Impfpflicht: Freiheit, die gemeint ist

Der liberale Rechtsstaat gerät zusehends mit den Freiheitsrechten seiner Bürger in Konflikt

Die gesetzgeberisch angedachte allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 und ihre Einführung bei bestimmten Berufsgruppen sowie die Politik der Einschränkungen für Ungeimpfte verschärfen den gesellschaftlichen Streit um die Corona-Maßnahmen.

Anfangs kamen die Behörden der Beschaffung von Impfdosen kaum hinterher, für die Impfwillige Schlange standen. Das bestätigte die Politiker in ihrer geübten Praxis, den Willen zu Eigenverantwortung und Mitsorge als Vehikel der öffentlichen Gesundheitspflege einzuspannen.

Die Impfquote stieg, Impfstoff gab es zeitweise mehr als genug, und die Liberalen aller Parteien, die ziemlich gut wissen, was sie an den bürgerlichen Freiheiten haben, wetteiferten mit der Zusicherung, niemand habe vor, einen Impfzwang zu errichten. Das unterscheide ihren freiheitlichen Laden außerdem positiv von undemokratischen Regimen wie dem alten in Ostberlin oder der Null-Covid-Diktatur in Peking.

Vorneweg der ehemalige Gesundheitsminister, der allerdings anfügte, man brauche den Zwang auch gar nicht, und so das bedingte Verhältnis des Staats zu den Freiheiten, die er gewährt, durchscheinen ließ.

Denn angesichts der weiteren zwei griechischen Buchstaben, die etlichen Absolventen des weltmeisterlichen deutschen Bildungssystems nachträglich bekannt werden, und vor allem wegen des hartnäckigen Sockels an Impfskeptikern, -verweigerern und -gegnern im Volk sehen sich die politisch Zuständigen zu einer aktualisierten Klarstellung veranlasst bezüglich der Freiheit, die sie meinen. Und entsprechend schallt es aus den Reihen der widerspenstigen Freunde dieser Freiheit zurück.

Rechtsstaatliche Impfbeschleuniger

Natürlich hängt die Bekämpfung einer Virus-Epidemie von der Unterbrechung der Übertragungswege ab, die in der Immunisierung der Bevölkerung ihr wirkungsvollstes, aber nicht ihr einziges Mittel hat. Um diese medizinische Logik kommt auch die Pflege der kapitalistischen Volksgesundheit nicht herum. In Sachen Corona folgt sie ihr sogar mit einem Eifer, den man bei den regelmäßigen Grippewellen und insbesondere bei den notorischen Zivilisationskrankheiten vergeblich sucht.

Diese verunklären in ihrem Namen, dass sie nicht jeder, sondern einer bestimmten, nämlich der herrschenden Zivilisation angehören. Weil nämlich die Erkrankungen der Gefäße, des Bewegungsapparats oder der Psyche notwendige Folgen des marktwirtschaftlichen Erwerbslebens darstellen, von dem Bürger und Staat abhängen, darf dieses nicht an der Beseitigung solcher Krankheiten leiden.

Ähnlich wie der Kapitalismus mit einer berechenbaren Zahl an Grippetoten leben kann. Das unterscheidet diese Arten von Morbidität – jedenfalls derzeit und absehbar – von den Covid-Fällen, die in kaum prognostizierbarer Menge aus unvorhersehbaren Mutationen hervorgehen und so die Volksgesundheit bedrohen, also die nötige Verfügbarkeit der Bevölkerung für ein wachstumsförderliches Produzieren und Konsumieren samt Schule und Erholung.

Der Erhalt eines funktionsfähigen Krankenhauswesens gilt der staatlichen Abwehr dieser Bedrohung als operationalisierbares Maß. Das ist zwar nicht dasselbe wie die Gesundheit der Individuen, aber wenigstens dem muss sich gegebenenfalls und zeitweilig auch das nationale Wirtschaftsleben beugen – in dessen Erfolg die seuchenpolitischen Maßnahmen doch ihr ganzes Weiß-Warum haben.

Auch deshalb erscheint dem bürgerlichen Staat das Durchimpfen des Volks als der Ausweg schlechthin aus der Zwickmühle, der Wirtschaft zu ihrem Nutzen schaden zu müssen. Denn ein flächendeckendes Impfen hilft, die Lockdowns und weitere Maßregeln zu verkürzen oder zu erübrigen, die den Gewinnen, Investitionen, Arbeitsplätzen, Staatsfinanzen oder der Schulbildung so abträglich sind.

