm, das seine eigene Partei durchgesetzt hatte. Man kann sich das schadenfrohe Gejohle in den Whiskey-Bars im Rust Belt vorstellen, den Industrieregionen der USA, in denen Trump viel Zuspruch erhält.
Da fielen die falschen Zahlen zur Senkung der Insulinkosten nicht mehr ins Gewicht.
Die Blamage war absehbar
Das Schlimme an dieser historischen Blamage ist, dass sie absehbar war. Zum einen wegen der bisherigen Fehlleistungen des Amtsinhabers Biden, dazu weiter unten mehr. Aber auch wegen der Erfahrungen mit Herausforderer Trump.
Die Debatte von 2016 zwischen der ebenfalls gescheiterten Hillary Clinton und dem späteren US-Präsidenten Donald Trump wird heute in Rhetorik-Seminaren als Paradebeispiel für Diskursdominanz und -versagen angeführt.
Lesen Sie auch
Letzte Chance für Ukraine? Biden plant finale Militär-Deals
Rote Linien und leere Worte: Das nukleare Pokerspiel der Großmächte
US-Raketen für die Ukraine: Das ist auch ein Schlag gegen Olaf Scholz
US-Wahl 2024: Warum KI (noch) keine Wahlen gewinnt
Israel: Verteidigungsminister Gallant darf nicht in die USA
Clinton argumentierte, nannte Zahlen, legte ihre Position detailliert und gut ausgearbeitet dar. Schon damit war sie ein Gegenbeispiel zu dem unwürdigen Auftritt des amtierenden US-Präsidenten gestern. Aber auch das brachte Clinton nichts. Trump reagierte mit Basic Talk, einfachen Aussagen, oft in Drei- bis Vier-Wort-Sätzen.
Damit wehrte Trump selbst die härtesten Vorwürfe seiner Gegnerin ab. Er habe persönlich von der Immobilienkrise profitiert, warf sie ihm vor; ein Frontalangriff. "Das zeigt, ich bin schlau", sagte Trump achselzuckend. "Stimmt", dachten wohl viele Verlierer im Land der Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Lüge – und wählten den Republikaner.
Mit diesem Stil sind die Demokraten schon einmal grandios gescheitert. Jetzt sind sie erneut und viel verheerender in die Falle getappt. Allein das wird aufzuarbeiten sein.
Medien ringen um Worte
Am Tag nach der Debatte tun sich die großen US-Medien schwer, das Ausmaß der Katastrophe in Worte zu fassen. So heißt es im Hauptbericht von CNN:
Wenn Joe Biden die Wahl im November verliert, wird in die Geschichte eingehen, dass es nur zehn Minuten brauchte, um eine Präsidentschaft zu zerstören.
Es war klar, dass sich ein politisches Desaster anbahnte, als der 81-jährige Oberbefehlshaber steif auf die Bühne in Atlanta schlurfte, um einen Meter neben Ex-Präsident Donald Trump in der vielleicht verhängnisvollsten Präsidentschaftsdebatte der Geschichte zu stehen.
Objektiv betrachtet lieferte Biden die schwächste Leistung ab, seit John F. Kennedy und Richard Nixon 1960 die Tradition der TV-Debatten begründeten - damals wie am Donnerstag in einem Fernsehstudio ohne Publikum.
CNN
Ungeplante Konfrontation mit Afghanistan
Biden brachte das heikle Thema des gescheiterten Rückzugs aus Afghanistan – manche sprechen von Flucht – unvermittelt auf und verwechselte mehrfach die Begriffe "Milliarden" und "Millionen".
Der Präsident verbrachte die 90-minütige Debatte weitgehend in der Defensive und wirkte bisweilen abwesend, wenn er nicht sprach.
Kritik aus den eigenen Reihen
Die Reaktionen aus den eigenen Reihen ließen nicht lange auf sich warten. Jay Surdukowski, Anwalt und demokratischer Aktivist, prophezeite, Biden sei "erledigt", so Politico.
Andere Vertreter der Demokraten äußerten sich irritiert bis besorgt über Bidens Auftritt. Der Kongressabgeordnete Jared Huffman (D-Kalifornien) kommentierte knapp: "Nicht gut."
Verteidigung und Gegenangriff
Bidens Team versuchte den schwachen Start zunächst mit einer Erkältung zu erklären und betonte, dass er negativ auf Covid-19 getestet worden sei. Spekulierten die Strategen der Regierungspartei auf einen Mitleidsbonus? Davon war am Tag nach der Debatte nichts zu spüren.
Fairerweise muss man sagen, dass es Biden im Verlauf der Debatte punktuell gelang, Stärke zu zeigen, insbesondere als er Trumps angebliche Bezeichnung gefallener Soldaten als "Verlierer" aufgriff und den Ex-Präsidenten damit konfrontierte.
Auch bei der Thematisierung von Trumps Verurteilung in New York konnte Biden punkten. Doch das ändert kaum etwas am fatalen Gesamtbild.
