Im ICE-"Hannah Arendt"
Liberalismus und Existentialismus: Die frappierende Aktualität Hannah Arendts
Wo zu wenig Gründung herrscht, wird Gewalt herrschen.
Hannah Arendt
Sie war die in der Bundesrepublik am meisten ignorierte politische Theoretikerin. Sie provozierte mit ihrer Totalitarismustheorie, die Sowjetunion und Nationalsozialismus gleichzusetzen schien, mit ihrer Reportage über den Eichmann-Prozess. Ihre brillanten Überlegungen zur Revolution und ihre Unterscheidung von Macht und Gewalt fügten sich zu wenig in die politischen Diskurse des Kalten Kriegs.
Aber jetzt, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, entfaltet das Werk von Hannah Arendt (1906-1975), das man früher gern für altmodisch oder konservativ hielt, eine frappierende Aktualität. Woher kommt diese Aktualität? Es gibt vier Hauptgründe:
1. Hannah Arendts Kategorien funktionieren als ein Immunsystem. Ihr konsequentes Festhalten am Gedanken der Freiheit funktioniert als Widerhaken gegen alle Vereinnahmungen durch die herrschenden politischen Verhältnisse. Als Denkerin der Freiheit ist Arendt eine eigensinnige Denkerin. Ihr "leidenschaftliches Denken" ist voller innerer Widersprüche, Inkonsistenz und Individualität. Es lässt sich keiner akademischen Schule oder politischen Richtung eindeutig zuordnen.
2. Hannah Arendt kann auch vor den dümmsten Dummheiten des Linksradikalismus schützen. "Hannah Arendt verkörpert als politische Denkerin alles, was deutsche Linke nicht hören wollten und wollen", schrieb schon vor 25 Jahren Daniel Cohn-Bendit. Sie benannte die Verbrechen des Stalinismus. Sie kritisierte und widerlegte Fetische des Marxismus wie das Lieblingstheorem der Zentralität der Arbeit oder der Abschaffung des Staates.
3. Arendt stellt begriffliche Instrumente zur Verfügung, die es erlauben, die Gegenwart anders zu begreifen, als in gewöhnten politischen Theorien. Etwa Arendts Machtbegriff. Macht und die Begründung republikanischer, freiheitlicher Institutionen, gehören in ihrem Verständnis eng zusammen. Macht ist öffentliches, kommunikatives Handeln und damit der Gegensatz von stummer, unkommunikativer Gewalt. Machtausübung verlangt Reflexion. In der Bürokratie verschwindet Macht, in der Revolution und öffentlichen Volksversammlungen wird sie wiedergeboren.
Die Macht der Republik ist auch das Gegenteil des Prinzips des Nationalstaats. Arendt war jede Form von Identitätspolitik suspekt. Eine Nation kann eine von Bürgern sein, nicht eine der ethnischen Homogenisierung.
Daher gehört zu Arendts Denkarsenal auch die Skepsis. Die Skepsis vor der Idee der "reinen" Demokratie. Denn nur dort ist Totalitarismus möglich. In den Gemütern der Volksgemeinschaft herrscht das Willensprinzip und die Wut, es ist dort kein Platz für Reflexion, für "politische Urteilskraft".
Am Ende ihres Lebens hat Arendt an einer Theorie des Urteilens gearbeitet, die auf Kants "Kritik der Urteilskraft" beruht. Urteilen ist nach Arendt das Gegenteil des Meinens, Urteilen ist "Verallgemeinerung" und Anerkennung des anderen, des Neuen, des Heterogenen.
4. Schließlich sind Arendts Kategorien auch über 40 Jahre nach ihrem Tod zeitgemäß. Das liegt zum einen daran, dass Arendt immer wieder über politische Umbrüche und Neuanfänge reflektiert. "Immer wenn es Momente der Unsicherheit, der Krisen und Brüche gibt, dann ist Arendt ganz gut dafür geeignet, solche Momente zu reflektieren", sagt die Wissenschaftlerin Stefania Maffeis.
Arendts Studie über die Ursprünge des Totalitarismus, die 1951 unter dem Titel "The Origins of Totalitarianism" in den USA erschien wurde nach Donald Trumps Wahl plötzlich in den USA enorm populär. Das ist kein Zufall. Viele Leute hatten den Eindruck: Wir müssen nochmal anfangen zu denken, wie es überhaupt geschehen kann, dass Demokratien in totalitäre Systeme umkippen. Und das hat Hannah Arendt so präzise durchdacht wie niemand außer ihr.
