Im Namen des Staatsschutzes: Die Urteile im NSU-Prozess

Seite 2: Die Bundesanwaltschaft hätte gegen das BfV ermitteln müssen

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Die Alternative zum Verschweigen von Wohllebens mutmaßlicher V-Mann-Tätigkeit durch BfV und Bundesanwaltschaft (BAW) wäre die Offenlegung gewesen. Das hätte das Verfahren zum Platzen gebracht und den gesamten Sicherheitsapparat der Bundesrepublik noch mehr erschüttert, als er es ohnehin schon ist. Die Bundesanwaltschaft hätte gegen das BfV ermitteln müssen - oder ihr hätten die Ermittlungen aus der Hand genommen werden müssen. Diese Lösung kam nicht in Frage. Also musste ein Plan B her.

Bereits eine Woche nach der Urteilsverkündung ist Ralf Wohlleben frei. Das könnte exakt zu einem Plan B passen. Voraussetzung war, dass das Gericht nur zehn Jahre Haft verhängte und nicht, wie von der Anklageinstanz in ihrem Plädoyer gefordert, zwölf Jahre. Mit dem Urteil nun hat Wohlleben zwei Drittel der Strafe abgesessen und kann Haftverschonung in Anspruch nehmen. Wäre er zu zwölf Jahren verurteilt worden, wäre die juristische Rechnung nicht aufgegangen und der Verurteilte hätte noch im Gefängnis bleiben müssen.

Interessanterweise hielt die Bundesanwaltschaft nach dem Urteil nicht an ihrer eigenen Strafforderung von zwölf Jahren fest und legte keine Revision ein, wie im Falle Eminger, sondern befürwortete die Aufhebung des Haftbefehles gegen Wohlleben. Seit 18. Juli ist er auf freiem Fuß.

Passt dieser Vorgang mit der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Gewalten von Anklage und Gericht zusammen? Oder kann man darin eher einer Art Arbeitsteilung zwischen beiden Instanzen entdecken? Und war das energische Plädoyer der Ankläger gegen den Angeklagten Wohlleben etwa nur Schall und Rauch einer Inszenierung?

Der Schlüssel zu den Fragen könnte im staatlichen Auftrag für beide Institutionen zu finden sein, Staatsschutz zu betreiben. Die Bundesanwaltschaft kommt ihm auf ihre und der Staatsschutzsenat des OLG auf seine Weise nach.

Diese Perspektive führt zurück zum Anfang des Prozesses.

Causa Eminger

Es war die Bundesanwaltschaft, die sich das Gericht ausgesucht hat, vor dem sie im November 2012 Anklage im Falle NSU erhob. Es hätte nicht der Staatsschutzsenat in München sein müssen. Mehrere andere Oberlandesgerichte wären in Frage gekommen: Stuttgart, Düsseldorf, Dresden, Berlin etwa. Der erste NSU-Mord geschah zwar in Nürnberg, die Tatserie begann aber mit einem Raubüberfall in Sachsen. Der Mord an einer Polizeibeamtin wurde in Baden-Württemberg verübt.

Die zweite große Überraschung der Urteilsverkündung war die Strafe für André Eminger. Zwölf Jahre Haft hatte die BAW gefordert, zweieinhalb Jahre verhängte das Gericht. Eminger, der im September 2017 nach dem schonungslosen Plädoyer der BAW erneut in U-Haft genommen worden war, kam noch am Tag der Urteilsverkündung wieder frei.

Die Anklage beschuldigte ihn, das rassistische und menschenverachtende Gesamtkonzept der Terrorgruppe gekannt und mitgetragen zu haben. Doch damit machte ihn die BAW im Prinzip zu einem NSU-Mitglied und sprengte ihr eigenes Konstrukt, nach dem der NSU lediglich aus dem bekannten Trio bestanden haben soll. Handelte es sich hier um eine Art Betriebsunfall der Ankläger, einen übermotivierter Kompensationsversuch etwa gegen die anhaltende öffentliche Kritik an der Karlsruher Behörde im NSU-Komplex?

Der Widerspruch ist folgender: Dass Eminger, Wohlleben und auch Holger Gerlach mindestens zum Umfeld des NSU gehörten, kann als gesichert gelten. Die Bewertung der Bundesanwaltschaft im Falle Eminger kann man also als zutreffend bezeichnen. Jedoch: das Beweismaterial dazu legen die Ankläger nicht vor. Haben sie es nicht oder halten sie es zurück? Material, das beispielsweise von einem V-Mann in Emingers Umfeld gewonnen worden sein könnte.

Mit seinem Urteil von nur zweieinhalb Jahren Haft für André Eminger hat das Gericht das Missgeschick der Karlsruher Ankläger ausgebügelt, könnte man sagen. Es hat Eminger als mögliches NSU-Mitglied wieder getilgt und die Tätergruppierung zurückgeführt zur Dreier-Zelle Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe. Dahin, wo die BAW in ihrer Anklage gestartet war.

Der Umgang mit dem Angeklagten Eminger wirft allerdings Fragen auf. Unter anderem ist nun auch er in V-Mann-Verdacht geraten. Einen Beleg dafür gibt es bisher aber nicht. Aktuelle journalistische Recherchen haben allerdings ergeben, dass in der Neonazi-Truppe "Weiße Bruderschaft Erzgebirge", die Eminger anführte, mindestens ein V-Mann des Verfassungsschutzes war. Was weiß er und welche Rolle spielte er? Müssen die Behörden durch ihn gewonnene Informationen zurückhalten, um dessen Identität nicht zu gefährden?

Man erinnert sich bei der Causa Eminger aber auch an ein kurzzeitiges Prozessmanöver im April 2018, an dem die Bundesanwaltschaft beteiligt war. Als sich der Beginn der Verteidiger-Plädoyers immer weiter verzögerte, beantragte zunächst die Verteidigung von Wohlleben und kurz danach auch die Anklagebehörde, das Verfahren gegen Eminger abzutrennen. Der unabhängige Beobachter fragte sich, was das soll. Der Antrag wäre im Interesse Emingers gewesen. Er hätte den Prozess aufgespalten und Eminger aus dem öffentlichen Fokus genommen. Warum ausgerechnet ihn? Und warum ausgerechnet unterstützt durch die Bundesanwaltschaft? Opferanwälte widersprachen damals dem Antrag. Das Gericht stellte die Entscheidung darüber zurück.

Wen die milde Strafe für Eminger aber auf jeden Fall rettet, ist dessen Ehefrau Susann. Sie gehört zu den neun weiteren Beschuldigten, gegen die die Karlsruher Behörde Ermittlungsverfahren wegen Unterstützung des NSU führt. Darunter ist wiederum sicher mindestens eine V-Person. Nachdem ihr Mann davon kam, kann nun Susann Eminger damit rechnen, nicht angeklagt zu werden.

Durch die Verschonung der Emingers wird zumindest aber noch eine andere zentrale Person geschützt: Ralf Marschner, der ehemalige Neonazi-Anführer in Zwickau und ebenfalls zugleich V-Mann des BfV. Denn zwischen Susann Eminger und Marschner gab es eine Verbindung. Und über Marschner wiederum hatte das BfV Kontakt zum NSU. Diese brisante Verbindung wird nun strafrechtlich abgeschwächt. Das nützt Marschner und dem BfV.