Im Schatten des Cannabis-Hypes: Die Aufputschdroge des IS
Captagon aus Syrien erreicht Deutschland. Die Bundesrepublik gilt als Umschlagplatz, aber auch als Absatzmarkt. Wie die Netzwerke arbeiten.
Während in Deutschland im Zuge der Teil-Legalisierung über Cannabis-Gefahren diskutiert wird, boomt das illegale Geschäft mit Drogen, die als leistungssteigernd gelten.
Syrien ist seit Jahren ein Hotspot der Captagon-Produktion. Die Aufputschdroge wurde auch von der Terrormiliz "Islamischer Staat" in Gefechten genutzt – ähnlich wie Pervitin von der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Der Captagon-Schmuggel ist aber nicht nur in der Region ein Problem, sondern hat bereits Europa und auch Deutschland erreicht.
Captagon: Ein weiteres Drogenproblem in Europa
Neben Crack und Fentanyl wird Captagon in Europa zunehmend zum Problem – und Deutschland zum wichtigen Umschlagplatz. Ende 2022 wurden am Kölner Flughafen 59.000 Captagon-Pillen, versteckt in Bremszylindern, beschlagnahmt. Kurz darauf wurden am Flughafen Leipzig 32 Kilogramm in Duftkerzen und in einem Pizzaofen entdeckt. Beide Funde sollten über Deutschland in die arabischen Golfstaaten, Saudi-Arabien und Bahrain gehen.
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Die bislang größte Menge wurde im Oktober 2023 beschlagnahmt: Zollfahnder entdeckten 300 Kilogramm Captagon in einer Garage in Nordrhein-Westfalen, die in Sandsäcken versteckt waren. Vier Syrer wurden als Tatverdächtige verhaftet. Insgesamt wurden mit Köln und Leipzig 461 Kilogramm Captagon-Pillen im Wert von 64,5 Millionen US-Dollar sichergestellt.
Psycho-Droge, Medikament oder Fluch?
Captagon ist ein in den 1960er-Jahren als Medikament entwickeltes Amphetamin, das stark abhängig macht. Als Psychostimulanz kann Captagon zu Euphorie, erhöhter Wachsamkeit sowie gesteigerter körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit führen. Es kann aber auch Depressionen, Angstzustände und Halluzinationen auslösen. Ursprünglich wurde es bei Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzt.
1986 wurde es wegen starker Nebenwirkungen vom Markt genommen. Captagon wird inzwischen illegal produziert und ist gerade im Nahen Osten weitverbreitet. Viele Labore befinden sich in den von der syrischen Zentralregierung kontrollierten Gebieten. Die Droge wurde in Syrien und im Irak vorwiegend von Kämpfern des "Islamischen Staates" in Gefechten genutzt.
Captagon-Connection: Schwere Vorwürfe gegen syrische Regierung
Heute sind die Tabletten hauptsächlich für die Golfstaaten bestimmt, wo sie zunehmend zum Problem werden. Aber auch in Europa taucht die Droge vermehrt auf. Deutschland könnte sich zum Umschlagplatz für Captagon aus Syrien und dem Libanon entwickeln.
Syrien ist während des Krieges und der Sanktionen gegen die Regierung von Baschar-al-Assad ein zentraler Produzent der Aufputschdroge Captagon geworden. 80 Prozent des weltweit produzierten Captagons sollen mittlerweile in Syrien hergestellt werden. Laut einem Bericht der Konrad-Adenauer-Stiftung ist Captagon sogar für die syrische Regierung ein wichtiger Wirtschaftszweig geworden. Im Jahr 2021 wurden mit Captagon in Syrien etwa 5,35 Milliarden Euro umgesetzt.
Kampf gegen den Captagon-Schmuggel
Die Drogenfahnder bei den Sicherheitskräften (Asayîş) der Demokratischen Autonomen Administration von Nord- und Nordostsyrien gehen seit Monaten gegen den Drogenschmuggel vor. In ihrer Anti-Drogen-Akademie in Dêrik haben unter anderem US-Spezialisten Einheiten der Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Drogenkriminalität ausgebildet.
