Im Netzwerk von Krieg und Kapitalismus

Wenn sie überlebensfähig bleiben will, muss die Friedensbewegung die Konzepte der Globalisierungskritiker für ihre Sache mobilisieren

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Nachdem die Bewegung der Globalisierungskritiker am 11. September vorübergehend verstummte und im Zuge des Krieges gegen den Terror in der breiten Öffentlichkeit zusehends an Glaubwürdigkeit verlor, wird ihr Potential spätestens jetzt einmal mehr erkennbar. So viel vorab: Bei genauerer Betrachtung scheint sie die fehlende Agenda der einmal mehr orientierungslos gewordenen Friedensbewegung zu stellen. Daher sollte die Friedensbewegung angehalten sein, die Konzepte der Globalisierungskritiker für ihre Sache zu mobilisieren, um im 21. Jahrhundert erfolgreich weiter zu leben.

Bill Clinton bei einem PR-Event des Rüstungskonzerns Lockheed (Lockheed)

Revival der Protestbewegungen

Nachdem selbst geläuterte Alt-68er den Glauben an die Macht der Demonstrationen verloren und Pierre Bourdieu, Chefdenker der Sozialbewegungen, konstatiert hat, dass "fünfzig clevere Leute, die ein erfolgreiches Happening veranstalten und fünf Minuten ins Fernsehen kommen, ebenso viel politischen Einfluss wie eine halbe Million Demonstranten" haben, scheint sich ein Revival abzuzeichnen: Protestierende Massen machen wieder von sich reden. Wenn Seattle 1999 ein Meilenstein für die Protestbewegung der Globalisierungsgegner war, so wurden die Demonstrationen im Vorfeld des Dritten Golfkrieges als historischer Sieg der Friedensbewegung gehandelt. Jonathan Schell bezeichnete am 14.04.2003 in The Nation die Friedensbewegung sogar als Dritte Supermacht:

Public-opinion polls showed that in most countries opposition to the war was closer to unanimity than to a mere majority. A Gallup poll showed that in "neutral" (and normally pro-American) Switzerland the figure was 90 percent, in Argentina 87 percent, in Nigeria 86 percent, in Bosnia (recently the beneficiary of NATO intervention on its behalf) 91 percent. In all of the countries whose governments supported the war except Israel's, the public opposed it.

Die protestierenden Massen haben einen starken Eindruck hinterlassen, sie haben Mut gemacht und gezeigt, dass man "Nein" sagen kann. Robert Muller, ein ehemaliger UN-Sekretär, fasste die im Zuge dessen geschürte Stimmung wie folgt in Worte:

I'm so honored to be alive at such a miraculous time in history. I'm so moved by what's going on in our world today. For never before in the history of the world has there been a global, visible, public, viable, open dialogue and conversation about the very legitimacy of war.

Artwork von Peace etc. (etc.-publications)

Doch konnten die Kerzen der protestierenden Massen die Cruise Missiles der selbsternannten Befreier nicht aufhalten. Der Krieg begann offiziell Mitte März 2003 (vgl. Showdown Iraq) und wurde Anfang Mai, also gut einen Monat später, von George W. Bush für beendet erklärt. Jedoch ist sehr wohl bekannt, dass er weiter geht und immer absurdere Formen annimmt. Warum schweigt die Friedensbewegung? Warum geht niemand auf die Straße?

Folgendes ist nicht der Grund, aber vielleicht die Erklärung: Es ist ein Krieg, wie er derzeit an vielleicht mehr als 15 Orten in der Welt geführt wird: Low Intensity Warfare. Es ist ein so genannter "Neuer Krieg", der von Söldnern, Paramilitärs, Guerillas und Zivilisten geführt wird. Ein Krieg also, der, um mit dem Politikwissenschaftler Azzellini und dem Historiker Kanzleiter zu sprechen, "komplexere Antworten erfordert als die Forderung nach dem Ende von Bombardierungen." Worum geht es also? Um nochmals Azzellini/Kanzleiter zu bemühen: "Es geht um die Kritik einer neuen Kriegsordnung, die ein Ausdruck gegenwärtiger Entwicklungstendenzen des Kapitalismus ist."

Krieg und Wirtschaft im Weltmaßstab

Der Krieg gegen Amerika begann 1979 mit der Geiselnahme in der US-Botschaft in Teheran, zog sich über das Attentat auf unsere Truppen 1983 in Beirut, das Massaker 1993 in Somalia bis hin zu den Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania. [...] Die Anschläge vom 11. September sind das letzte Glied in [dieser] Kette.

James Woolsey, Tagesspiegel, 12.5.2002

Engagierte Politik- und Wirtschaftswissenschaftler dürften bei dieser Aussage des ehemaligen CIA-Chefs aufhorchen. Denn wer in die späten 1970er zurückblickt, bemerkt zwei Entwicklungen, die parallel einsetzten und gewissermaßen den Boden für das schufen, was Woolsey unverhohlen als einen weiteren Weltkrieg bezeichnet.

