Im "Griff der dritten Welle": Bundesregierung beschließt Bundesnotbremse
Die Lage ist ernst, so die Kanzlerin. Sie fordert Konsequenz und Stringenz. Viele Fragen bleiben offen
Der Druck wächst, das Kabinett hat sich geeinigt, Fragen bleiben, Ungefähres auch, Streit ist sicher: Die Regierung beschließt eine "Bundesnotbremse", meldete die Tagesschau heute Vormittag. Bürokratischer und prozedural gefasst: Das Infektionsschutzänderungsgesetz ist vom Kabinett beschlossen und soll nun in einem beschleunigten Verfahren vom Bundestag beschlossen werden und den Bundesrat passieren.
Auf einen kurzen Nenner gebracht läuft dies auf eine nächtliche Ausgangssperre, Kontaktbeschränkungen, geschlossene Geschäfte dort hinaus, wo der Sieben-Tage-Inzidenzwert über 100 liegt. Gegenwärtig sind das 325 Landkreise in Deutschland (von insgesamt 412).
Die Zeit drängt, sagt der Trend: "Die Kurven mit den Corona-Vorwochenvergleichen drehen weiter nach oben." Es werden mehr Neuinfektionen gemeldet: "ein deftiges Plus von 57 Prozent im Vorwochenvergleich", so die Kurzübersicht von Gersemann, mehr Corona-Tote (294 zuletzt gemeldete Fälle, der "siebte Anstieg im Vorwochenvergleich"), eine sinkende Zahl freier Intensivbetten sowie eine steigende Zahl von Covid-19-Patienten, die intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Gestern zählte man 4.625 (weit mehr als die Hälfte wird invasiv beatmet) und registrierte damit den 30. Tag in Folge mit einem Anstieg.
Die Intensivmedizinervereinigung, DIVI, schlägt schon länger Alarm. Mit der Aufnahme von täglich 50 bis 100 neuen Covid-Intensivpatienten rechnet dessen Präsident Gernot Marx aktuell. DIVI prognostiziert bzw. warnt, dass der Höchststand der Patienten auf Intensivstationen kurz bevorstehe. Noch im April könnte ein "trauriger Höhepunkt" erreicht werden mit 6.000 Menschen in Deutschland, die eine Behandlung auf einer Intensivstation benötigen.
Regierung im Zugzwang
Das sind Zahlen, deren Richtigkeit erst später beurteilt werden kann. Manche wie die z.B. die Meldung Neuinfektionen stellen bei genauerem Blick viele Fragen, um es sachte zu formulieren. Wie auch die Ausstattung der Krankenhäuser und die Vorsorgeleistung des Staates für einen brüchigen Boden gesorgt haben, der einen beträchtlichen Anteil an der kritischen Zuspitzung hat.
Die Folge ist, dass die Regierung angesichts dieser Entwicklung im Zugzwang ist, umso mehr da wegen systemimmanenter Fehler oder Beschränkungen die Impfkampagne nicht wie erhofft läuft.
Nun müssen es wieder Einschränkungen im Verhalten der Bevölkerung richten, dieses Prinzip soll mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes eine größere Durchsetzungskraft bekommen, da Länder, die bisher auf eigene Maßgaben setzten, damit auf Linie gebracht werden sollen. Konkret soll ein neuer § 28 b hinzugefügt werden.
Der Gesetzentwurf soll in der kommenden Woche im Bundestag beschlossen werden. Eine Zustimmung des Bundesrats ist bisher nicht vorgesehen. Bisherige Änderungen des Infektionsschutzgesetzes waren aber zustimmungspflichtig. Der neue Notbremsen-Paragraf 28b soll so lange in Kraft bleiben, wie eine "epidemische Lage nationaler Tragweite" vorliegt. Darüber stimmt der Bundestag alle drei Monate ab.
Taz
Der Artikel, in dem es heißt, dass die Zustimmung des Bundesrats bisher nicht vorgesehen ist, datiert vom vergangenen Sonntag. Heute heißt es, wie oben geschrieben, dass das Gesetz auch den Bundesrat passieren soll. Hat man dies inzwischen geklärt und in der Kabinettsrunde festgestellt, dass die Kritiker und Opponenten in den Ländern kein Hindernis mehr sind?
Von Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD) hieß es beispielsweise, dass er gegen nächtliche Ausgangsbeschränkungen sei. Und es gab jüngst Meldungen, die beim Aufwand/Nutzen-Kalkül von Ausgangsbeschränkungen das Argument bestärkten, das sich nicht unbedingt das angebrachte rigorose Mittel sind:
Die Übertragung der Sars-CoV-2 Viren findet fast ausnahmslos in Innenräumen statt. Übertragungen im Freien sind äußerst selten und führen nie zu 'Clusterinfektionen', wie das in Innenräumen zu beobachten ist.
Offener Brief der Gesellschaft für Aerosolforschung
Auch Richter sind da nicht überzeugt. Der frühere Vorsitzende des Deutschen Richterbunds Jens Gnisa äußerte sich "fassungslos":
"Ab einer Inzidenz von 100 nächtliche Ausgangssperren zu verhängen, obwohl von Gerichten deren Wirksamkeit angezweifelt wurde, ist eine Nichtachtung der Justiz."
Im zitierten Taz-Artikel deutet sich ein weiteres Problem an, das eingangs erwähnte "Ungefähre". Zunächst wird der bekannte Kanon der Notbremsen-Maßnahmen erwähnt, der auch im Tagesschau-Bericht als "vorgesehene Maßnahmen" auftaucht: Ausgangssperre von 21 Uhr bis 5 Uhr, Schließen von Geschäften, die nicht dem täglichen Bedarf dienen, ("geöffnet werden dürften laut dem Beschluss Dienstleistungen, die medizinischen, therapeutischen, pflegerischen oder seelsorgerischen Zwecken dienen sowie Friseurbetriebe - jeweils mit Maske"), geschlossene Gastronomie und Freizeit- und Kultureinrichtungen, beschränkte Sportmöglichkeiten. Im taz-Artikel heißt es aber zusätzlich.
Statt dieser gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen soll die Bundesregierung künftig bei einem Inzidenzwert über 100 per Rechtsverordnung auch andere Notbremse-Maßnahmen anordnen können. Diese Maßnahmen könnten strenger oder weniger streng sein. Außerdem könnte die Bundesregierung dabei Sonderregeln für Geimpfte und Getestete aufstellen. Erforderlich wäre dann die Zustimmung des Bundesrats, nicht aber die Zustimmung des Bundestags.
taz
Es sind also noch einige Fragen offen. Für Schulen, so heißt es, soll ein Inzidenzwert von 200 maßgeblich werden. Auch das ist umstritten.
Für die Kanzlerin steht fest: Die geplanten Änderungen am Infektionsschutzgesetz sind "notwendig". Eine bundesweit einheitlich geltende Notbremse ab einer Inzidenz von 100 sei "überfällig", die Lage ernst.
Der bisherige Ansatz und bisherigen Bund-Länder-Beratungen würden nicht mehr ausreichen, um die dritte Welle zu bremsen. Die Pandemiebekämpfung müsse "stringenter und konsequenter" werden.