Im Netz mit Einstein

Autist, Naivling, Fotomodell? Das Wichtigste: Er ist endlich online!

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Ob Albert Einstein heute ein praktizierender Internet-Süchtling wäre oder ein neo-ludditischer Wald-und Wiesenfreak, kann man nur vermuten, aber bestimmt wäre er sehr zufrieden, wenn er erführe, dass mehr als 230 seiner wissenschaftlichen Manuskripte, 740 nicht-wissenschaftliche Essays und 5 Reisetagebücher in einem schönen demokratischen Akt jedem, der Zugang zum Internet hat, quasi zum Geschenk gemacht werden.

Die kostenlos nutzbaren Einstein Archives Online entstanden durch eine intensive Zusammenarbeit der Hebrew University of Jerusalem mit dem California Institute of Technology und Princeton University Press. Die Datenbank beherbergt Schätze, viele davon sind bisher noch nie veröffentlicht worden.

Anderenorts kaprizieren sich Wissenschaftler auf Einsteins Macken: Zwei Fellows aus Cambridge und Oxford haben den Autisten in Albert entdeckt. Einstein, der sich selbst mal als "Fotomodell" bezeichnet hat und den "Lichtaffen", wie er die Fotografen nannte, gerne die Zunge herausstreckte; Albert Einstein, der bohemienhafte Kosmopolit, berühmt für seinen Charme und Humor, soll Autist gewesen sein? Nun, warum nicht einfach etwas derartiges behaupten, wenn die These für eine Veröffentlichung im New Scientist und einige Schlagzeilen gut ist. Doch ganz so schnell sollte man die These des Autismusforscher Simon Baron-Cohen nicht vom Tisch fegen. Denn er meint eine spezielle und leichte Form des Autismus, auch bekannt als Asperger Syndrom (AS), die meist mit guter Sprachbegabung, überdurchschnittlicher Intelligenz und obsessiv betriebenen - häufig technischen - Interessen verbunden ist (vgl. Die Geek-Autismus-Connection). Asperger wird auch Little Professor Syndrome, Geek Syndrome oder Nerd Syndrome genannt.

Aspies, wie sie sich selber nennen, mögen tendenziell keinen Blickkontakt mit Menschen und sie neigen zum Hyperfocusing . Wenn man sich im Straßenverkehr lediglich auf seine eigenen Füße konzentriert, ist das gefährlich, wenn man jedoch ein Projekt genauso hartnäckig fokussiert, kann was Geniales dabei herauskommen. Weder Funktion noch Form interessiert sie, sondern lediglich, wie etwas gemacht ist. Aspies gelten als schüchtern, leicht exzentrisch, sie reden entweder gar nicht oder sie sind nicht zu stoppen und spicken ihre Sätze mit technischen Termini. Sie bewegen sich unbeholfen als hätten sie ihren Körper nur geliehen und führen automatische, oft repetitive Bewegungen aus wie Schaukeln (rocking), sich um sich selbst drehen, mit den Fingern spielen, mit den Händen flattern (stimming ). Sie sind unempfindlich gegenüber Ironie, Gruppendynamik oder sportlichem Ehrgeiz. Sie insistieren auf Routine und Ritualen, können in Codes besser lesen als in Menschen, sind leicht paranoid, und oft sehr intelligent ( jedoch auch zu Selbstüberschätzung neigend).

Oft bleibt Asperger undiagnostiziert. Die Kombination und Ausprägung der Symptome ist außerdem ganz individuell, so dass eindeutige Diagnosen schwierig sind.

Als Kind soll Einstein sehr einsam und einzelgängerisch gewesen sein, ein echter kleiner Professor also und er soll bis zum Alter von sieben Jahren die Angewohnheit gehabt haben, alle möglichen Sätze obsessiv zu wiederholen. Seine Vorlesungen sollen vollkommen wirr und unverständlich gewesen sein. Auch seine zahlreichen Affären und das politische Engagement befreien ihn in Baron-Cohens Augen nicht vom Verdacht ein AS-Kandidat zu sein:

Leidenschaft, Liebe und Engagement für Gerechtigkeit sind perfekt kompatibel mit dem Asperger Syndrom. Was die meisten Menschen mit AS allerdings schwierig finden, ist das ganz normale Plaudern. Sie verstehen sich nicht auf small talk

Albert Einstein, der sich mal als "einsamen Besucher" auf der Erde bezeichnet hat, der ebenfalls vom Nobelinstitut geehrte John Nash, William Blake, der die Schönheit der Welt in einem Sandkorn entdecken konnte, Ludwig Wittgenstein, der mit zehn Jahren eine Nähmaschine baute und über den seine Mitschüler sagten, er sei "wie aus einer anderen Welt herbeigeschneit", Vincent van Gogh, Glenn Gould, Isaac Newton, der seine Vorlesungen auch hielt, wenn die Studenten ausblieben, Emily Dickinson, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Anton Bruckner, Bela Bartok, Steven Spielberg, um nur einige zu nennen und nicht zuletzt, Bill Gates, der alte rocker- gehören sie alle einer besonderen Spezies an, einer Spezies mit Eigenheiten, die im weitgespannten Regenbogen des autistischen Spektrums leuchten?

