In Schweden ist ein Regierungswechsel wahrscheinlich
Mit einer Koalition mit Grünen und Linken könnten die Sozialdemokraten wieder regieren, ein grundlegender Politikwechsel ist aber nicht zu erwarten
Schweden - das Land, wo politisch einiges anders ist. Wo die Politiker bei den Fernsehdebatten einander ausreden lassen, die Redezeit nicht überziehen und höflich miteinander umgehen. Wo es den Gipfel der Polemik darstellt, gar Nachrichtenwert hat, wenn der Ministerpräsident dem Herausforderer Vorschläge à la "DDR" vorwirft und der Herausforderer dem Ministerpräsidenten "oförskämt" (unverschämt) erwidert. Doch die Beschaulichkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass im Inneren dieser entwickelt-vorkämpferischen, seit geraumer Zeit "neoliberal" gewendeten Gesellschaft Konflikte schwelen. Am 14. September wird ein neuer Reichstag gewählt. Die Umfragewerte schwanken beträchtlich. Ein Regierungswechsel schien geraume Zeit sehr wahrscheinlich, jetzt durchaus noch möglich. Würde er auch einen Politikwechsel bringen?
Vor kurzem konnte Schweden einen Gedenktag begehen, der seinesgleichen sucht und für eine grundlegende Prägung der Gesellschaft steht, andernorts aber völlig unbeachtet blieb. Rufen wir uns kurz ins Gedächtnis, was der ungarische Konflikt- und Friedensforscher Istvan Kende kundtat, nämlich dass es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ganze 26 Tage gegeben hat, an denen nirgendwo auf der Erde ein Krieg tobte. Es steigert die Trübsal dieser Beobachtung noch, dass all diese Tage im September 1945 zu finden sind - als mit der Kapitulation Japans der große, dutzende Länder erfasst habende Krieg geendet war.
Wer um diesen Hintergrund weiß, kann ermessen, was der schwedische Jahrestag bedeutet. Am 15. August 1814 war die Konvention von Moss im gleichnamigen norwegischen Ort unterzeichnet worden. Norwegen hatte zuvor seine Unabhängigkeit von Schweden erklärt, worauf die hergebrachte Großmacht einen kurzen Krieg losbrach, der erfolglos blieb. Seitdem hat Schweden keinen Krieg geführt und wurde auch nicht angegriffen - seine ununterbrochene Friedenszeit von 200 Jahren ist weltweit einzigartig.
Sie hat Schweden und die Schweden in vielerlei Hinsicht geprägt. Über zwei Jahrhunderte konnte sich die Gesellschaft ohne fundamentale Erschütterungen oder gar Umwälzungen entwickeln. Sie bildete ihre höchst eigene Dynamik aus und lebt deshalb in einem spezifischen Spannungsfeld: Einerseits wirken enorm starke Kontinuitäten gerade in den Grundstrukturen, so dass Schweden in mancherlei Hinsicht äußerst konservative Züge trägt. Abzulesen ist dies an fast dörflich anmutenden Eigenheiten des Gemeinwesens, an der Bedeutung von unterschwelligen Konventionen, an einem gerüttelt Maß des Aufschauens zu Autoritäten (wobei die Distanz zu diesen aber stets gering ist) oder an der anhaltenden Macht klassischer Wirtschaftsdynastien wie der Wallenbergs oder Bonniers, Johnssons oder Söderbergs.
Andererseits besteht für diese kleinere Gesellschaft am Rande Europas die fortwährende Notwendigkeit vor allem ökonomischer Selbstbehauptung, sei es durch historisch extrem frühe Exportorientierung oder in moderner Zeit durch unablässige Erneuerung. Es ist nur folgerichtig, dass Schwedens Wirtschaft in den Innovationsranglisten der EU seit Jahren obenan steht. Sich höchst pragmatisch stets neu zu erfinden, sich in die globalen Prozesse einzubinden, ist überlebenswichtig und ein Grundzug.
