"Im Winter ist mit einer bedeutenden russischen Offensive zu rechnen"

Seite 2: "Die Hilfe der Nato spielt natürlich eine Rolle"

In Deutschland wird das Thema Lieferung deutscher Waffen an die Ukraine kontrovers diskutiert. Welche Rolle spielen sie im Krieg?

Wassili Kaschin: Die Hilfe der Nato spielt natürlich eine Rolle, wobei hier die USA an erster Stelle steht. Ohne diese Hilfe wäre die Ukraine im Sommer besiegt worden. Sie hätte ihren Verlust an schweren Waffen, ihren Munitionsverbrauch nicht wettmachen können.

Die deutsche Hilfe für sich allein ändert die Lage an der Front nicht, aber es ist eine unangenehme Komponente für Russland und man wird sich an sie erinnern. Sie umfasst Panzerabwehrwaffen, Mehrfachraketensysteme und moderne Artilleriegeschütze. Wichtig sind vor allem die modernen Panzerhaubitzen. Sie führen zu einer Zunahme der russischen Verluste.

Ihr Kollege Ruslan Puchow nannte die in der Ukraine eingesetzten russischen Panzer veraltet. Russland hat ja auch modernere Entwicklungen, wie den Kampfpanzer Armata. Warum wird er nicht an der Front eingesetzt?

Wassili Kaschin: Armata ist der modernste Panzer und er ist noch im experimentellen Einsatz nur einiger Dutzend Einheiten. Hier läuft noch eine Testphase. Nach dem Ende des Kalten Kriegs gab es eine Umstrukturierung im Rüstungsbereich. Es wurden vor allem sehr komplexe, teure Systeme, aber in einer kleinen Anzahl hergestellt. Diese Entwicklung gab es auch in Russland, moderne Modelle wurde in kleineren Stückzahlen produziert.

"Die Nato versammelt alles in Osteuropa verbliebene sowjetische Material"

Wenn man aber mit einem Konflikt im ukrainischen Ausmaß konfrontiert ist, wo gepanzerte Fahrzeuge in hunderten Einheiten pro Woche verbrannt werden, kann keine Seite sie durch laufende Produktion decken. Russland nutzt seine Lager, die Nato versammelt alles in Osteuropa verbliebene sowjetische Material und beginnt langsam auch mit der Lieferung westlicher Modelle. Aber deren Menge ist begrenzt. Ich denke, wir stehen vor einer Umstrukturierung der Verteidigungswirtschaft.

Im Osten der Ukraine gibt es schon Partisanen, die gegen die russische Besatzung kämpfen. Nun werden dort ebenfalls Leute rekrutiert. Wie beeinflusst das die Stimmung?

Wassili Kaschin: Über solche Formationen wird gelegentlich gesprochen. Aber man sieht wenig Anzeichen echter Aktivität. Es kommt zu Anschläge auf Vertreter der Besatzungsverwaltung. Aber nichts deutet auf einen bevorstehenden Aufstand hin. Wirklich Kopfschmerzen werden Russland eher die ukrainischen Geheimdienste und Spezialeinheiten bereiten.

Sie operieren auch direkt auf russischem Territorium. Ich halte den Mord an Daria Dugina für ein Werk dieser Einheiten. Die russische Seite war weder in der Lage, ihn zu verhindern, noch ihn aufzuklären. In Gebieten der Ukraine, die Russland nicht annektieren will, werden auch Daten in sozialen Netzwerken gesammelt und von speziellen Tools ausgewertet.

Wer nach den gesammelten Erkenntnissen starke proukrainische Gefühle zum Ausdruck bringt, wird in das von der Ukraine beherrschte Gebiet deportiert. Ich halte deswegen auch die Anschläge auf Besatzungsvertreter für ein Werk von Geheimdiensten und Spezialeinheiten, nicht von Partisanen.