1. Der Zerfall der Großreiche und die subsequente Entkolonialisierung setzte offiziell ein als 1975 die ehemals portugiesischen Kolonien Angola und Mosambik in die Unabhängigkeit entlassen wurden. Der Berliner Politologe Herfried Münkler notiert in Die Neuen Kriege

Nahezu alle Kriege, die in den letzten zehn bis zwanzig Jahren unsere Aufmerksamkeit für kurze oder längere Zeit in Anspruch genommen haben, entwickelten sich an den Rändern und Bruchstellen der einstigen Imperien, die bis zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die Welt beherrscht und unter sich aufgeteilt hatten.

Grenzübergang zum Irak (DoD)

2. Die über territorial definierte Räume hinaus gehende, tendenziell weltweite Ausweitung von wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Praktiken beginnt, nach einschneidenden Aufbrüchen um 1870 und 1945, um 1980 seine dritte Phase: Die dritte Welle der Globalisierung wird durch liberalisierte Finanzmärkte und eine "neue internationale Arbeitsteilung" charakterisiert. Im Zuge dessen erringen die sich globalisierenden Entwicklungsländer erstmals bedeutende Anteile am Welthandel mit Industriegütern.

Der an der FHTW Berlin lehrende Wirtschaftswissenschaftler Trevor Evans erinnert in einem anderen Zusammenhang:

Seit den frühen 70er Jahren, als die langanhaltende Aufschwungphase, die dem zweiten Weltkrieg gefolgt war, ihr Ende erreicht hatte, gab es in der US-amerikanischen Ökonomie drei große Rezessionen: 1973-75, 1980-82 und 1990-91. Jede dieser Rezessionen war mit einem starken Rückgang des Sozialprodukts und der Beschäftigung in den USA verbunden und aufgrund der dominanten internationalen Position der amerikanischen Wirtschaft wurde davon auch der Rest der Welt erheblich beeinflusst.

Azzellini und Kanzleiter schlagen in ihrem Reader Das Unternehmen Krieg (Assoziation A, 2003) vor, Krieg und Kapitalismus zusammenzudenken. Ja, sie wollen zeigen, wie es gerade die aus dem Westen betriebene Globalisierung des neoliberalen Kapitalismus ist, welche in den Peripherien dieses Systems zu Neuen Kriegen führt. Dabei möchten sie ihre Feststellung nicht nur abstrakt begriffen sehen. Es genügt ihrer Meinung nach nicht, die wachsende Schuldenkrise samt damit einhergehenden gesellschaftlichen Fragmentierungen als Ursache für den Ausbruch von Neuen Kriegen auszumachen. Stattdessen gelte es anzuerkennen, dass der Einsatz privatisierter Gewalt, der häufig als Symptom für den vom Westen beklagten Staatszerfall herangezogen wird, vom Westen selbst forciert wird.

Denn Entwicklungen wie die Privatisierung von Kriegsführung, zeichnen sich nicht nur in Ländern der Dritten Welt ab, die als Labor für die Neuen Kriege gelten, sondern ebenso in Industrienationen, darunter den USA und Deutschland. Ein wahrlich globaler Trend, der Kriegsgegner bzw. Friedenskämpfer vor eine zwar weltweite Ausmaße annehmende, jedoch regional kodierte Gemengelage aus staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren stellt.

Dabei scheint das Netzwerk dieser Akteure etwa genauso intransparent, wie die Prozesse innerhalb der Finanzwirtschaft, auf die sie Einfluss nehmen: Inflationen, Aktienverläufe und Kurse am Rentenmarkt. Die Finanzströme, die einen wesentlichen Motor der Globalisierung darstellen, sind unsichtbar und in ständiger Bewegung. Sie spiegeln sich zwar auf den Anzeigetafeln der Börsen, jedoch entzieht sich ihre Dynamik einer visuellen Darstellung, die die zu Grunde liegenden Prozesse plastisch erfasst. Das Kapital von heute verflüchtigt sich in Telefonleitungen und wird zwischen Zentralrechnern hin und her geschoben; das Handeln ökonomischer Akteure bleibt verborgen. In der populären Vorstellung spiegelt sich diese Eigenschaft in Ohnmachts- beziehungsweise Allmachtsfantasien: So kann Ben Afflecks Hacker-Kollege in dem Roger Michel-Film "Spurwechsel" das Bankkonto von Samuel Jackson ohne weiteres per Knopfdruck in einen irreversiblen Bankrottzustand versetzen. Keine Fingerabdrücke, keine Beweise.