Widersprüche in Schwedens Gesellschaft
Ein typisches Beispiel: So tief die gerühmte Friedenserfahrung Schwedens Selbstverständnis prägt, so wenig hat sie Teile der Wirtschaft davon abgehalten, zu einem der weltweit führenden Waffenexporteure aufzusteigen. Im Jahr 2011 stand die "Friedensmacht" weltweit sogar an der Spitze, wenn man das Volumen der Waffenexporte pro Kopf der Bevölkerung nimmt. Schwedens Wert betrug das Fünffache des deutschen … Bis 2013 ist Schweden in dieser Rangliste auf den dritten Platz "abgerutscht" - hinter Israel und Russland. Auch Waffengeschäfte mit Diktaturen werden nicht gescheut.
Ein Schlaglicht auf das widersprüchliche Innenleben einer Gesellschaft, die von außen in zumeist positiven Klischees wahrgenommen wird - Klischees, die Schweden seinerseits eifrig stützt und nährt. Auf ihrer Website bekundet die Regierung: "Sweden is to be a good country in which to live - a country with full employment, a good environment and shared welfare with high-quality schools and health and social care. Sweden is to be characterised by cohesion, stability and opportunities for each individual to shape their own day-to-day life." Auch im eigenen Selbstverständnis pflegt Schweden Klischees, in denen Gewünschtes Tatsächliches viel zu oft überlagert.
Dies gilt beispielsweise die stets hochgehaltene und unablässig beschworene Neutralität. Dass sie eine Schimäre ist, offenbarte der NSA-Skandal. Plötzlich erfuhr die Öffentlichkeit, dass Schweden bereits 1954 ein hochgeheimes Abkommen mit den USA geschlossen hatte. Ungeachtet, welche Partei/en regierte/n, über sechs Jahrzehnte wurde gemeinsam gespäht - vorzugsweise gegen Sowjetunion und Russland (Sind "Five Eyes" in Wirklichkeit "Six Eyes"?). Und mit der NATO arbeitet Schweden keineswegs erst seit der Krise um die Ukraine zusammen. Am 28. August 2014 wurde indes ein bedeutsamer, gemeinsam mit Finnland unternommener Schritt eingeleitet: Schweden wird bei der NATO den Status "Host Nation Support" beantragen; solches "Gastlandabkommen" sieht die Unterstützung für NATO-Truppen als auch die Unterstützung durch NATO-Truppen im Krisenfall vor.
Schweden hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich abgerüstet und 2010 die Wehrpflicht abgeschafft. Die Luftverteidigung etwa schrumpfte von 400 auf 150 Flugzeuge. Symbolisch für die Entspannung war, dass die russische Luftwaffe 1992 ihre Flüge dicht an oder gar in den schwedischen Luftraum einstellte. Indes ordnete Wladimir Putin 2011 die Wiederaufnahme der Bomber-Flüge mitsamt Drohgebärden an. Im März 2013 trug sich ein gravierender Vorfall zu, bei dem zwei schwere russische Bomber, begleitet von vier Kampfjets, nächtens die Bombardierung von Zielen im Stockholmer Raum sowie in Südschweden simulierten - die Luftabwehr bemerkte nichts und blieb tatenlos. Vor diesem Hintergrund wird die Annäherung an die NATO im bisherigen Reichstag großenteils unterstützt. Für die friedensgewohnte Bevölkerung ist Landesverteidigung ein extrem entferntes Thema. Sie zeigt sich eher ratlos: Je ein Drittel ist dafür, dagegen oder unentschieden.
Der Unmut über die Auflösung des Sozialstaats und die wachsende Arbeitslosigkeit wächst
Solche und andere außenpolitische Fragen werden im aktuellen Wahlkampf indes von der Innenpolitik überlagert. Anfang der 1990er Jahre wurde Schweden von schweren Finanzkrisen gebeutelt, da erwies sich gerade Schwedens Zentralpartei Socialdemokraterna, eigentlich "Sveriges socialdemokratiska arbetareparti" (SAP), bei Wahlen "Arbetarepartiet-Socialdemokraterna", empfänglich, über eine Kostenentlastung der öffentlichen Hände den teuren, von ihr modellierten Wohlfahrtsstaat erhalten zu können.
