In Art 97 - Cyberkultur auf Teneriffa

Pop~Event

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Mit Orlan, Sandy Stone, Sally Jane Norman u.a.

Teneriffa ist eigentlich als europäisches Winterreiseziel bekannt. Im Dezember Ž97 war es aber Veranstaltungsort für , ein Treffen von Kritikern, Kuratoren, Künstlern und Veranstaltern aus der Cyberkultur. Bei intensiven theoretischen Face2Face Diskussion ist die starke Präsenz von Frauen wie Orlan, Sandy Stone und Sally Jane Norman aufgefallen.

pop~EVENT IN ART 97, Digital Bodies Virtual Identities

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TeilnehmerInnen von In Art97

In Art 97 fand von 9.-12. Dezember in Puerto Santa Cruz auf Tenerifa statt. Veranstaltungsraum für das "Arte Cybernetico"-Symposion, in dem alle Präsentationen stattfanden, bot das dunkle, fensterlose Castillo San Felipe, das festungsartig angelegt auf einer Klippe in den Atlantik ragt. Diese Konzentration auf einen Ort wirkte sich positiv auf die Intensität der Auseinandersetzungen aus. So konnte ein Hauch von Urlaub unter Palmen gerade noch während der Stromausfälle, Mittagspausen am Strand und einem Tänzchen am Fusse des Vulkans aufkommen.

Der spanische Künstler Daniel Canogar war diesjähriger Organisator des Festivals zur Ästhetik und Kultur von digitalen Technologien. An die Teilnehmer stellte er die Fragen nach dem Data_Set und dem Körper, zumindest schien man dies unter "Digital Bodies /Virtual Identities" zu verstehen. Das Publikum bestand zu einem grossen Teil aus Studenten der mitveranstaltenden Universität von La Laguna. Ausserdem kamen auch eine Anzahl all jener Kritiker, Kuratoren und Theoretiker, die bei den meisten Cyber-Konferenzen anwesend sind, wie Pit Schultz, Andreas Broeckmann und Gerfried Stocker.

Orlan, Sally Jane Norman: Verschwörung der Frauen?

Die öffentlich zugängliche Konferenz hätte aber auch für ein konspiratives Treffen radikaler Frauen, Künstlerinnen und Netzaktivistinnen gehalten werden können. Diese trafen sich auf einer Insel im Atlantik, nicht um wie Franko vor 40 Jahren einen Putsch zu planen, sondern um das "Inter and Both", das Dazwischen und Gleichzeitige von Geschlechtern, Methoden, Körpern und Technologien in wechselseitiger Abhängigkeit und anhand von konkreten Beispielen zu diskutieren. Frauen wie Orlan, Sandy Stone und Sally Jane Norman prägten diese Konferenz..

Ganz gewiss muss es bei den bei In Art97 angesprochenen Fragestellungen nicht nur um die Probleme der Konstruktion des menschlichen Selbst, der Individualität und Identität gehen. Sicher können auch einfach Identiäts oder Con-dividualitäts bildende Datenströme in den elektronischen Netzen betrachtet werden. Vorsilben wie Post-, Trans- und Cyber- haben aber schon Internetgemeinschaften wie Extropians mit ihren Ideen vom Transhumanismus allzuoft benutzt und hin zu einem horrorifaschistoiden Idealbild des Supermenschen in freier Entfaltung und technologischer Manipulation vorcodiert. Auch der Begriff des Cyborgs wird meist mit der Harawayschen Cyborg-Schule verbunden. Wenn wir über digitale Körper und virtuelle Identitäten sprechen, sind viele Begriffe schon vorbelastet. Konferenzen mit intensivem Austausch wie InArt 97 können aber wieder etwas frischen Wind in die Diskussion bringen.

Orlan: My body is my software

Orlan bei In Art97

Wenn eine Künstlerin ihren Körper direkt als Material für die elektronische Vortex zur Verfügung stellt, kann das als schockierend empfunden werden. Die französische Künstlerin Orlan hat ihr Gesicht so weit chirurgisch verändern lassen, dass dadurch ein Diskurs zum weiblichen Selbstbild jenseits biologischem und gesellschaftlichem Determinismus ausgelöst wird.