Der erste Eindruck zählt
Denn der erste Eindruck wiegt schwer, vorwiegend bei wenig politisierten Wählern, die eher die erste als die zweite Debatte im September verfolgen. Deshalb gehen die Demokraten geschwächt in die nächste Phase des Wahlkampfes.
Das unsichere Auftreten Bidens nährt die Befürchtung, dass der 80-Jährige, dessen geistige und körperliche Fitness im laufenden Wahlkampf schon mehrfach infrage gestellt wurde, nicht mehr in der Lage sein könnte, die Demokraten im November zum Sieg zu führen.
Rufe nach offenem Parteitag
Einige Demokraten forderten Biden sogar auf, seine Kampagne zu beenden. Ein wichtiger Finanzier der Demokraten und bisheriger Unterstützer Bidens forderte unmissverständlich: "Biden muss zurücktreten".
Auch Trump, das gehört zum Gesamtbild, hatte schwache Momente. So verhaspelte er sich, als er über die Tochter der ehemaligen Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, sprach. Bei der Darstellung der wirtschaftlichen Stärke seiner Präsidentschaft übertrieb er deutlich.
Lesen Sie auch
Pokerspiel um russisches Gas in der Arktis
Tesla im Aufwind: Trump-Regierung könnte selbstfahrende Autos begünstigen
Trump schickt seine loyalste Hardlinerin zu den Vereinten Nationen
Trump und Harris nach US-Wahl: Eine Show, zwei Hauptdarsteller
Neues US-Spionagesatellitennetzwerk: SpaceX und die Macht der Überwachung
Er wiederholte seine Verteidigung der Aufständischen vom 6. Januar und verweigerte eine klare Antwort auf die Frage, ob er das Wahlergebnis akzeptieren werde. Trumps Vorteil war hauptsächlich Bidens Schwäche.
Was machen nun die Demokraten?
Wie werden die Demokraten reagieren? Wie viele Blamagen verträgt die Partei noch? Es ist noch nicht lange her, da lachten die USA und die Welt über den Amtsinhaber, der beim G-7-Gipfel verwirrt wirkte und bei der Aufstellung zum Gruppenfoto offensichtlich orientierungslos von seinem Amtskollegen weglief. Vor laufenden Kameras musste er wieder zurückgeführt werden.
Das gleiche Bild bei einer Spendengala im Peacock Theatre in Los Angeles. Dort war es Barack Obama, der ehemalige US-Präsident, der seinen Nachfolger einhakte und von der Bühne führte. Biden hätte den Weg offenbar nicht gefunden.
Wie konnte es so weit kommen?
Bemerkenswert an dem ganzen Vorgang ist, dass eine angeblich offene Gesellschaft nicht in der Lage ist, das Offensichtliche zu erkennen und auszusprechen: Dass der Amtsinhaber sofort aus dem Amt entfernt werden muss.
Zum Schutz seiner Partei, zum Schutz seines Landes und zum Schutz seiner selbst. Denn vor allem ist das alles entwürdigend für Joe Biden selbst.
Bemerkenswert auch, dass vermeintlich autoritärere Staaten das besser hinbekommen haben. Beispiel Kuba. Dort trat der über 80-jährige Fidel Castro zurück, schrieb noch eine Weile etwas launige Artikel im Zentralorgan der Kommunistischen Partei Kubas, bis er sich Jahre vor seinem Tod fast vollständig aus dem politischen Leben zurückzog.
Diesen Vergleich müssen sich die Demokraten in den USA gefallen lassen: Dass in einem Land, das sie als Diktatur bezeichnen, der Diktator aus Altersgründen zurücktritt, dass sie einen greisen und sichtlich überforderten Präsidenten nicht nur im Amt belassen, sondern ihn sogar in einer Situation nominieren, in der man davon ausgehen muss, dass er die nächste Präsidentschaft nicht überleben wird.
Biden und die Debattenkultur
Dass es zu dieser Situation gekommen ist, hat offensichtlich auch mit der Debattenkultur, mit der Polarisierung zu tun. Daran, dass man Biden nicht kritisieren darf, weil das Trump nützen könnte.
Daran, dass man Biden nicht kritisieren darf, wenn er wieder Unsinn erzählt, weil er angeblich einmal gestottert hat und man das deshalb nicht thematisieren darf. Aber man macht ja auch keinen Blinden zum Taxifahrer. Und an der fehlenden Einsicht in seine Altersschwäche und seine nachlassenden Kompetenzen ändert sich auch nichts.
Führende westliche Medien haben diesen Diskurs bis zuletzt bedient. Auch damit scheint nun Schluss zu sein. "Besser der alte Opa im Weißen Haus als der Irre", titelte der Spiegel vor der Debatte. Dann: "Ein Desaster für den Präsidenten", "Das war schmerzhaft" und: "Biden sollte der Welt einen Gefallen tun und verzichten".