Gewisse Attribute eines milden Autismus können in Gesellschaften, in denen systematische Intelligenz gut angeschrieben ist, durchaus als adaptiv gelten, Beispiel Bill Gates. Der zum Hospitalismus neigende und von Computern und Trampolins besessene pedantische Mann mit der hellen gepressten Diskantstimme, der niemandem direkt in die Augen blicken kann und als Junge angeblich die ganze Torah auswendig konnte, wurde von Autismus-Forschern, von denen viele - und nicht die schlechtesten - übrigens oft selbst Symptome aufweisen, schon lange als einer der ihren identifiziert.

Mit den leichten bis mittelschweren Eigenheiten des Aspie ist es leider vielfach nicht getan. Am anderen Ende des Regenbogens sind die schweren Fälle. Was wir wissen ist, dass sich in Kalifornien, wo die Diagnose nach einem gleichbleibenden professionellen System durchgeführt wird, in den letzten vier Jahren die Zahl der schwer autistischen Kinder verdoppelt hat. "Wir sind die Warnung für die anderen", so ein Mitarbeiter der Autism Society of America. "Die Wachstumsrate ist unglaublich. " Die kürzlich veröffentlichten Zahlen besagen, dass Autismus, früher extrem selten, mittlerweile so häufig ist wie Krebs bei Kindern und im Jahre 2006 so oft auftreten wird wie Epilepsie.

Einstein hätte sicher nichts dagegen gehabt, wenn man autistische Merkmale bei ihm diagnostiziert hätte, nicht zuletzt hilft er damit, ein Stigma zu lindern, das auf dem Autismus lastet wie auf vielen Formens des Andersseins. Als Jude wusste Einstein, wie es ist, sich anders zu fühlen und sein politisches Bewusstein hat stets am Respekt für den Anderen festgehalten. Einstein war einer der wenigen, die früh ahnten was der Erste Weltkrieg bedeuten würde und die Kriegsbegeisterung machte ihn krank: "In solcher Zeit sieht man, welch trauriger Viehgattung man angehört." Amos Elon beschreibt in dem ebenso großartigen wie bedrückenden "Portrait der jüdisch-deutschen Epoche"1, wie Intellektuelle und Dichter 1914 massenweise Kriegsfieber bekamen, darunter Thomas Mann, Sigmund Freud, Kurt Tucholsky, Martin Buber, Rainer Maria Rilke, Stefan George, Max Weber, Karl Joel, Fritz Haber, Max Scheler, Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Fulda und Stefan Zweig, um nur einige zu nennen. Die Militarisierung der Intellektuellen war so massiv, dass die rar gesäten Vetos von (u.a.) Hermann Hesse, Karl Kraus, Arthur Schnitzler, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Karl Popper, Karl Liebknecht und Albert Einstein um so mehr Bewunderung verdienen.

Wie Albert nun aber beim small talk war, ist, wie so vieles, Ansichtssache: Zwei Sommer lang, so erzählt Peter Sager in seinem prächtigen und subtilen "Oxbridge"-Panorama2, logierte Einstein in Oxford.

Wenn man über den Hof ging, hatte man das Privileg, ihn in seinem Zimmer geigen zu hören. Was seine Unterhaltung im allgemeinen angeht, so hatte ich leider nicht das Gefühl, in Gegenwart eines weisen Mannes oder tiefen Denkers zu sein.

Ein Fellow von Einstein in Christ Church

Eine gewisse Schlichtheit fiel auch Harry Graf Kessler auf als er bei Einsteins zum Essen eingeladen war, doch ohne die kalte Brise Oxfordscher Arroganz entsteht ein ganz anderes Bild:

Dieses wirklich liebe, fast noch kindlich wirkende Ehepaar verlieh diesem etwas zu großen und großindustriellen Diner eine gewisse Naivität... Irgendeine Ausstrahlung von Güte und Einfachheit entrückte selbst diese typisch Berliner Gesellschaft dem Gewöhnlichen und verklärte sie durch etwas fast Patriarchalisches und Märchenhaftes.