Orlan bei einer Operationsperformance

Als eindrucksvolle Protagonistin einer Haltung, die das menschliche Gesicht als Interface begreift, beschreibt sie ihre Arbeit als Beispiel für den Gebrauch von Technologie und Wissenschaft zur Neubesetzung von mythologischen und historischen Idealbildern der Frau. Sie gebraucht die ihr zur Verfügung stehenden Medien und Technologien genauso wie ihren Körper als ihr ureigenstes künstlerisches Material und Ausdrucksmittel.

Orlan fragt: Warum soll der Körper mit der Haut enden und die Haut mit einem vordefinierten Gesicht, das durch männliche Sichtweisen bestimmt wird?

"Art is a dirty job, but sbd has to do it!" Orlan beim Modellieren ihrer Hörner

Orlans Gesicht ist das "Face" vom Face-2-Face Event am Weg zum symbolischen Interface. Orlane ließ ihr Gesicht zwar mit Hilfe plastischer Chirurgie nach mythologischen Frauenbildern modellieren, aber durch die Vermischung von Versatzstücken - Stichwort "Körpersampling" - veränderte sie die eigentliche Bedeutung dieser Idealbilder und ihr traditionelles Verständnis. Einer radikal emanzipatorischen Ästhetik folgend schuf sie ihr eigenes Gesichtsbild. Indem sie Mytholgie und Symbolismus, wie etwa die zuletzt modellierten Hörner auf ihrer Stirn einsetzt, entsteht ein überraschender Mix von visuellen Zitaten. Ihre Arbeit wendet sich nicht gegen Ästhetik, aber gegen Standards in jeglicher Hinsicht.

Niemals wollte sie nur ein weiteres weibliches Schönheitsideal konstruieren, sondern verdeutlichen, dass ihr weiblicher Körper ihr eigenes Material ist. Sie schockierte das spanische Publikum nicht nur mit ihren Video-Tapes von blutigen Operationsperformances sondern auch mit ihrem Vorschlag an die anwesenden Frauen, ihre Ovarien beim nächsten Chirurgen entfernen zu lassen, um dadurch wirklich das tun zu können, was sie eigentlich wollen.

Orlans digitale Gesichtsveränderung

Auf die Frage, was all dies mit Technologie oder neuen Medien zu tun habe, verweist sie auf ihre neuen digitalen Gesichtsmanipulationen, die auch in einer CD-ROM Installation gezeigt wurden. Möglich sind auch Assoziationen zu Bio- und Gentechnologie oder registrierten Lebewesen wie der Krebsmaus "Oncomouse" des Schweizer Konzerns Laroche. (Donna Haraway benutzt diese im Titel ihres Buches "Modest_Witness@Second _Millennium.FemaleMan _Meets_OncoMouse".).

Sally Jane Norman bei InArt97

Sally Jane Norman leitete aus ihren Erfahrungen theoretische Überlegungen zu Verbindungen zwischen Theater als Spezialfall einer virtuellen Welt und Cyberspace ab. Sie benutzte Performances als Modellfall für die Anpassung von Maschinensystemen an Körperabläufe und sprach von einer "bodily intelligence", einer Körperintelligenz, die für die Wissenschaft von Interesse sein kann.

Performative Kunst findet ihrer Meinung nach seit jeher in technologischen Umgebungen, in VR Räumen, statt. Schon im Drama der Antike wurden mediatisierte Idealräume geschaffen. Das griechische Wort für Maske lautet Sona, Durchtönen. Die Maske wurde als Lautsprecher, der die menschliche Stimme artifiziell verstärkt, also als Medium benutzt. Die Maske ist überhaupt ein wichtiges Bild in der Frage des Interface und symbolischer Netzkommunikation, wie auch das Smiley :-) als Reduktion der menschlichen Mimik in einer Maske gesehen werden kann.

Spaceperformance

S.J.Norman ging auf die Wechselwirkungen zwischen Technologie und Kunst ein. Bewegungsabläufe aus Tanzperformances konnte Sallys Kollegin Kitsu Dubais dem Europäischen Raumfahrtprogramm zur Bewältigung von Bewegungsabläufen im schwerelosen Raum zur Verfügung stellen. Diese Forschungsergebnisse entstanden aus Performances unter dem Einsatz von Motion Capture Technologien und, was noch wichtiger ist, aufgrund eines kreativen Zugangs zur Definition von Räumen durch Bewegung.

