Im Land der Brunnenvergifter
Seite 5: Die Zukunft des Landes ist nur noch eine Nebensache
- Im Land der Brunnenvergifter
- "Ausländer ’raus" als Devise der offiziellen Politik
- Ob Rot oder Schwarz - Alle profitieren von Fremdenhass
- Die List der Unvernunft: Wahlen gewinnen mit Ausländerhass
- Die Zukunft des Landes ist nur noch eine Nebensache
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Man muss sich das vor Augen halten: Die Aussicht darauf, die Zukunftschancen Deutschlands durch Zuwanderung von gerade mal 20.000 Ausländern wenigstens symbolisch und auch nur versuchsweise zu sichern, ließ den Bundesminister des Inneren - sonst eher der Typ Großmaulheld - verzagt einknicken, weil ihm der Wahlkampf denn doch wichtiger war. Und auch das ist typisch für die Einfalt der demokratischen Politik im Spätstadium: Der Wahlkampf bestimmt die Politik. Die Zukunft des Landes ist Nebensache.
In den Diskussionen um die Anwerbung von ausländischen Fachkräften bleibt zumeist unberücksichtigt, dass bereits Migranten in Deutschland leben, die über Qualifikationen verfügen. Fehlende Anerkennung und berufliche Integrationsprogramme führen dazu, dass sie arbeitslos oder weit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus beschäftigt sind. In der Konsequenz arbeiten begehrte Fachkräfte wie Ingenieure als Hausmeister oder Müllmänner.
Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums arbeitet sogar jeder zweite beschäftigte Einwanderer mit ausländischem Abschluss unterhalb seiner Qualifikation. Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse ist kompliziert und undurchsichtig.
Die Bürokraten in den Ämtern behindern jede pragmatische Lösung und reiten irgendwelche nichtsnutzigen Paragrafen. Die Regeln und die zuständigen Behörden sind in jedem Bundesland verschieden. Auch die Bürokratie rottet sich mit der Politik zusammen, um den Fortschritt des eigenen Landes zu behindern.
Die CSU pflegt die fremdenfeindliche Stimmung praktisch immer in der Öffentlichkeit. Strafen für Integrationsverweigerer, restriktiver Umgang mit Familiennachzug, Förderung hier lebender Migranten, Zuzug von Hochqualifizierten: So stellt sich die CSU eine neue Integrationspolitik vor. 2010 präsentierte sie einen Sieben-Punkte-Plan, mit dem sie schärfere Restriktionen für die Einwanderung nach Deutschland erreichen will.
Ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem mehr Menschen aus Deutschland aus- als einwandern, kam der fabelhafte Plan akkurat zur rechten Zeit. Rund 800 Delegierte stimmten während des CSU-Parteitags in München dafür. "Deutschland ist kein klassisches Zuwanderungsland", heißt es in dem Papier. Wer die Integration seiner Familienangehörigen behindert, solle in Zukunft ebenso bestraft werden wie bei eigener Verweigerung. Beim Nachzug von Familienangehörigen soll das Alter, von dem an Kinder die deutsche Sprache beherrschen müssen, von 16 auf 12 Jahre sinken.
Auch der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellte sich gegen die Auffassung, Deutschland sei ein Einwanderungsland: "Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s bis heute nicht", sagte Schäuble zur Eröffnung des Integrationskongresses 2006 des Deutschen Caritasverbands.
So auch der CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt im Oktober 2010:
Die USA ist ein Einwanderungsland, Deutschland ist kein Einwanderungsland. Wir haben eine gewachsene Kultur über Jahrhunderte.
Wirtschaftliche Probleme und Facharbeitermangel müsse man lösen, "ohne dass wir uns die Probleme der letzten Zuwanderungswellen wiederum reinholen, die wir heute noch nicht mal behoben haben".
Im November 2010 bestritt der neue CDU-Vize Volker Bouffier, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. "Wir haben Einwanderung, aber Deutschland ist kein Einwanderungsland", sagte der hessische Ministerpräsident im Interview gegenüber dem "Hamburger Abendblatt".
Der demografische Wandel ist keine Naturkatastrophe, die ohne Vorwarnung über die entwickelten Länder hineingebrochen ist, Er gleicht nach den Worten des Rostocker Bevölkerungsforschers Professor James W. Vaupel vielmehr dem Gezeitenwechsel an der Nordsee:
Die Flut steigt zwar langsam, aber stetig und unaufhaltsam. Die zentrale Gefahr stellt dabei nicht der demografische Wandel an sich dar, sondern vielmehr die demografische Ignoranz.