Die damals eingeleitete Politik der Liberalisierung, Marktorientierung und Privatisierung öffentlicher Dienste und Leistungen wurde von den meisten Parteien mitgetragen. (Fußnote: Nicht wenige führende Politiker, darunter auch Sozialdemokraten, machten sogleich und machen weiterhin profitablen Nutzen von den neuen Möglichkeiten.) Seit 2006 stellt die bürgerliche Alliansen aus vier Parteien (Nya Moderaterna, Folkpartiet Liberalerna, Centerpartiet und Kristdemokraterna) die Regierung, zunächst als Mehrheitsregierung, seit 2010 mit 173 von 349 Sitzen als Minderheitsregierung. In ihrer Regierungszeit trieben die bürgerlichen Parteien diese Politik deutlich voran und weiteten sie erheblich aus, ein Kurs, den ihr gemeinsames Wahlmanifest fortschreibt.
Was viele Schweden besorgt: Soziale Verwerfungen nehmen zu, vor allem Unsicherheit, aber auch Ungleichheit und Armut steigen an. Für viele Menschen ein Zurück zu vergangen geglaubten Zeiten. Das schwedische Wort für Gesellschaft lautet "samhälle" - ein Indiz, dass Zusammenhalt obenan steht. Sein Schwinden wird befürchtet.
Des Weiteren ist der schwedische Sozialstaat nunmehr nicht bloß der "schlankeste" in Nordeuropa; unübersehbare Schwächen, Mängel und Missstände in vielen Bereichen haben grundsätzliche Kritik hervorgerufen. Seien es die durch wiederholte Debakel gebeutelten Schulen (Wilder Westen im Norden), sei es die von Skandalen geplagte Altenpflege (Marketisation in der Altenpflege), sei es das oft unzureichende Gesundheitswesen, sei es die dramatisch vernachlässigte Infrastruktur vor allem bei der Eisenbahn, seien es die einer De-facto-Privatisierung entgegen getriebenen Universitäten.
In der Bevölkerung wuchs Unmut. Unlängst bekundete eine Mehrheit, gerne auch (noch) höhere Steuern entrichten zu wollen - wenn denn der Staat das umfassende, zuverlässige und menschenwürdige Funktionieren seiner Dienste wirklich sicherstelle. Als die bürgerliche Vier-Parteien-Koalition die Regierung übernahm, hatte sie versprochen, vor allem die Arbeitslosigkeit durch Steuersenkungen und Kürzungen bei Sozialleistungen zu verringern. Seitdem ist die Einkommensteuer viermal abgesenkt worden. Schweden erlebt relative wirtschaftliche Stabilität, gelangte ohne größere Probleme durch Europas Finanzkrise, sah auch die Erhöhung der Beschäftigtenzahl - gleichwohl sank die Arbeitslosigkeit nicht nur nicht, sondern stieg auf ein Niveau um die acht Prozent.
Dramatisch hoch fällt vor allem die Jugendarbeitslosigkeit aus, seit 2010 bewegt sie sich bei den 15- bis 24jährigen zwischen 22 und 25 Prozent. In einer Art Nothilfe wurde das deutsche Lehrlingssystem kopiert; allein die schwedischen Firmen begreifen dessen Nutzen nicht und stellen kaum Ausbildungsplätze bereit. Auch die jungen Menschen wissen nicht so recht damit umzugehen, etwa 40 Prozent werfen innerhalb des ersten Jahres die Brocken hin.
