Im Westen ist die Toleranz für Katastrophen geschwunden

Seite 3: Auch Gefühle unterliegen der Globalisierung

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Gibt es Ihrer Ansicht nach eigentlich starke kulturelle Unterschiede in der Wahrnehmung von Katastrophen? Und woher kommen sie?

François Walter: Heute sind solche Unterschiede viel weniger sichtbar als früher. Auch Reaktionsweisen und Gefühle unterliegen der Globalisierung. Das zeigt auch der Vergleich zu Tschernobyl. 1986 reagierten die europäischen Ländern sehr unterschiedlich: In Westdeutschland und auch der Schweiz war man sehr emotional, in Skandinavien besorgt, aber gelassen, in den anderen Ländern hat man sich dagegen kaum Sorgen gemacht. Heute dagegen trifft man auf wenig Differenzen.

Natürlich gibt es bestimmte Themen, auf die in bestimmten Ländern besonders übersensibel reagiert wird: In Deutschland und der Schweiz ist das etwa die Kernenergie. In Frankreich dagegen, wo Kernenergie eine viel größere Bedeutung hat, sieht man die Dinge anders. Im deutschen Sprachraum gibt es eine lange Tradition des Kampfes und Widerstands gegen die nuklearen Risiken.

Es ist natürlich etwas früh, für solche Urteile, aber wie würden Sie das Erdbeben von Japan historisch einordnen? Ist unsere große Erschütterung dauerhaft? Wird sie etwas verändern? Oder ist das eine kurzfristige Hysterie, die bald durch eine neue öffentliche Erregung abgelöst wird?

François Walter: Ich denke, sobald man die nuklearen Risiken gemeistert hat, werden sich die Dinge sehr schnell beruhigen. Die öffentliche Meinung ist es inzwischen gewöhnt, dass außergewöhnliche Ereignisse aufeinanderfolgen. Im Jahr 2011 weiß man mit so etwas zu leben. Allerdings: Wenn das nukleare Risiko real wird, wenn eine radioaktive Wolke zum Beispiel andere Länder berühren sollte, dann dürfte es zu erheblichen Veränderungen kommen. Mit Sicherheit in Bezug auf Atomenergie. Es gibt ja bereits in Deutschland und in der Schweiz diese Moratorien. Damit hat die Katastrophe auch in ganz anderen Teilen der Welt unmittelbare Effekte. Das ist schon etwas Neues.

Das hängt sicher mit der beschriebenen Medialisierung zusammen. Wie glauben Sie wird sich das in Zukunft entwickeln? Werden unsere Massengesellschaften mehr und mehr durch Katastrophen getrieben? Diktieren Katastrophen und die Angst vor ihnen unser Verhalten?

François Walter: Das ist schon heute der Fall. Wir leben in einer Welt voller Unsicherheiten, wollen aber totale Sicherheit. Alle Unfälle und technischen Pannen steigern diese Spirale noch. Und wir leben derzeit in einer grundsätzlich sehr pessimistischen Periode in Bezug auf unsere Zukunft. Die Zukunft scheint ungemein schwierig zu sein. Wir haben keine Vorstellung davon, wie eine bessere Zukunft möglich wäre, und wie sie aussehen könnte. Solche katastrophalen Ereignisse wie das Beben verstärken diese Atmosphäre noch und die Vorstellung, dass man sich Sorgen über die Zukunft machen müsste. Die Idee, dass die Zukunft schlechter ist als die Gegenwart, ist ganz allgemein verbreitet. Sie beherrscht die öffentliche Meinung. Es gibt ein sehr grundsätzliches Misstrauen.

Daher gibt es auch diese Lust an der Katastrophe und der Apokalypse in vielen Filmen, in Büchern, in Comics. Das ist eine Form von Antizipation - da Gefühl, etwas schon vorab zu durchleben, was uns allen noch bevorsteht.

Wir sollen nicht alles glauben, was uns suggeriert wird

Sprechen die Katastrophen zu uns? Was können wir aus der Kulturgeschichte der Katastrophen, aus Ihrem Buch lernen?

François Walter: Ich glaube, dass die Betrachtung der Kulturgeschichte der Katastrophen uns lehrt, die Gegenwart und ihre Diskurse kritisch zu betrachten. Wir sollten nicht alles glauben, was uns suggeriert wird. Und die Erinnerung an vergangene Katastrophen bringt uns ein Stück Distanz gegenüber der Gegenwart bei. Wir können uns fragen: Woher kommt diese Fülle an negativen Prognosen? Warum sind wir so fasziniert von Bildern des Untergangs? Warum lieben wir Katastrophenfilme. Die Geschichte der Katastrophen gibt uns eine Position, von der aus wir die dominanten Diskurse nicht mehr sofort akzeptieren müssen. Wir können uns fragen: Was steckt dahinter? Gibt es Gruppen in der Gesellschaft, politische Bewegungen, die ein Interesse am Katastrophismus haben?

Ich denke, die Geschichte der Katastrophen lehrt uns Skepsis auch gegenüber den wissenschaftlichen Katastrophen-Diskursen, insbesondere in Bezug auf angebliche Zukunftskatastrophen. Wir sollten uns erinnern, dass es sich bei so etwas immer um Hypothesen handelt. Vielleicht können wir durch die Geschichte der Katastrophen eine etwas kritischere und vernünftigere Haltung gewinnen und ein bisschen besser zwischen Fiktion und Realität zu unterscheiden lernen.

Und was können wir Ihrer Ansicht nach daraus lernen, wie die Japaner jetzt mit der Katastrophe umgehen? Das westliche Klischee ist ja: Japaner sind fatalistisch und geben im Zweifelsfall ihren Gefühlen keinen Ausdruck.

François Walter: Ja, es stimmt, dass unsere Wahrnehmung Japans falsch ist oder zumindest sehr begrenzt. Es ist sehr wichtig, sich zu erinnern, dass die Kultur Japans ein Verhältnis zur Natur hat, das sich von dem des Westens vollkommen unterscheidet. Um es sehr kurz zu sagen: Im Westen trennt man das Soziale von der Natur. Für Japaner liegt beides eng zusammen.

Das Soziale ist Teil der Umwelt. Und es gibt eine Art kosmischer Verschmelzung zwischen Natur und Kultur. Die Wahrnehmung der Kultur ist von der Wahrnehmung der Natur nicht getrennt. Und das, was wir Fatalismus nennen, ist in meinen Augen eine Ausgeglichenheit, Gelassenheit und Weisheit, die ihr Potential gerade heute beweist. Die Japaner geben uns in der Tragödie ein Beispiel dafür, wie man anders und möglicherweise besser mit der Natur umgehen könnte, als wir das im Westen tun.

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