Im Westen ist die Toleranz für Katastrophen geschwunden

Seite 2: Heute will man totale Sicherheit

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Und wie gehen im Vergleich dazu die Europäer damit um?

François Walter: In Europa sieht es etwas anders aus: Bis zum 20. Jahrhundert waren sich die Reaktionen auf Naturereignisse und auf menschengemachte Katastrophen ziemlich ähnlich. Seit dem 18. Jahrhundert kannte man industrielle Katastrophen, und im 19. Jahrhundert gab es gar nicht so wenige davon. Denken Sie an Bergwerksunglücke oder Eisenbahnunglücke. Man hat dies als natürlich empfunden. Als Preis des Fortschritts.

Es schien normal, dass in einer Industriegesellschaft gelegentlich zu Unfällen kommt. Die westliche Kultur hat das akzeptiert. Eine interessante Entwicklung ist der starke Ausbau des Versicherungswesens, der sich parallel zur industriellen Entwicklung vollzieht. Damit wird, weil kein Einzelner mehr verantwortlich ist, die Verantwortung für industrielle Katastrophen gewissermaßen der ganzen Gesellschaft zugewiesen. Und man muss die Risiken verteilen. Damit ist die Vorstellung zunehmend zur Gewohnheit geworden, dass uns die Gesellschaft vor den Folgen einer Katastrophe zu schützen hat.

Aber offensichtlich ist dann im 20. Jahrhundert, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Veränderung eingetreten. Man hat die Gefahren der Technik zunehmend nicht mehr akzeptiert. Man besteht darauf, dass die Gesellschaft uns in allen Lebenslagen beschützt. Das wird offensichtlich dann besonders problematisch, wenn man es mit etwas zu tun hat wie einem Störfall in einem Atomkraftwerk. Man will so etwas nicht als etwas normal akzeptieren - auch nicht in einer Industriegesellschaft, in der es viele solche Kraftwerke gibt. Wenn es im 19. Jahrhundert dagegen zur Explosion in einer Kohlenmine kam, hat man das sehr wohl als etwas nahezu Selbstverständliches angesehen. Man wusste, dass man damit leben musste - und zugleich war man überzeugt, dass es dem technischen Fortschritt gelingen würde, die Dinge mehr und mehr beherrschbar zu machen.

Heute lebt man in einer Welt, in der man technische Pannen nicht mehr akzeptiert. Man will totale Sicherheit.

Die "Spirale des Desasters"

In Ihrem Buch beschreiben Sie die "Spirale des Desasters", den Eindruck, es gäbe in jüngster Zeit mehr und mehr Katastrophen, auf allen Ebenen. Hängt der mit diesem totalen Sicherheitsbedürfnis zusammen?

François Walter: Absolut. Dieser Eindruck entsteht natürlich auch deshalb, weil heute selbst vergleichsweise kleinere Unglücke in den Medien sehr stark bebildert und aufbereitet werden. Man ist viel aufmerksamer für solche Vorgänge, als noch vor 50 oder auch nur vor 20 Jahren. Durch diese sehr starke Mediatisierung von Katastrophen entsteht der falsche Eindruck, als gäbe es viel mehr als früher. Dazu kommt, dass sich um die einzelnen Ereignisse der allgemeine Umwelt-Diskurs legt, sowie der Diskurs der Klimaerwärmung. Es scheint ein Katastrophen-Wachstum zu geben.

Man sollte mit solchen Vermutungen sehr vorsichtig umgehen, denn Statistiken gibt es erst seit kürzerer Zeit. Man hat keine langfristigen Daten. Daher ist es eine Übertreibung zu glauben, es gebe heute viel mehr Katastrophen als früher. Es gibt andere Katastrophen.

Es gibt zum Beispiel Katastrophen, die lange nicht existierten, und die heute wiederkehren. Zum Beispiel Überschwemmungen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es in Europa nur sehr wenig große Überschwemmungen. Durch die Veränderungen des Klimas und der Erdoberfläche sind wir heute für diesen Typ Katastrophen viel verwundbarer.

Müssen wir lernen, wieder mehr Unsicherheit und Risiko zu akzeptieren?

François Walter: Die Unsicherheit hat immer existiert. Wir leben in einer Periode der Geschichte, in der es überall Risiken zu geben scheint, und diese überall zunehmen - das ist die berühmte "Risikogesellschaft", von der Ulrich Beck spricht! Das, was wir akzeptieren müssen, ist dass wir angesichts dieser Risiken noch mehr Verantwortung tragen. Man kann es nicht länger den anderen oder gar zukünftigen Generationen überlassen, die Probleme zu lösen. Es sind unsere Lebensweisen, die wir verändern müssen und zwar jetzt und grundsätzlich. Wir müssen akzeptieren, dass die Grundlagen des europäischen Wohlstands infrage stehen.

Wir müssen uns daran gewöhnen, in einer Gesellschaft zu leben, in der Leistung und Wachstum nicht länger die einzigen Werte sind. Hier führt uns die Erfahrung der Katastrophe leichter zur Veränderung im Sinne der Idee einer gerechteren, solidarischeren und partizipativeren Gesellschaft.