Vor diesem Hintergrund geschah im Dezember 2013 erstmals, dass der Vorschlag der Regierung, eine weitere, die fünfte Steuersenkung für etwa eine Million besser verdienender Bürger zu verabschieden, im Reichstag abgelehnt wurde. Sozialdemokraten, Grüne und Linke hatten sich klar gegen das Vorhaben ausgesprochen - über eine eigene Mehrheit, es aufzuhalten, verfügten sie jedoch nicht. So erlaubten sie den rechtspopulistischen Sverigedemokraterna, die Rolle als Zünglein an der Waage auszuüben - eine Konstellation, die bis dahin von allen Parteien um jeden Preis gemieden worden war. Dieser politische Tabubruch bescherte den Rechtspopulisten erstmals echten Einfluss. Er könnte sie auf den Geschmack gebracht haben, gerade beim Großthema der Einwanderung und Aufnahme von Flüchtlingen etwas zu bewirken.
Kritik an "Masseneinwanderung"
Schwedens Bevölkerungszahl liegt aktuell bei knapp 9,7 Millionen; 1960 waren es 7,5 Millionen, 1990 dann 8,6 Millionen. Auch wenn die Geburtenrate merklich höher als in Deutschland ist, sorgt vor allem Zuwanderung für das Bevölkerungswachstum. Derzeit haben mehr als 20 Prozent aller schwedischen Bürger ihre Wurzeln, den eigenen Geburtsort oder den ihrer Eltern, außerhalb Schwedens (die Hälfte davon in Europa). Auch wenn Integration mehr Ziel als Realität ist, die Gesellschaft ist eine bunte.
Für das gesamte Jahr 2014 werden etwa 130.000 Einwanderer erwartet, eine oft propagandistisch ausgeschlachtete Größe. Ein Blick auf die genauen Zahlen, wie sie für das erste Halbjahr 2014 vorliegen, ergibt ein durchaus differenziertes Bild: Die Bevölkerung ist um 34.000 Menschen angewachsen - 56.000 Menschen wanderten ein und 22.000 wanderten aus. Unter den Einwanderern sind etwa 12.000 Menschen aus Syrien, zudem knapp 10.000 aus dem Ausland zurückkehrende Schweden, jeweils etwa 2.200 Menschen aus Eritrea, Somalia und Polen, 1.800 aus Afghanistan, 1.400 aus Indien, 1.000 aus dem Irak und 950 aus Finnland. Zusätzlich beantragten im Jahr 2013 etwa 54.000 Menschen Asyl, die höchste Zahl seit der Jugoslawien-Krise 1992. 2014 wurden bis August bereits 50.000 Asylgesuche registriert.
In vielerlei Hinsicht handelt Schweden als Europas gutes Gewissen. Wo andernorts Restriktionen und Abweisungen vorherrschen, zeigt sich Schweden offen. Indes nehmen auch hier bürokratische Behinderungen und Einschränkungen zu, zudem ist der Konsens längst nicht mehr einhellig. Es sind die Schwedendemokraten, 1988 gegründet und 2010 mit 5,7 Prozent der Stimmen erstmals in den Reichstag eingezogen, die offen eine fremdenfeindliche Politik betreiben.
Zwar umschiffte ihr gewandter Parteiführer Jimmie Åkesson alle Schmuddelecken von Rassismus oder Neonazitum, um in seriöse Wählerschichten vorstoßen zu können. Gleichwohl hegt seine Funktionärstruppe mitsamt Teilen seines Wahlvolkes durchaus nationalistisch-rassistische Ressentiments sowie Gewaltbereitschaft. Schwedens traditionell großzügige und humanitär geprägte Politik in Sachen Einwanderung, Asyl und Flüchtlingen wollen die Schwedendemokraten gründlich ändern, auf allen Ebenen wollen sie rigide Begrenzungen und Restriktionen einführen. Einer ihrer Slogans: "Välfärd eller massinvandring?" Dabei spielt ihnen die zentrale Schwäche bisheriger "Ausländer"politik in die Hände.