Diese Akademie wurde im Oktober 2023 von der Türkei bombardiert. Dabei kamen 29 Drogenfahnder ums Leben Man kann vermuten, dass der Angriff auf die Drogenfahnder in Dêrik kein Zufall war: die türkische Regierung, bestehend aus Erdoğans AK-Partei und der ultranationalistischen MHP unterhält enge Beziehungen zur türkischen Mafia, die im internationalen Drogenhandel besonders aktiv ist.
Trotz der andauernden türkischen Drohnenangriffe vor allem auf Fahrzeuge der Sicherheitskräfte setzen die Asayîş ihre Einsätze fort und fanden Mitte Februar auf einem Grundstück am Ufer des Euphrat zwischen Rakka und Manbidj mehr als 325.000 in Säcke verpackte Captagon-Tabletten.
Captagon-Drogenverstecke in Pflastersteinen
Ende Februar stellten die Asayîş in einem Lagerhaus in der nordwestsyrischen Stadt Manbidj mehr als 20 Millionen Captagon-Pillen sicher. Die Pillen waren in Pflastersteinen versteckt worden. Nach Auskunft des Militärs (SDF) der Selbstverwaltung von Nord- und Nordostsyrien stammten die Pillen aus der Hafenstadt Tartus, die von der syrischen Regierung in Damaskus kontrolliert wird.
Nach Angaben der kurdischen Nachrichtenagentur ANF sollten sie von dort "in ein Nachbarland" geschmuggelt werden. Das unmittelbare Nachbarland ist die Türkei. Da es wegen der türkischen Grenzmauer entlang der türkisch-syrischen Grenze nur die Grenzübergänge in den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens gibt, ist davon auszugehen, dass der Drogenschmuggel über die von der Türkei finanzierten islamistischen Söldner der "Syrischen Nationalarmee" (SNA) organisiert wird.
Anfang März fanden die Asayîş beim Ausheben eines Netzwerkes von IS-Zellen und organisierter Kriminalität neben Waffen und Munition fast 560.000 Captagon-Pillen, 2,7 Kilogramm Crystal Meth und weitere Betäubungsmittel wie das Opioid-Analgetikum Tramadol, das oftmals als Rauschmittel eingenommen wird. Bei dieser Razzia wurden 50 Personen verhaftet, darunter 13 mutmaßliche IS-Terroristen, sowie drei SNA-Mitglieder und 31 Drogenkriminelle.
Drogenfahnder kommen nicht zur Ruhe
Für die Behörden der Selbstverwaltung sind die Produktion und der Schmuggel von Captagon durch ihr Gebiet in Nachbarländer eine große Belastung: Allein im Jahr 2023 hatten die Drogenfahnder 1.946 Einsätze, die sich gegen mutmaßliche Hersteller, Dealer und Schmuggler der Droge, aber auch gegen Konsumenten richteten. Dabei wurden rund 3.300 Personen festgenommen.
Jordanien geht schon seit Jahren gegen den Drogenhandel aus Syrien vor. Da Schmuggler das Land als Transitland für den Rauschgiftschmuggel nutzen, kommt es an der 362 Kilometer langen Nordgrenze des Königreichs regelmäßig zu Zusammenstößen. Im Juli 2023 berichtete der jordanische Außenminister Ayman Safadi, dass in den vergangenen zwei Jahren mehr als 65 Millionen Captagon-Pillen beschlagnahmt wurden.
Bei einem Einsatz des jordanischen Militärs nahe der syrisch-jordanischen Grenze im Januar wurden fünf mutmaßliche Schmuggler getötet. Jordanische Truppen nahmen 15 Menschen fest und stellten große Mengen an Drogen sicher, darunter mehr als 600.000 Captagon-Pillen.
