Indiens Regierung und der Kampf von reich gegen arm

Seite 2: Ausnahmeerscheinungen

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Natürlich gibt es auch unter Angehörigen der besser gestellten Mittelklasse Ausnahmen, die um Indiens Ungleichheit wissen, und ihre Stimme ist Arundhati Roy. Wenn es überhaupt so etwas wie Hoffnung gibt, dass ein radikales Umdenken stattfindet, so könnte man einen Beweis dafür vielleicht darin erkennen, dass Arundhati Roys aktueller Artikel in der Financial Times abgedruckt wurde: Denn in ihrem Artikel fordert die indische Schriftstellerin und politische Aktivistin nichts weniger als ein Ende des neoliberalen Wirtschaftssystems.

Auch unter den indischen Journalisten gibt es noch Ausnahmen, für die ihre Arbeit nicht nur ein Broterwerb ist. Zu den unabhängigen Publikationen existieren noch das Frontline-Magazin, The Wire, The Caravan und mit Abstrichen The Hindu. Doch der überwiegende Teil der Medienleute spielt mit aus Angst um den Job oder macht sich nicht einmal Gedanken über die Verantwortung des eigenen Berufsstandes.

Paradebeispiel dafür ist ein junger Journalist, der mir auf Urlaub im Zug von Kolkata nach Delhi begegnete. Er erzählte freimütig, dass er sechs Tage pro Woche nur vor dem Bildschirm sitze, um täglich fünf bis sechs Artikel für seine News-Agentur zu produzieren. "Bei nur 500 Rupien pro Artikel, die ich bekomme, ist Geldverdienen anders nicht möglich", sagte er gelassen.

Auch die Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) Indiens sind schon auf Linie gebracht. Die meisten von ihnen hängen am Geldtropf der Regierung. Kritik wird in bequemen Büros mit Aircondition für den "Aktenschrank" produziert. Es war das Indian Social Action Forum (INSAF), ein kleiner Dachverband von NGOs, der vor dem Supreme Court erstritt, dass auch soziale Organisationen, die sich an Protesten beteiligen, ausländische Spendengelder erhalten dürfen (Indien: David schlägt Goliath).

Die wohlhabenden Inder schämen sich wegen der Armen und rufen sie zur Ordnung. Foto: Gilbert Kolonko

In 10 Jahren, die der Rechtsstreit mit dem indischen Staat dauerte, gab es nicht eine Organisation, die sich der Klage von INSAF anschloss. Nicht einmal Greenpeace-India oder Amnesty International, die ganz andere finanzielle Möglichkeiten haben. Trotzdem wird weiterhin gerne die Geschichte von den NGOs erzählt, die im Auftrag fremder Mächte Indien Schaden wollen, dabei ist Modis Bharatiya Janata Party (BJP) der größte Empfänger ausländischer Spendengelder.

Genauso übernehmen die Medien in anderen Bereichen Modis Worte, ohne sie zu hinterfragen. So auch im letzten Jahr, als der Premier seine Toilettenreform "Latrinen für alle" proklamierte. Nicht nur der morgendliche Blick aus einem Zug auf Hunderte Menschen, die weiterhin im Freien - wo auch sonst? - ihre Notdurft verrichten, straft Modi Lügen, sondern auch die Daten seiner eigenen Regierung.

Dass soll nicht heißen, dass Indien mit einer anderen Regierung keine Probleme durch Corona haben würde. Doch zusätzliches Chaos wäre mit einem vernünftigen Plan vermeidbar gewesen. Die Verantwortlichen des Nachbarlands Bangladeschs hatten ihrer Bevölkerung ein paar Tage Zeit gegeben, bevor sie die Menschen in eine zehntägige Ausgangssperre schickten, die sie "Urlaub" nannten.

Wenn die indische Regierung einige Tage lang klargestellt hätte, dass Wanderarbeiter an ihren gestrandeten Orten keine Miete zahlen müssen und Nahrung und Geld bekommen, hätte viel Chaos vermieden werden können.

Kolkata - Das sind keine Demonstranten, sondern ein Teil des mobilen Schlägertrupps von Mamata Banerjee. Foto: Gilbert Kolonko

Aber selbst wenn dies so durchgeführt worden wäre, würde Indien ein Beispiel dafür bleiben, wie wenig eine 30-jährige neoliberale Wachstums-Politik gebracht hat, die mehr auf die Zahlen schaut als die sozialen Realitäten. Zwar sind Indiens private Krankenhäuser auf dem neusten Stand, so dass auch viele Westler sich die Zähne mittlerweile in Indien machen lassen.

Aber das staatliche Gesundheitssystem, auf das der größte Teil der Bevölkerung angewiesen ist, ist zum Teil im "Mittelalter" stehen geblieben. So gibt es im Bundesstaat Bihar 0,11 Krankenhausbetten auf 1000 Einwohner. Im ländlichen Indien kommt ein Arzt auf 10.000 Einwohner.

"India; India superpower!"

Der Oberklasse ist das egal: "India; India superpower!" schreien, ist den meisten wichtiger. Dabei zeigt gerade eine Krise, welchen Entwicklungsstand ein Land wirklich erreicht hat.

Die nächsten Monate werden zeigen, dass 800 Millionen Menschen, die in dem einen oder anderen Sinne arm sind, nicht ignoriert werden können. Der Corona-Virus hat sich schon verbreitet, wie die täglich steil ansteigenden Werte zeigen, und er wird sich auch nach der Ausgangssperre weiter verbreiten. Im Ausland warten Millionen arbeitslos gewordene indische Arbeitsimmigranten darauf, zurück nach Hause zu können. Sie werden auf einen zerstörten Arbeitsmarkt treffen.

Auch viele, die glaubten, ein Teil der neuen Supermacht Indiens zu sein, werden sich wundern, wenn die Realität an ihre Tür klopft und sagt: Huhu, ich sehe wohl anders aus, als du geglaubt hast!