Fast schon ein halbes Jahrhundert lang hat die Politik in Deutschland den demografischen Wandel verschlafen. Die Versäumnisse dieser Zeit sind nicht mehr aufzuholen. Mit dieser Politik wird sich Deutschland in einigen Jahrzehnten zur Wüste entwickelt haben.
Die Problematik des Systems "repräsentative Demokratie" stellt sich beim Thema "demografischer Wandel und Zuwanderung" wie bei jedem anderen politischen Thema auch auf stets die gleiche Weise. Vor den Entscheidungsträgern baut sich immer wieder die Alternative zwischen vernünftiger Problemlösung auf der einen Seite und Machterhalt beziehungsweise Machtgewinn auf der anderen Seite auf.
Das ist keine subjektive Entscheidung der Politiker. Die können sich die Entscheidung in die eine oder andere Richtung auch nicht aussuchen. Individuell ginge das vielleicht noch, aber die kollektiven Entscheidungsgremien haben nicht wirklich die Wahl. Ihr Zweck sind Machterhalt und Machtgewinn. Das politische System stellt sie vor diese Alternative - ob sie das nun wollen oder nicht.
Andere politische Systeme konfrontieren ihre Entscheider nie oder so gut wie nie, auf jeden Fall aber nicht bei jeder Einzelentscheidung mit dieser Alternative. Das ist eine Besonderheit, die demokratische Herrschaft charakterisiert und auch paralysiert.
Politiker in repräsentativen Demokratien haben ständig zwischen diesen Alternativen zu wählen. Und sie entscheiden sich in aller Regel und in so gut wie allen Einzelfällen für Machterhalt oder Machtgewinn und gegen vernünftige Problemlösungen. Heute stehen fast alle entwickelten demokratischen Systeme aus eben diesem Grund am Rande des Abgrunds.
So rieselt über Jahrzehnte hinweg stets von neuem und immer mehr Sand ins Getriebe der politischen Entscheidungsprozesse. Bei keiner einzigen politischen Entscheidung in repräsentativen Parteiendemokratien geht es einfach nur darum, eine Lösung für ein wie immer geartetes Problem zu finden. Es geht vielfach vorrangig darum zu erkennen, wie man über ein Thema Wähler beeinflussen, Wahlen gewinnen, und politische Macht erhalten oder erringen kann.
Jede politische Entscheidung hat diesen Doppelcharakter, und jede einzelne politische Entscheidung wird dadurch in ihrer Substanz verzerrt. Niemals entscheiden die Politiker und ihre Organisationen in repräsentativen Demokratien einfach nur über die Sache. Im Gegenteil, meist haben sachfremde Überlegungen einen höheren Stellenwert. Es geht stets auch um die Opportunität der Entscheidung für die Entscheidungsträger.
Die Entscheidungsprozesse in demokratischen Parteienstaaten basieren so auf Strukturen, die im Prinzip jede politische Entscheidung irrational verzerren: irrational sind sie im Sinne einer Problemlösung, rational bestenfalls im Sinne der politischen Herrschaft. Das ist der tiefere Grund, warum so viele Reformpläne nicht zu Stande kommen: Es bei ihnen nicht um die Sache. Es geht um ihre Opportunität.
Beim Thema "Einwanderungsland" hat das über Jahrzehnte hinweg dazu geführt, dass es für die politischen Parteien immer einfacher war, sich gegen pragmatische Lösungen und für Wahlgewinne zu entscheiden. Man kann das den einzelnen Politikern und selbst der politischen Kaste als Kollektiv gar nicht einmal zur Last legen. Sie haben diesen Zwang ja nicht erfunden. Er ist dem System des repräsentativen parlamentarischen Parteienstaats immanent.
Es gibt kein anderes politisches System, in dem die Zwänge zum Machterhalt in dieser destruktiven Weise auf Dauer perpetuiert sind. Und die Systemimmanenz der Zwänge zu Machterhalt oder Machtgewinn macht die repräsentativen Demokratien auf Dauer zum größten Obstakel ihrer selbst. Ist die Herrschaft der politischen Kaste erst einmal etabliert, ist der Zwang zu ihrer permanenten Verteidigung für die Herrschenden unüberwindlich. Es ist ein neues politisches Phänomen: Die permanente Stagnation bedroht die Zukunft der entwickelten Demokratien in aller Welt.