Im Namen des Staatsschutzes: Die Urteile im NSU-Prozess
Seite 3: Unbekannte Zschäpe
Eine Unbekannte bleibt indes die Hauptangeklagte Beate Zschäpe. Mit ihrer Einlassung vom Dezember 2015 hat sie die Anklagekonstruktion gestützt und sich in gewisser Weise selber zur Zeugin der Anklage gemacht. Die alleinigen Täter seien Böhnhardt und Mundlos gewesen, der NSU habe lediglich aus ihnen drei bestanden, weitere Täter oder Helfer habe es nicht gegeben, von verstrickten Geheimdienste keine Rede. Die Angeklagte hat damit aber nicht nur der Anklagebehörde Bundesanwaltschaft geholfen, sondern auch dem Gericht. Zschäpe hat es Götzl erleichtert, den Vorgaben der BAW zu folgen.
Zschäpe hat die Gesamtkonstruktion aus Anklage und Urteil wesentlich gestützt. Nur: Was hat sie davon? Mit einer lebenslangen Haftstrafe und der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld allem Anschein nach nichts.
Das erscheint umso rätselhafter, als die Angaben der Angeklagten zum Teil als widerlegt erachtet werden müssen. Beim Polizistenmord in Heilbronn beispielsweise muss man von mehr als zwei Tätern ausgehen. Schon das stellt das Anklagekonstrukt in Frage. Auffällig war, dass Zschäpe jenen Satz, den sie am Tag, als sie sich der Polizei stellte, kundtat, in ihrem persönlichen Schlusswort widerholte: "Ich habe mich nicht gestellt, um nicht zu reden." Das gelte bis heute, sagte sie acht Tage vor der Urteilsverkündung. Tatsächlich und wahrhaftig geredet hat Zschäpe bis heute nicht. Versteckt sich in dem Satz eine verklausulierte Botschaft in diesem Sinne? Will sie zwar ausgesagt haben, aber nicht ausgepackt?
Wo also ist die Gegenleistung für eine Angeklagte, die Anklägern wie Gericht derart hilft? Oder gibt es auch für sie einen Plan B?
Lösungsmuster für gefügige und betreute Angeklagte kennt man aus der Vergangenheit: Das RAF-Mitglied Verena Becker, geheime Informantin des Verfassungsschutzes, war ebenfalls zu lebenslanger Haft verurteilt worden, kam aber nach insgesamt zwölfeinhalb Jahren frei. Mittel und Weg waren ein Gnadengesuch und ihre Begnadigung durch den Bundespräsidenten.
Weniger mysteriös als folgerichtig
Was so manche Nebenklageanwälte und Prozessbeobachter besonders irritierte, war die Urteilsbegründung des vorsitzenden Richters Manfred Götzl. Er rekapitulierte in gewisser Weise die Anklageschrift und blieb hinter der Beweisaufnahme von fünf Jahren zurück. Der NSU: ein abgeschottetes Trio. Die Mord- und Anschlagspläne: verantwortlich nur die drei ohne Unterstützer. Verantwortung der Ermittlungsbehörden: keine. Verstrickung des Verfassungsschutzes: Fehlanzeige. Ein Verfassungsschützer bei einem der Morde vor Ort: Zufall. Dass beim Polizistenmord in Heilbronn nicht die Signaturwaffe Ceska verwendet wurde, wie bei den neun vorangegangenen Morden, sondern andere Pistolen: Keine Bemerkung wert.
Ein Opferanwalt zeigte sich regelrecht "erschüttert" über das niedrige Niveau der Urteilsbegründung. Dafür hätte man keine fünf Jahre Beweisaufnahme gebraucht, meinte er, das hätte spätestens nach Zschäpes Einlassung im Dezember 2015 erledigt werden können.
Der Prozessvertreter der Bundesanwaltschaft, Herbert Diemer, zeigte sich zufrieden: "Der Senat ist unserer Sicht gefolgt", sagte er. Man könnte dafür auch eine andere Formulierung wählen: "Der Senat hat sich der obersten Anklageinstanz der Bundesrepublik Deutschland unterworfen." Darin lag seine Staatsschutzhandlung.
Bereits während der Hauptverhandlung hatte der Senat eine Entscheidung getroffen, die im Sinne der Staatsraison zu verstehen war. Sie betraf den Fall Temme, jenen VS-Beamten, der während des Mordes an Halit Yozgat in einem kasseler Internetcafé zugegen war - einer der Schlüsselfälle des NSU-Komplexes. Im Juli 2016 beendete Götzl die Beweisaufnahme zu diesem Fall und schloss sich der Sicht sowohl des Beamten als auch der Bundesanwaltschaft an, Temme sei zufällig in dem Laden gewesen, habe den Mord nicht mitbekommen und auch nichts mit ihm zu tun.
Wo sich ein Gericht also bereits einmal für die Interessen einer Verfassungsschutzbehörde verwendete, warum soll es sich dann nicht auch für einen möglichen V-Mann des Verfassungsschutzes verwenden?, um noch einmal auf Ralf Wohlleben zurückzukommen. Das erscheint weniger mysteriös als folgerichtig.
Das widersprüchliche Stück namens NSU-Prozess ereignete sich vor aller Augen. Darunter sind welche, die weiterhin vom "funktionierenden Rechtsstaat" reden und schreiben werden. Daneben aber nicht wenige, die die Inszenierung erkannt haben. Diese Inszenierung des Rechtsstaates konzentriert sich unter anderem in dem Satz von Generalbundesanwalt Peter Frank: "Die Akte NSU wird nicht geschlossen." Das sagt er, während seine Behörde gerade den großen Schlussstrich vorbereitet. Denn, ob es zu weiteren Anklagen oder sogar einem Prozess NSU II kommt, ist nach diesem Urteil fraglich. Die Schwelle für eine Nicht-Verfolgung der neun bisherigen Beschuldigten hat das Gericht drastisch gesenkt.
Wie sagte Yvonne Boulgarides, die Witwe des Mordopfers Theodoros Boulgarides, im Februar 2018 in ihrem Schlusswort: "Dieser Prozess ähnelt für mich einem oberflächlicher Frühjahrsputz. Um der Gründlichkeit Genüge zu tun, hätte man die 'Teppiche' aufheben müssen, unter welche bereits so vieles gekehrt wurde."