Die große Bevölkerungsmehrheit hat für dieses Dilemma ihres Staats Verständnis, schließlich hat er alle privaten und öffentlichen Einkommensquellen davon abhängig gemacht, dass der Wirtschaft ihr Wachstum gelingt.

Der Großteil der Arbeitnehmer und viele im Kleingewerbe könnten an dieser Abhängigkeit zwar bemerken, dass der gewöhnliche Ertrag daraus nicht nennenswert über das Monatsende hinausreicht und deshalb die Existenz prekär wird, wenn in Lockdowns der Volksgesundheit Rechnung getragen werden muss. Das wird aber nirgends zum Thema; der Wunsch nach kapitalistischer Normalität scheint die ganze Klugheit zu sein, die die pandemische Erfahrung lehrt.

Die Impfung ist ein Durchgangspunkt zu diesem Normalzustand, deren entscheidende medizinische Wirkung nicht davon abhängt, ob die Bevölkerung aus Einsicht, auf Nachdruck der Familie, aus Gründen des Berufs, der Moralität oder aus staatsbürgerlichem Opportunismus daran teilnimmt. Politiker unterscheiden da ohnehin nicht weiter.

Denn Rationalität ist nicht ihre Verkehrsform mit dem Volk. Die Virologen werden zwar befragt, den Ausschlag, das ist jedem Bürger geläufig, gibt aber die grundgesetzliche Hierarchie der Macht samt Weisungsbefugnis der Behörden. Begleitend kommen auch höhere Werte zum Einsatz, ohne dass sich die Anwender davon abhängig machen würden.

Die derzeitige Schuldzuweisung an die Ungeimpften ist so ein Fall. Der Vorwurf, sie ließen es der Nation gegenüber an Pflichtgefühl und Mitverantwortung fehlen, zählt dabei als zehnmal wirkungsvoller als das schlichte Argument, dass im rationellen Verhalten angesichts einer Epidemie der Eigennutz mit dem Nutzen anderer zusammenfällt.

Die sachgemäße Aufgabe, Übertragungswege zu minimieren, gilt nämlich für alle und hilft jedem. Aber die staatsmoralische Anmache anstelle einer materialistischen Überzeugungsarbeit passt besser zu einer Gesellschaft von Gegensätzen, die der Vernunft nicht zugänglich sind. Eine gesetzliche Pflicht, die mit Sanktionen bewehrt wird, ist im Bedarfsfall die adäquatere Form des Umgangs mit unfolgsamen Bürgern aller Couleur, die außerdem politisch schnell in die rechte Ecke gestellt werden.

Der Bedarf bringt dann innerhalb von fünf Wochen ein paar jahrelang für ehern erklärte Prinzipien der Theoretiker und Praktiker von Recht und Gesetz auf den neuesten Stand. Schließlich sind die Freigabe wie die Verpflichtung des Bürgerwillens nur zwei Weisen seiner öffentlichen Indienstnahme – in diesem Fall für die rechtsstaatlich-marktwirtschaftliche Abwehr einer Sorte Naturkatastrophe. Warum sich bei den demokratischen Impfdränglern andere, ebenfalls wirksame Maßnahmen der Infektionsunterbrechung bevorzugt herauskürzen bzw. regelmäßig verzögern oder sich in die Freizeitsphäre verlagern, wurde bereits gesagt.

Bürgerliche Impfgegner

Mit einer solchen Kritik ist die vorherrschende Skepsis gegenüber der offiziellen Pandemie-Politik leider nicht weiter befasst. Impfverweigerer teilen mit den Impfwilligen zwar die Miseren, die aus der epidemischen Lage und der marktkonformen Weise ihrer Bekämpfung hervorgehen und auch sie nach "Normalität" rufen lässt.

Die Christenmenschen unter den praktizierenden Impfgegnern setzen dem aber lieber die Forderung entgegen: "Wir sind freie Kinder Gottes, kein Impfzwang!". Vielleicht meinen sie, wegen ihrer special relations nach oben so frei sein zu dürfen.

Das Verlangen nach Freiheit ertönt aber auch in der ganz profanen Fassung: "Meine Gesundheit, meine Entscheidung, mein Recht!" Und diese Kombination von Medizin, Gesundheit und Recht auf freien Willen ist erklärungsbedürftig. Was ist denn die Freiheit, die die Impfgegner meinen?