So offen sich Schweden erweist, so unzureichend ist, was tatsächlich für die Menschen getan wird, wenn sie denn im Lande sind. Dass die so genannten Jugendunruhen wiederholt in den Stockholmer Stadtteilen Rinkeby und Tensta ausbrachen, ist nicht verwunderlich: Dort ist der Anteil von Migranten am höchsten, der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen ebenso, die Perspektiven verbessern sich nicht. In Sachen Bildung und Ausbildung besteht enormer Handlungs- und Nachholbedarf. Wunde Punkte, die gerne übertüncht werden, aber Spannungen auslösen. Immerhin wird die Konstellation nicht genutzt, um Lohndumping zu betreiben - der Niedriglohnsektor ist mit nur drei Prozent der kleinste in der gesamten EU (in Deutschland ist er deutlich größer als 20 Prozent).
Mitte August wandte sich Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt, Chef der mit Abstand stärksten bürgerlichen Partei Nya Moderaterna, in einem eindringlichen Appell an die Öffentlichkeit. Das Land sei eine "humanitäre Großmacht" und müsse dies bleiben. Die Schweden sollten "ihre Herzen öffnen" für diejenigen, die vor Unterdrückung und Ausrottung aus ihren Heimatländern flüchten müssten. Im gleichen Atemzug betonte er die Probleme und Spannungen als auch die enormen Kosten, die mit steigender Einwanderung und Asylgewährung verbunden seien. Spielräume für andere Reformen seien dadurch beschnitten.
Sein Aufruf an das "gute Schweden" war gedacht, den Schwedendemokraten Wähler abspenstig zu machen - doch gerade der Verweis auf die Lasten könnte ihnen eine weitere Steilvorlage geliefert haben. Mutmaßlich werden sie ihren Stimmenanteil nahezu verdoppeln und könnten gar in die Rolle des Königsmachers für die bevorstehende Regierungsbildung gelangen. Wie sie sich in solchem Fall entscheiden würde, darauf hat sich die Parteiführung der Schwedendemokraten bisher nicht festlegen mögen.
Vor allem für die Sozialdemokraten wäre dies eine höchst unangenehme Konstellation. Denn Reinfeldt hat angekündigt, dass seine Regierung, deren Parteiführer im Wahlkampf stets gemeinsam auftraten, geschlossen zurücktreten werde, sollte sie nicht bestätigt werden. Dann läge der Ball bei den Sozialdemokraten. Parteichef Stefan Löfven Vorwärts in die Vergangenheit?, der der kriselnden Partei seit 2012 deutlichen Aufwind verschafft hatte, erleidet in den Umfragen ausgerechnet jetzt Einbußen.
Chancen für eine Rot-grün-rote Koalitionsregierung
So könnte er in der merkwürdigen Situation landen, seine Partei wieder an die Macht zu führen - aber mit dem schlechtesten Wahlresultat seit vielen Jahrzehnten. Als schwache stärkste Partei benötigen die Sozialdemokraten umso mehr stabile Partner. Bislang hat Löfven jegliche verbindliche Koalitionsaussage gescheut, auch wenn er von den Grünen als "gegebenem Partner" spricht und den Linken eine Zusammenarbeit in Aussicht stellt. Sicher ist nur, dass die Bildung einer stabilen Regierung nicht eben einfach wird. Durchaus möglich, dass wir das Aufbrechen des Lager- oder Block-Konzepts, das Aufkommen eines neuen Lagers der Mitte oder völlig neuartige Konstellationen erleben werden.
Derzeit überschlagen sich die Wahlstrategen mit dem Ausloten aller Optionen, zumal auch die Feministisk Initiativ die Vier-Prozent-Hürde für den Einzug in den Riksdag überspringen könnte (Stadien statt Krippenplätze). Würde eine (Minderheits-)Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken, vielleicht auch FI, zumindest einen echten Politikwechsel herbeiführen? In ihrer Kritik an der bisherigen Regierungspolitik sind sich die oppositionellen Parteien nahe. Doch das Schwächeln der Sozialdemokraten liegt auch daran, dass ihr Wahlprogramm reichlich traditionell ausfällt.