Das diffuse Risiko, gegen das sich keiner schützen kann

Wie ist Ihr Eindruck von der europäischen Reaktion auf die Katastrophe in Japan. Wir scheinen uns viel mit den potentiellen Gefahren zu beschäftigen und weniger mit den realen Verheerungen in Japan, mit den aktuellen Leiden der japanischen Bevölkerung. Was passiert da?

François Walter: Es stimmt, man sieht eine gewisse Hysterie angesichts der Ereignisse. Es gibt große Angst vor einer nuklearen Wolke. Heute ist mir eine Person begegnet, die ich im Prinzip für sehr vernünftig halte, und hat gesagt: Wir müssen unbedingt Jodtabletten essen, um uns vor dem Krebsrisiko durch die Atomstrahlung zu schützen.

Aber die Leute haben Angst. Sie erinnern sich an Tschernobyl und glauben, das alles sei "wie Tschernobyl". Die normalen Leute erinnern sich, dass man damals ein Informationsdefizit hatte.

Tschernobyl war das erste Ereignis eines neuen Typus von Katastrophe: Des unsichtbaren Risikos. Des diffusen Risikos, gegen das sich keiner schützen kann. Auch das ist ein Einschnitt in der Kulturgeschichte der Katastrophen. Und heute projeziert man diesen Fall auf das neue Szenario. Und vergisst darüber völlig die Naturkatastrophe und ihre Folgen.

Ein anderer Aspekt des Erdbebens von Japan: Wir sind Katastrophen aus armen, unterentwickelten Ländern gewohnt. Wir assoziieren Katastrophen mit den Ländern des Südens, der Dritten Welt. Da halten wir Katastrophen fast für natürlich. Und jetzt hat man eine Katastrophe, die ein technisch sehr fortgeschrittenes Land trifft. Eine der führenden Ökonomien der Welt.

Das ist sehr überraschend, und es erlaubt uns nicht, mit den gewohnten Mustern zu reagieren: Mit Solidarität und Geldspenden. Wäre das in Haiti oder einem anderen armen Land, fiele uns da alles sehr leicht. Aber im Fall von Japan wissen wir nicht recht: Sollen wir jetzt Geld spenden?

Es gibt auch bisher keine Hilfskonten und Sammelaktionen - jedenfalls waren sie noch nicht wahrnehmbar. Die Organisationen, die sich mit so etwas professionell beschäftigen, wissen nicht recht, was sie machen sollen. Sie haben kein Handlungsschema für ein Land wie Japan und agieren plötzlich hilflos.

Das sind die beiden Aspekte: Einerseits die Angst vor dem Unsichtbaren und vor etwas, vor dem man sich auch theoretisch nicht wirklich schützen kann. Und andererseits der Schreck darüber, dass so eine Katastrophe auch ein fortschrittliches Land treffen kann. Beides zeigt uns: Morgen könnte es uns selbst treffen, könnten auch wir Opfer werden. Nicht immer nur die anderen.

Ethisches Defizit in den Ländern des Westens

Wird da auch ein moralisches Defizit des Westens sichtbar? Ein Defizit an Humanismus?

François Walter: Ganz allgemein gesagt glaube ich, dass es in den Ländern des Westens ein ethisches Defizit gibt. Gerade ein deutscher Philosoph, Hans Jonas, hat das früh thematisiert: Wir haben außerordentliche technische und materielle Fähigkeiten, aber wir sind gleichzeitig nicht fähig, ihre ethischen Konsequenzen zu tragen. Wir sind unseren phantastischen Handlungsmöglichkeiten nicht gewachsen.

Katastrophen dienen immer wieder als Beispiel für Heldenmut und Feigheit zugleich. Auf der einen Seite die Feuerwehrleute, die sich am 11.September 2001 geopfert haben, um andere zu retten, wie die japanischen Kraftwerksarbeiter jetzt; auf der anderen Seite Menschen, die feige scheinen und fliehen. Sind Menschen im Angesicht der Katastrophe generell tapferer, oder feiger, verändert sich das? Gibt es Ihrer Ansicht nach so etwas wie Heldentum überhaupt?

François Walter: Im Angesicht der Katastrophe tun viele Menschen einfach ihre Pflicht: Feuerwehrleute, Sicherheitspersonal, Ärzte. Aber es ist auch eine Gelegenheit für manche, sich auszuzeichnen - das ist die kathartische Funktion der Katastrophe. Man kann sich in ihr selbst aufwerten, indem man eine exzeptionelle Wahl trifft. Das ist eine Form, der Banalität des täglichen Lebens zu entfliehen. Das gibt es sehr häufig in Film-Geschichten, aber es existiert auch inmitten der tragischen Ereignisse, wie wir sie gerade erleben. In außergewöhnlichen Umständen können sich Menschen sehr gewöhnlich und sehr egoistisch benehmen, aber auch sehr erhaben.

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