So sehr nämlich der eigene Wille bei der Zustimmung zu einer gesundheitlichen Maßnahme im Spiel ist, so sehr tritt er zurück im Verhältnis zum medizinischen Grund und Inhalt der Entscheidung. Niemand würde im Alltag den Gang zum Zahnarzt oder zur Krebsvorsorge daraus erklären, dass er die Freiheit dazu ergreift. Umgekehrt wird jedes Kind, das die Zahnuntersuchung verweigert, weil es "das eben will", dazu angehalten, auf "Warum?" nicht stereotyp mit "Darum!" zu antworten und die Folgen zu bedenken.

Es ist nicht üblich, den Inhalt einer Willensbekundung für grundverkehrt zu halten, vor ihr selbst aber den Hut zu ziehen. Ein freier Autofahrer, der vor Jahren die Gurtpflicht mit dem Argument zurückwies, sein Bauch gehöre ihm, würde sich heute lächerlich machen. Freiheit und Gesundheit gehen rationell betrachtet so nicht zusammen. Wenn, ist es die Einsicht in das medizinisch Notwendige, die (letale Befunde außen vor) Freiheitsgrade bei der Verfolgung eigener Interessen eröffnet.

Auch bei einer Risikoabwägung, die mit der Covid-Impfung zweifellos einhergeht, folgt die vernünftige Entscheidung bestimmten Kriterien und orientiert sich an Schadens-Wahrscheinlichkeiten.

Definitive Impfgegner allerdings folgen solchen Überlegungen eher nicht. Wie bei vielen Impfbereiten auch gilt in ihren Reihen der geforderte, gewohnte und verschleißende Einsatz der eigenen Physis für Arbeit und Beruf als persönliche Tüchtigkeit. Das Impfrisiko bei einer "Giftspritze", die den "Selbstheilungskräften" widerspricht oder am Ende noch die "Gene verändert", weisen sie lautstark zurück.

Dieser Einstellung kommt es freilich entgegen, wenn Covid-19 die fragliche "Selbstheilung" nicht praktisch Spitz auf Knopf stellt. Überdies macht nicht die Logik, vielmehr die Empörung über die vermeintliche Verletzung der Freiheitsrechte die kruden medizinischen Theorien plausibel.

Das gilt auch für die politischen Narrative über globale Eliten, die unter dem Vorwand einer Virus-Bekämpfung ihre finsteren Ziele verfolgen würden. An den staatlichen Maßregeln wird nur die abstrakte Repression gegen ihre volksgesundheitlichen Gründe festgehalten, für die dann je nach weltanschaulicher Orientierung ganz eigene Befunde ersonnen werden.

Den Kapitalismus kennen die meisten Impfgegner als den Reibach von Biontech/Pfizer & Co., als wäre der Profit nicht das allgemeine Prinzip dieser Ökonomie, in der ein Pharma-Konzern sogar einen Extragewinn, am besten einen deutschen, schöpfen kann.

Dazu passt, dass diese Kritiker in der existenziellen Angewiesenheit auf ein Arbeitsentgelt, dessen Zustandekommen völlig dem eigenen Einfluss entzogen ist, keine Freiheitsberaubung entdecken können. Das ist für sie eben die Normalität, der man sich stellen muss – und in der und gegen die man zugleich die Fiktion eines selbstbestimmten Lebens festhalten will.

Es liegt in den Umständen dieses Willens, dass er schnell beleidigt sein kann und sich dann um den verdienten Lohn der Anpassung, die bürgerliche Freiheit eben, betrogen sieht.

Wie zuvor erwähnt, nicht durch den unabweisbaren Zwang, zum Monatsersten die Miete zu bezahlen, durch eine Masken- oder Impfpflicht aber schon. Das berechtigt enttäuschte Mitmacher dazu, bei ihren Klagen über die "Corona-Diktatur" nach den Schmähungen zu greifen, die im nationalen Arsenal für einen solchen Befund bereitstehen: "wie in der DDR" und "wie bei Hitler".

Und ihre Etikettierung als rechte Querschläger bringt redliche Zeitgenossen schon gleich auf hundertachtzig. Wutbürger unterschiedlichen Grades entschließen sich also, die Stimme zu erheben und den Freiheitskampf aufzunehmen, der in der Spitze über die Schreierei wegen der Mundschutzpflicht in der Straßenbahn inzwischen deutlich hinausgeht.