Im Ukraine-Krieg müssen Friedensverhandlungen oberstes Ziel sein

Seite 2: In diesem Krieg liegt noch erhebliches Eskalationspotential

Haben Sie den Eindruck, dass der Ukraine-Krieg ein ganz besonders grausamer Krieg mit besonders vielen Kriegsverbrechen ist? Die mediale Darstellung geht in diese Richtung, aber vielleicht ist das eine sehr eurozentrische Sichtweise. In den armen Ländern des Südens fürchtet man, dass bei ihnen die Zahl der Hungertoten größer sein wird als die Zahl der ukrainischen Kriegstoten – wegen der russischen Blockaden ukrainischer Häfen und wegen der westlichen Sanktionen gegen russische Getreideexporte.

Jedes einzelne Kriegsopfer ist eine Tragödie und ein unersetzbarer Verlust. Und die Personen, die die Ukraine-Invasion befohlen haben - insbesondere Putin - sind in meinen Augen Massenmörder. Aber wenn wir den realistischen Blick auf unsere Welt nicht zulassen, wo auch uns partnerschaftlich verbundene Staaten mörderische Kriege beginnen, dann hat jegliches Drängen auf Friedensverhandlungen mit Russland keine Chance: Mit dem Teufel, der einzigartig böse ist, kann man doch keinen Kompromiss aushandeln!

Gerhard Trabert: Ohne irgendetwas relativieren zu wollen: Jeder Krieg ist eine Aneinanderreihung grausamster Handlungen, und in jedem Krieg geschehen Verbrechen. In Syrien wurde Giftgas eingesetzt. Im Bosnien-Krieg wurde systematisch vergewaltigt. Im Jemen-Krieg lässt man Menschen gezielt verhungern. Denken wir auch an My Lai oder Srebrenica. Krieg ist immer grausam!

Bereits an unserem ersten Reisetag haben wir Rauchsäulen gesehen, die von russischen Raketenangriffen auf ein Bahnstellwerk und ein Elektrizitätswerk herrührten. Bei diesen Angriffen auf ukrainische Infrastruktur wurde ein Wohnhaus getroffen, in dem elf Menschen starben – und zwar Hunderte Kilometer entfernt von den Hauptkriegszonen. Klinikpatienten aus Butscha schilderten uns, wie einem Mädchen vor ihren Augen durch eine Splitterbombe beide Beine abgetrennt wurden.

In Irpin wurden uns Handyfotos gezeigt, auf denen ebenfalls Opfer mit abgetrennten Gliedmaßen zu sehen waren. Man schilderte uns, wie russische Soldaten einfielen, sich betranken und dann mit ihren Panzern willkürlich alles zusammenschossen, was zufällig im Weg war – egal ob Häuser oder Menschen.

Lwiw und Kiew sind wunderschöne Städte, die, nach allem, was wir dort mitbekamen, bisher nur in Außenbezirken beschädigt sind. Selbst in Butscha sind außerhalb des komplett zerstörten Einkaufszentrums viele Gebäude unversehrt. Das zeigt allerdings, dass in diesem Krieg noch erhebliches Eskalationspotential liegt.

Wie beurteilen Sie die Diskussion über Waffenlieferungen?

Gerhard Trabert: Obwohl ich seit meinen Hilfseinsätzen in den Jugoslawienkriegen kein Pazifist mehr bin: Ich halte es für vollkommen falsch, Pazifisten als Putin-Freunde zu diskriminieren, und Menschen, die für Waffenlieferungen eintreten, als Kriegstreiber zu bezeichnen. In den Kriegsregionen und Flüchtlingslagern, in denen ich aktiv war, habe ich aus all den Leidensgeschichten, die mir erzählt wurden, den Schluss gezogen, dass man einem Despoten auch militärisch entgegentreten muss.

Dennoch sollten immer sämtliche Möglichkeiten einer Verhandlungslösung ausgelotet werden. Das muss oberstes Ziel bleiben. Wenn Waffenlieferungen lediglich dazu führen, eine militärische Aufwärtsspirale zu befeuern, ist das für die Menschen in den Kriegsgebieten eine Katastrophe.