Es verspricht viele Milliarden für Schulen, Gesundheitseinrichtungen und Altenpflege; eine Garantie für junge Menschen, innerhalb von 90 Tagen einen Job, einen Praktikumsplatz oder eine Ausbildung zu erhalten; einige Verbesserungen bei Sozialleistungen, die Erhöhung einiger Steuern, geringere Besteuerung von Pensionären sowie Investitionen in die Infrastruktur. Besonders für die halbe Million Erstwähler liest sich manches gut - und bleibt dennoch eine Art Reparaturwerkstatt für die Auswüchse der von der Partei selbst eingeleiteten Liberalisierungs-Politik. "Ett bättre Sverige. För alla." Ein echter Politikwechsel hört sich anders an, es bleibt ein Weder-vor-noch-zurück.
Anders verhält es sich mit der Miljöpartiet de gröna. Die Grünen könnten drittstärkste Partei werden, sie sind selbstbewusst und entschlossen, Schweden in Sachen Umwelt zum globalen Spitzen- und Vorreiter zu wandeln. Mit umfassenden Maßnahmenpaketen, darunter Erhöhung bestehender und Einführung neuer Steuern, soll der Energiesektor erneuert werden, denn seine ausgiebig gerühmte Vorzeigerolle in Sachen CO2-Ausstoß verdankt Schweden zum Teil seinen Atomkraftwerken. Von den zehn aktiven Atomreaktoren, allesamt zwischen 1971 und 1985 gebaut, sollen zwei bereits in den nächsten vier Jahren endgültig abgeschaltet und nicht ersetzt werden. Des Weiteren soll der Staatskonzern Vattenfall gezwungen werden, seine Politik in Schweden, aber auch in Deutschland grundlegend zu ändern. Von allen Wahlprogrammen ist das der Grünen das ambitionierteste - ihr Vor wird indes bei keinem möglichen Partner auf Begeisterung stoßen.
Viele Forderungen der Vänsterpartiet fallen ähnlich, zumindest kompatibel zu denen der Sozialdemokraten aus. Gleichwohl gibt es Reibungspunkte. So wollen die Linken mittelfristig alle Waffenexporte einstellen. Vor allem ihre strikte Ablehnung der Profiterwirtschaftung im Sozialbereich, 2017 soll damit endgültig Schluss sein, könnte zum Hindernis werden oder eine größere Gegenleistung erzwingen. Weil die neue Regierung spätestens Mitte November ihren Budgetentwurf für das Jahr 2015 im Reichstag präsentieren muss, besteht jedoch ein Zwang zu zügiger Einigung. Zustimmung zum Haushalt will die Linke nur aussprechen, wenn sie an einer Regierungsbildung durch die Sozialdemokraten beteiligt wird. Als kleinstem Partner würde den Linken die Rolle des Korrektivs zufallen, für ein Vor müsste sie mehrere Kröten schlucken.
In der Summe ist, sofern eine rot-grün-rote Koalitionsregierung zustande käme, kein grundlegender Politikwechsel zu erwarten. Milderung von Auswüchsen und leichter Veränderungswille, ja - mit der Betonung auf leicht. Es wird von den Kräfteverhältnissen innerhalb einer solchen Regierung sowie im Reichstag abhängen, ob die kleineren Partner wenigstens einige echte Reformen werden durchsetzen können.
Ach ja, um Wirtschaft und Jobs geht es auch. Weil die einflussreichen Gewerkschaften aber die meisten der vorgebrachten Vorschläge bereits entschieden abgelehnt haben, scheinen alle Parteien in eine Art Winkelzug zu verfallen: Stockholm, Boomcity mit derzeit zwei Millionen Einwohnern in der Agglomeration, wächst und wächst und wächst. In zwei oder drei Jahrzehnten sollen hier drei Millionen Menschen leben - doch Wohnraum fehlt an allen Ecken und Enden, Mieten und Kaufpreise schießen in die Höhe. Angesichts dessen versprechen alle Parteien riesige Bauprogramme für Hunderttausende von Wohnungen. Dabei entstehen Arbeitsplätze gleichsam von selbst …