Eine Weltkarte "finanzieller Pole" (Bureau d'études)

Undurchschaubar wirkt die globale Finanzwirtschaft auch deshalb, weil Konzerne nicht selten an der Grenze zur Legalität operieren. Beziehungsweise Legitimität. Denn illegal wären die Operationen meist nur dann, wenn sie in unserem demokratischen Rechtsstaat abgewickelt würden. Unilever zum Beispiel wird die Zerstörung lokaler Handelsstrukturen in Afrika und Asien sowie die Ausbeutung durch Rohstofflieferanten vorgeworfen. Die Exxon Mobil Corporation hingegen ist wegen der Finanzierung von Bürgerkrieg und Waffenhandel im "Schwarzbuch der Markenfirmen" (Deuticke, 2001) eingetragen. Eine Dimension der Verflechtung von offiziellen und inoffiziellen Finanzströmen tritt hier zu Tage, auf die viele Beobachter aufmerksam gemacht haben, so unterschiedlich wie die NGO CorpWatch und Herfried Münkler.

Letzterem zufolge ist dieses Netzwerk so gut ausgebildet, dass es sich sogar bei mehr als zehn Jahre lang andauernden Kriegen als tragfähig erweist. Um das Phänomen zu beschreiben, wird der Begriff der Schattenglobalisierung ins Feld geführt. Als ihre Knotenpunkte gelten Schattenbanken. Die Bank for Credit and Commerce International zum Beispiel, die 1972 von einem pakistanischen Banker gegründet wurde und bis zu ihrer Schließung Anfang der 1990er in 73 Ländern agierte, soll selbst der Geheimdienst und die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika für ihre Interessen instrumentalisiert haben. Hans Eichels und Ernst Weltekes Forderung "Wir müssen das globale Finanzsystem transparenter machen" würde demnach statt Klarheit, Widersprüche und Chaos hervortreten lassen.

Gemeinsame Ziele

Abgesehen von Ausnahmen wie Bureau dŽetudes World Monitoring Atlas scheint es daher unangebracht, Analysen aus der planetarischen Perspektive vorzunehmen. Stattdessen gilt es, und darin sind sich Azzellini und Kanzleiter auch einig, individuelle Fallstudien vorzunehmen. Auf diese Weise kann die Gemengelage aus staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren in ihrer regionalen Ausformung begriffen werden: Entwicklungen in der US-Armee, die die Zunahme privater Militärunternehmen mit sich bringen; afrikanische Militärapparate, die sich in Bergbauunternehmen verwandeln und sich gegenseitig bewaffnete Konkurrenzkämpfe um Minen liefern; Paramilitärs, die zwecks Aufstandsbekämpfung in Kolumbien und Mexiko, hochgezüchtet werden. All das sind zwar Symptome des globalen Trends hin zur Privatisierung von Kriegsführung, doch neben ihren Gemeinsamkeiten, gilt es Differenzen herauszuarbeiten, um konkrete Angriffsflächen zu schaffen. Angriffsflächen, die ebenso fundierten wie berechtigten Protest ermöglichen. Firmen wie DynCorp machen dabei deutlich, dass Friedensaktivisten sowie Konzern- und Globalisierungskritiker virtuell an einem Strang ziehen.

Auf der Website von CorpWatch war zum Beispiel zu lesen, dass DynCorp seit dem "Ende" des Dritten Golfkriegs die Ausbildung von lokalen Polizeieinheiten leitet. Als privates Militärunternehmen leistet es allerdings nicht nur einer zusehends privatisierten Auslandspolitik Vorschub. Nachdem die an der Börse gehandelte Computer Science Corporation (CSC) DynCorp für 950 Millionen US-Dollar kaufte, ist DynCorp auch zum gefragten IT-Security-Dienstleister avanciert: Das Outsourcing von Regierungsinformatik und Geheimdienstunterlagen steht nun ebenfalls an der Tagesordnung des ursprünglich als Söldnerschmiede bekannten Konzerns, was ihm schier unüberschaubare Freiräume erschließt. Jedenfalls konstatieren Beobachter wie der Mitarbeiter des Züricher Zentralamerika-Sekretariats Dieter Drüssel DynCorp faktische Straflosigkeit. Manifest wird dieser Umstand bereits im Vertrag zwischen DynCorp und dem US-State Department: "Die Art von "Routineaufsicht", welcher offizielle militärische Aktivitäten unterworfen wären, werden von Auftraggebern beiläufig umgangen," erklärt Steven Aftergood von der Federation of American Scientists. "Dies beleuchtet, wie das Phänomen der Privatisierung militärischer Funktionen es der Regierung in einem schockierenden Ausmaß möglich gemacht hat, (öffentliche) Kontrolle zu umgehen."

Es dürfte sich von selbst verstehen, dass Konzern- und Globalisierungskritiker angesichts dieser Tatsache nicht tatenlos zusehen können. Doch ob es selbstverständlich ist, dass sich auch Friedensaktivisten derartiger Probleme annehmen, ist zwar eine andere, jedoch keine untergeordnete Frage. Denn immerhin liefert die Antwort auf diese Frage eine Vorschau darauf, ob die Friedensbewegung im 21. Jahrhundert auf der Höhe ihrer Zeit, ja, ob sie überlebensfähig bleiben wird.

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Krystian Woznicki ist Ko-Herausgeber von Peace etc.