Das ist doch genau die Frage, die nicht ausreichend geklärt ist: Wozu dienen Waffenlieferungen? Sorgen sie dafür, dass die Ukraine durch ihre Verteidigungsstärke verhandlungsfähig bleibt – und dementsprechend aber auch auf Verhandlungslösungen drängt? Oder soll die Atommacht Russland militärisch besiegt werden?

Letzteres basiert meines Erachtens auf einer kaum nachvollziehbaren Risikobewertung. Wie kann man Putin als abgrundtief bösen, unberechenbaren Schlächter einstufen und gleichzeitig davon ausgehen, dass derselbe Putin im Fall einer drohenden Niederlage nicht zu seinen Atomwaffen greift?

Gerhard Trabert: Eine solche Strategie ist offensichtlich mit unkalkulierbaren Risiken verbunden. Deshalb hat Macron meines Erachtens recht, wenn er dafür plädiert, Putin nicht zu demütigen. Macron geht es nicht darum, Putin zu unterstützen, sondern ausschließlich darum, die Tür für einen Verhandlungsfrieden offen zu halten. Putin muss für sich Verhandlungen als gangbare Option zur Beendigung dieses Krieges bewerten können. Ansonsten geht das Töten weiter.

Das Eskalationspotential der Ukraine-Krieges ist noch lange nicht ausgeschöpft. Die UN spricht von bisher mehr als 4.000 zivilen Todesopfern. Im Syrien-Krieg hat die russische Luftwaffe allein in der Stadt Aleppo mehr als 50.000 zivile Todesopfer mitzuverantworten.

Wie groß ist die Entscheidungsfreiheit der ukrainischen Regierung?

Meinen Sie, die Bundesregierung sollte auf die Notwendigkeit einer zeitnahen Verhandlungslösung drängen?

Gerhard Trabert: Dieses Thema ist in Europa natürlich Sprengstoff. Polen und die baltischen Staaten wünschen sich ein deutlich härteres Vorgehen der Nato als etwa Frankreich und Italien. Meines Erachtens kann nur eine diplomatische Initiative, besser heute als morgen, Frieden bringen.

Aber ich bin auch der Meinung, dass niemand der Ukraine vorschreiben darf, was sie zu tun hat. Letztendlich geht es um Konfliktthemen, die die Ukrainer mit Russland klären müssen. Wir haben zu akzeptieren, was diese beiden Kriegsparteien verhandeln, bzw. was für die Ukraine ein tragbarer Frieden sein kann.

Ob die Ukraine diese Entscheidungsfreiheit hat, halte ich für ungewiss. Die USA haben seit Kriegsbeginn 47 Mrd. Dollar Investitionen für die Ukraine beschlossen. Man muss nicht davon ausgehen, dass sie diese Riesensumme ohne eigene Strategievorstellungen zur freien Verfügung stellen – obwohl sie dies behaupten.

Die Ukraine hängt vollständig am Tropf der Nato-Staaten, und die Frage ist vielleicht nicht, ob die ukrainische Regierung nachdrückliche Strategieempfehlungen erhält, sondern welche Empfehlungen dies sind.

Gerhard Trabert: Für mich ist eine rote Linie im Hinblick auf die ukrainische Selbstbestimmung, wenn man dazu übergeht, russisches Territorium anzugreifen.

Eine weitere rote Linie ist der Einsatz geächteter Waffen. Bereits jetzt wird nicht nur Russland, sondern auch der Ukraine die Nutzung von Streubomben und Antipersonen-Minen vorgeworfen. Auch wenn solche Vorwürfe gegenüber der Ukraine derzeit nur sehr eingeschränkt angesprochen werden: Da darf es keinen Freifahrtschein geben. An die Einhaltung solcher Bedingungen und Forderungen sollte man Waffenlieferungen eben auch knüpfen.

Und es gibt weitere Themen, die gedeckelt werden, indem man diejenigen, die sie ansprechen, sofort in die Putinhelfer-Ecke stellt. Zu diesen vergifteten Themen gehören etwa das bereits genannte Drängen auf kompromissoffene Friedensverhandlungen oder Hinweise auf gravierende Fehler, die die Nato im Vorfeld dieses Krieges gemacht hat.

Wer sich hier aus dem Fenster lehnt, läuft Gefahr abgestraft zu werden – auch wenn er oder sie ausdrücklich klarstellt, dass solche Diskursbeiträge in keiner Weise den russischen Angriffskrieg rechtfertigen können und wollen.