Öffentlichkeit und Privatsphäre
Auch der Unterschied zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre ist zentral für Arendts Werk. Sie schrieb: "Historisch ist es sehr wahrscheinlich, daß(!) das Entstehen des Stadt-Staates und des öffentlichen Bereichs auf Kosten der Macht und der Bedeutung des Privaten, der Familie und des Haushalts, stattgefunden hatte."
Arendt hat diesen Unterschied von Aristoteles abgeleitet. Für Arendt kann das Private niemals politische Ansprüche erheben. Für die Gegenwart ist diese Unterscheidung zentral: Die Durchlässigkeit zwischen innen und außen ist im Zeitalter der totalen Mobilmachung der Medien immer stärker geworden.
Das Private, das mal das der Öffentlichkeit Entzogene und Abgesonderte war, das Nicht-Politische, hat immer mehr Macht und schränkt den dezidiert politischen Raum ein. Im Politischen nimmt Nicht-Politisches Platz ein: Die Eigeninteressen der Wutbürger, die Gefühle der neuen Sentimentalität. Aber auch der neuen Rassisten und Identätisten: Weil die alten weißen Männer in den Republiken des Westens ihre Partikularität - weiß, männlich, heterosexuell - ins Zentrum stellen und zur Norm erheben, verschwindet das universalistische Norm- und Politikverständnis der liberalen Moderne mit der Möglichkeit gleichberechtigter politischer Beteiligung für alle, die alles Partikulare gezielt ausklammert.
Privilegien und Identitätspolitik
Stattdessen geht es in den demokratischen Gesellschaften plötzlich um Privilegien, die an Identitätsvorstellungen und körperliche Besonderheiten geknüpft sind: Geschlecht, Hautfarbe, Ethnie, Religion. Tatsächlich wurden derartige Differenzen vom Universalismus der europäischen Republiken bewusst und permanent unterdrückt. Und zwar geplant und per definitionem. Aber eben auch die Differenzen der Mehrheit (weiß, männlich, heterosexuell).
Warum das so ist, hat die kürzlich verstorbene ungarische Philosophin Agnes Heller so ausgedrückt: "Alle Rassen und beide Geschlechter haben ihre eigene Wahrheit; und je mächtiger ihre Lobbys sind, desto nachdrücklicher versuchen sie, ihre Wahrheiten als unbestreitbar und absolut zu proklamieren.'
Genau dies, das Proklamieren und Verabsolutieren jeweils eigener, an selbstdefinierte Identität gekoppelte "Wahrheiten" geschieht in den modischen "Gender-Studies", "Cultural-Studies", und "Identity-Politics". An den Universitäten werden neue "Wahrheiten" produziert, die vermeintlich auf wissenschaftlich zwingenden Fakten beruhen, tatsächlich aber vor allem zur Legitimation der Ziele biopolitischer Lobbys dienen.
Gegen diese Art von Totalitarismus wendet sich Arendt.
Der Autorin Maike Weißpflug zufolge, die soeben eine neue Deutung von Hannah Arendts Werk veröffentlicht hat, ist das Besondere an Hannah Arendt ihr Denkstil. Arendt begreift politisches Denken als Kunst. Quellen sind nicht allein Platon, Machiavelli und Hegel, sondern Hermann Melville, Joseph Conrad und Franz Kafka.
Und das wichtigste im Politischen sind nicht Ansichten oder Meinungen, sondern Haltung. Dazu gehört es, fremde Perspektiven einzunehmen, ohne sie zu rechtfertigen.
Politik bedeutet für Arendt: Ein gemeinsamer Handlungsraum. Dieser sei, so Maike Weißpflug, "politisch gesprochen, das öffentlich Wahrgenommene, das Geteilte, das erst erscheint, wenn es artikuliert wird, wenn darum gekämpft wird, es zu artikulieren, also allgemein gesagt: das, was umstritten ist."
Literatur: Stefania Maffeis: "Transnationale Philosophie. Hannah Arendt und die Zirkulation des Politischen"; Campus Verlag, 542 Seiten.
Maike Weißpflug: "Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken"; Matthes & Seitz, Berlin 2019. 320 Seiten.