Sally Jane kritisierte hier zurecht, das der Austausch zwischen Wissenschaft und kreativer Produktion im Dataspace nur selten besteht. Vielleicht kann sie mit ihrem Engagement und ihrer neuen Tätigkeit für das ZKM, Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe etwas zur Verbesserung dieser Beziehung beitragen.

Die Spanierin Esther Mera lebt und arbeitet seit zehn Jahren in Los Angeles, wo sie das "Hybrid and Mutants Lab" am California Institute of the Arts leitet. Sie legte das Verhältnis von Fotografie und digitaler Chirurgie anhand von menschlichen Gesichtern dar. Nachdem sie in LA in der Bildbearbeitungsindustrie arbeitet, stehen ihr Bilder von zu verändernden Gesichtern zur Verfügung. Sie brachte Arbeitsproben mit, die sie für ihre künstlerischen Demonstrationen verwendet, was übrigens nicht verboten ist. Es geht aber nicht darum, ob wir glauben, diese Medienbilder seien wahr. Die Frage ist, zu welchem Zweck und wie selbstverständlich diese Bilder verändert werden und wie die "digitale Chirurgie" neue Körperbilder forciert. Dabei ist dies keine Frage des Alters oder Geschlechts. Frauen, Männer und Kinder müssen in der mediatisierten Gesellschaft verändert werden, was für Mera "becomin Cyborg", zum digitalen Cyborg werden, bedeutet. Die energetische Künstlerin Mera setzt Realitäten in aggresiven Videotapes um.

Sandy Stone virtuell masturbierend

Der elektronische Raum kann auch als ein Ort der Maskierung, der Camouflage und des Experiments mit gesellschaftlichen Rollenbildern benutzt werden. Nach Ansicht von Sandy Stone ist der Datenraum eine Umgebung des Geschlechterwechsels, der Identität generell in Frage stellt. Hier beginnt zu fliessen, was in der Gesellschaft. als normal oder krankhaft angesehen wird. Sie brachte dies auch in einer ihrer Vortragsperformances zum Ausdruck, bei der sie ihre Klitoris mental auf ihren Handballen transferiert, um nun mit Hilfe des applaudierenden Publikums zu masturbieren.

Sie berichtete von ihrer Erfahrung als Neurowissenschaftler in Bezug auf die Unterscheidung zwischen einem Neurokörper und einem Topokörper. Das geistige Bild des Körpers ist untrennbar mit der Individualität und Persönlichkeit verbunden. Die Frage, was nun gesellschaftlich als normal definiert wird, ist dieselbe wie die, was real ist oder nicht und laut Stone, eigentlich nicht von Bedeutung. Es geht vielmehr darum, was gut für uns ist. Stone sprach von Personauten, die von einer technologischen Umgebung abhängig sind, die aber immer nur auf einen einzelnen Körper und seine Bedürfnisse angepasst werden kann.

Technologie ist in diesem Fall eine Erweiterung des Selbst. Massive körperliche Veränderungen und die Schwierigkeiten, sie an ein soziales Umfeld anpassen zu können, sind Transgender-Erfahrungen, die im Cyberspace für jeden gelten.

Angesichts von Datenkörpern und Persönlichkeitsprofilen, die in Finanz- und Sozial-, Intra- und Internet`s festgehalten sind, ist es eigentlich verwunderlich, dass Fragestellungen nach Virtual Identity noch immer so stark an die gebunden sind, was es bedeutet Mensch zu sein. In der Abschlussdiskussion zum In Art97 Festival schloss man, dass es nicht nur um den digitalisierten, veränderten und elektronisch beeinflussten menschlichen Körper und Identitäten gehen kann, sondern auch um die Frage, wie sich der neue posthumane Mensch das "Transhumane Wesen", wie es Andreas Broeckmann nannte, in Zukunft konstituieren könne.

Links:

Die Location St. Cruz Teneriffa

Orlan, Dokumentationen von Operationsperformances

Sally Jane Normans Texte im Web:
www.ntticc.or.jp/pub/ic_mag/ic015/louvre/louvre_e.html
uchcom.botik.ru/~norman/imagina.html

Sandy Stones Homepage