Indien: Von Schlangenbissen, Luftverpestung und Corona-Toten

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Während der Pandemie wurde es für jeden offensichtlich: Zahlenangaben der indischen Regierung sind sehr oft ein trauriger Witz

Eine Studie der Oxford Universität, kanadischen und indischen Forschungs-Institutionen, die im letzten Jahr veröffentlicht wurde, kam zum Ergebnis, dass zwischen 2000 und 2019 mehr als eine Million Menschen in Indien an Schlangenbissen gestorben sind; im Schnitt jedes Jahr 58.000 Tote - fast alle im ländlichen Indien.

Ashwini Kumar Choubey, Ministerin für Gesundheit und Familienfürsorge, gab dagegen im Jahr 2019 in der ersten Kammer des indischen Parlaments, der Lok Sabha, auf eine Anfrage an, dass im Jahr 2018 "nur" 689 Menschen in Indien an Schlangenbissen gestorben sind. Dabei kam schon die "Million Death Study", die im Jahr 2011 veröffentlicht wurde, zum Ergebnis, dass pro Jahr in Indien 45.900 Menschen an Schlangenbissen sterben.

Nun sollen immerhin Untersuchungen des staatlichen Indian Council of Medical Research (ICMR) "Licht" ins "Dunkel" der Schlangenbisse bringen.

Tuberkulose: 5,7-mal mehr Tote als die Regierung angibt

Auch bei den Zahlen zur bakteriellen Infektions-Krankheit Tuberkulose hat die indische Regierung ihre eigene Wirklichkeit: So gab sie für das Jahr 2019 an, dass 79.000 Menschen an Tuberkulose gestorben sind. Dagegen kam die Weltgesundheitsorganisation WHO auf 440.000 Tote in Indien. Zudem gingen beim Tuberkulose-Report der indischen Regierung 300.000 an Tuberkulose Erkrankte verloren.

Indiens Premierminister Modi, bekannt für seine großen Versprechen - wie im Jahr 2014, den Ganges zu reinigen (auch nach vier Jahren war der Ganges an vielen Stellen verschmutzter als vor seinem Versprechen) -, machte im Jahr 2018 die Ankündigung, Tuberkulose in Indien bis 2025 "zu verbannen".

Dass die Zahl der Tuberkulose Erkrankten in Indien im Jahr 2020 laut Regierungszahlen um 25 Prozent sank, hat jedoch nichts mit Modis Ankündigung zu tun, sondern damit, dass sich wegen der Corona-Gesundheits-Katastrophe in Indien, viel weniger Menschen auf Tuberkulose testen ließen. Da Tuberkulose bei Früherkennung leichter zu behandeln ist, erwarten Gesundheitsexperten wegen der unentdeckten Fälle eine weitere "Zeitbombe" für den Subkontinent.

"Niemand stirbt an Luftverschmutzung"

Als sich Indiens Hauptstadt New Dehli im November 2019 wegen der Luftverschmutzung laut Delhis Chief-Minister in eine Abgas-Hölle verwandelt hatte, gab Indiens damaliger Minister für Wissenschaft- und Technologie, Harsh Vardhan, den Hauptstädtern aus seinem Urlaub in Goa per Twitter einen Rat: Esst Karotten, die enthalten Vitamine.

Noch im Januar 2019 sagte Harsh Vardhan im indischen Parlament, dass es keine Daten gebe, die einen direkten Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung und Kranken wie Toten erkennen lassen.

Sogar das staatliche Indian Council of Medical Research (ICMR) kam 2017 in einer Studie zu dem Schluss, dass jeder achte Todesfall in Indien auf die Luftverschmutzung zurückzuführen sein könnte.

Das britische Medizin-Fachmagazin The Lancet kam in einer Studie zum Ergebnis, dass im Jahr 2019 in Indien 1,67 Millionen Menschen an den Folgen von Luftverschmutzung starben. Eine Studie der Harvard Universität schätzte die Zahl derjenigen, die 2018 in Indien an den Folgen der Luftverschmutzung starben, sogar auf 2,5 Millionen Menschen. Das würde bedeuten, dass fast jeder dritte Todesfall in Indien auf verdreckte Luft zurückzuführen wäre.

Dass selbst die mageren Fortschritte in Indien im Kampf gegen Luftverschmutzung kaum auf das Wirken der Zentralregierung zurückzuführen sind, beschrieb im November 2019 die Expertin Anumita Roychowdhury, vom Center for Science and Environment, gegenüber über Telepolis:

Interventionen des Obersten Gerichtshofs haben schließlich zur Ausarbeitung eines umfassenderen sektorübergreifenden Plans und auch eines Notfallaktionsplans geführt. Die Umsetzung erfordert jetzt eine umfassende und strenge Durchsetzung, um die Ziele für saubere Luft zu erreichen.

Anumita Roychowdhury, Luftverschmutzung in Indien: "Esst Karotten"

Nun kletterten selbst im Pandemie-Jahr 2020 die Feinstaubwerte in New Delhi wieder auf 999 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft der Partikelgröße PM10 - mehr zeigen viele Messgeräte nicht an. Das ist so, als würden sie am Tag 45 Zigaretten rauchen.