Am 13. März verhinderten jordanische Behörden den Schmuggel großer Drogenmengen; wenige Tage später vereitelte der jordanische Zoll den Schmuggel von 237.000 Pillen mit zwei syrischen Fahrzeugen nach Jordanien. Jordanische Behörden behaupteten, die syrischen, lokalen Schmuggler stünden mit dem Iran in Verbindung. Schwere Vorwürfe werden in diesem Zusammenhang gegen die syrische Regierung in Damaskus erhoben.
Welche Rolle spielt der Assad-Clan im Captagon-Handel?
Die libanesische Terrororganisation Hisbollah soll nach Angaben des Nahost-Thinktanks Mena-Watch Verbindungen zu staatstragenden syrischen Akteuren nutzen, um tonnenweise Drogen nach Europa und in den Nahen Osten schmuggeln: "Zu den bekanntesten Schmuggelrouten gehören die syrisch-libanesische Grenze über West-Qalamun, Zabadani und Madaya im Rif Dimashq sowie Al-Qusayr im Umland von Homs, die alle von der Hisbollah kontrolliert werden."
Laut einem Bericht von Mena-Watch beaufsichtigt Samer Kamal Assad, der einflussreiche Cousin des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, eine der Produktionsanlagen für das Rauschgift in Al-Bassah südlich der Hafenstadt Latakia gemeinsam mit Hisbollah-Agenten. Wassim Assad, ein weiterer Cousin, soll laut dem Bericht am Schmuggel von Latakia nach Europa beteiligt sein. 2020 beschlagnahmten italienische Behörden 14 Tonnen Captagon-Tabletten aus Syrien.
Europa als Umschlagplatz für Drogen aus dem Labor
Ein aktueller Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht legt nahe, dass Europa zu einem wichtigen Umschlagplatz für Captagon werden könnte.
Die jüngste Razzia in Deutschland untermauert diesen Bericht. In dem Bericht heißt es, dass zwischen 2018 und 2023 rund 127 Millionen Tabletten (1.773 Kilogramm) der Droge in den EU-Mitgliedstaaten beschlagnahmt wurden. Den größten Fund mit 84 Millionen Tabletten gab es 2020 im italienischen Salerno. Doch weshalb wird der Umweg über Europa in die arabischen Länder gewählt?
Zum einen unterliegen im Vergleich zu den europäischen Grenzkontrollen die direkten Wege im Nahen Osten strengeren Kontrollen. Auch lassen sich Drogen besser über verschiedene Zwischenstationen auf dem Landweg (z. B. Türkei) und dem Seeweg (Mittelmeer) schmuggeln, weil Lieferungen von Europa in die arabischen Staaten unverdächtiger sind.
Illegale Drogenlabors auch in Deutschland
Auch in illegalen Labors in Europa wird zunehmend Captagon produziert. Einerseits gibt es auch hier einen Markt von Konsumenten, andererseits sparen sich die Drahtzieher in Syrien Transportwege, wenn über seine Netzwerke in Europa produziert wird.
Im Juli 2023 stellte das Bundeskriminalamt in einem illegalen Captagon-Labor bei Regensburg Material für rund 3 Tonnen Pillen sicher und nahm zwei tatverdächtige Syrer fest.
In Berlin-Lichtenberg wurden 2021 schon 60 Kilogramm Captagon beschlagnahmt, allerdings erachtete das Berliner Landeskriminalamt (BKA) dies nicht als bedeutsam, obwohl bekannt ist, dass vor allem in der arabischen Community in Berlin-Neukölln eine Pille Captagon mit 15 bis 20 Euro gehandelt wird.
2022 wurden zwei syrische Straßenhändler in Neukölln mit 460 Tabletten aufgegriffen – auch dies veranlasste das BKA nicht, die Behörden in NRW über die Funde in Berlin zu informieren, um gegebenenfalls bundesweite Netzwerke aufzuspüren.