Nun kann sich jeder vorstellen, wie die Feinstaubwerte aussehen, wenn Indiens Wirtschaft wieder auf Hochtouren läuft: Im Vor-Corona Jahr 2019 stieg der Anteil von Kohle an der Stromproduktion auf über 70 Prozent (979 Millionen Tonnen). Während des Lockdowns im Jahr 2020 sank er auf 60 Prozent. Doch alleine in den ersten 15 Tagen im September stieg er wieder auf 66 Prozent.

Mitte Oktober 2020 auf 72 Prozent. Eine unfreiwillig veröffentliche Studie des regierungsnahen Think-Tank NITI Aayog zeigt auf, dass sich der Kohleverbrauch in Indien bis zum Jahr 2037 verdoppeln wird. Im November 2020 ließ Narendra Modi verlauten, dass Indien anstrebe, seinen CO2-Abdruck um 30 bis 35 Prozent zu verringern…

Wachstumszahlen vom "Steuerberater" bestätigt

Stellen Sie sich vor, der Einzige, der Ihre Steuererklärung prüfen würde, wäre ihr befreundeter Steuerberater: So ähnlich kommt Indien zu seinen positiven Wachstumszahlen. Schon im Sommer 2019 sagte der ehemalige Chef-Wirtschaftsberater (2014-18) der indischen Regierung, Arvind Subramanian, dass Indiens wirtschaftliche Wachstumszahlen der Wirtschaftsjahre 2011/12 bis 2016/17 um 2,5 Prozentpunkte nach oben verschoben wurden und die aktuellen Zahlen noch wackeliger seien.

Im April 2019 zweifelte schon Gita Gopinath vom IWF Indiens Wachstums-Prognosen für 2019/20 und 20/21 an. Im selben Jahr sagte der ehemalige Zentralbankchef Raghuram Rajan gegenüber dem Fernsehsender CNBC TV18:

Ich kenne einen Minister in der Modi-Regierung, der sagte: Wie können wir um sieben Prozent wachsen, ohne dass wir Arbeitsplätze schaffen? Nun gut, eine Möglichkeit wäre, wir wachsen gar nicht um sieben Prozent.

Raghuram Rajan

Der Minister hatte die richtige "Möglichkeit" geahnt - im Wirtschaftsjahr 2019/20 wuchs Indiens Wirtschaft um vier Prozent. 2018/19 waren es 4,2 Prozent.

Fairerweise muss erwähnt werden, dass 2020 "The Indian Survey" in einem Arbeitspapier zu dem Schluss kam, das Indiens Wachstumszahlen in der Vergangenheit weder rauf- noch runtergerechnet wurden - "The Indian Survey" wird vom Finanzministerium der indischen Regierung erstellt.

So bleiben weiter Zweifel an den Wachstumsangaben der indischen Regierung, Zweifel, die auch Ökonomen und Journalistin in Deutschland spätestens seit 2016 laut aussprechen: "Hat die indische Regierung Nebelkerzen gezündet?", fragte die Faz vor fünf Jahren und die Süddeutsche: Ökonomen zweifeln an Indiens Wirtschaftszahlen.

Einen Einblick in das aktuelle Leben auf Indiens Straßen, gibt ein Artikel von The Wire: Straßenhändler in Delhi, die sich trotz Rekordpreisen durch die Inflation auf Palmenöl, Lebensmittel und Gas nicht trauen, die Verkaufs-Preise zu erhöhen, weil ihre Kundschaft zum Teil nur noch die Hälfte verdient, wenn sie überhaupt Arbeit findet. Am Donnerstag kletterte der Benzinpreis in Mumbai auf ein neues Rekordhoch: 107,71 Rupien (1,25 Euro) für einen Liter.

Was nützt es der Masse der Menschen, dass ihr Premierminister weiter daran glaubt, sein Versprechen wahrzumachen und Indien bis 2025 zu einem fünf Billionen US-Dollar starkem Wirtschaftsland zu machen (ein Versprechen, an das außerhalb von Indien kaum noch jemand glaubt, nachdem sie Modi sieben Jahre im Amt erlebt haben)?

Das alte Verhalten von Großgrundbesitzern wird nicht mehr akzeptiert

Am gestrigen Sonntag fuhr im Distrikt Lakhimpur-Kherie im Bundesstaat Uttar Pradesh ein Konvoi von Mitgliedern der Regierungspartei in eine Demonstration von Bauern - drei von ihnen starben an den Folgen, etliche wurde verletzt.

Anschließend wurde noch ein Bauer unter ungeklärten Umständen erschossen und ein Journalist tot aufgefunden. Doch die Zeiten in Indien, in denen so etwas klaglos hingenommen wird, sind vorbei: Die protestierenden Bauern griffen den Konvoi an und töteten vier Anhänger der Regierungspartei.

Zudem haben sich fast alle wichtigen Oppositionspolitiker des Landes auf den Weg nach Lakhimpur-Kheri gemacht - die meisten von ihnen sind jedoch festgenommen worden oder werden an der Grenze zu Uttar Pradesh festgehalten.

Den Aussagen der Mitglieder des Konvois, dass die Schuld alleine bei den protestierenden Bauern liegt, scheint augenblicklich kaum jemand im Land zu glauben.