Individuelle Note verpasst

Was uns die wachsende Subkultur der Auto-Tuner über unsere Gesellschaft verrät

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In der englischen Sprache ist etwas out-of-tune, wenn es hinsichtlich bestimmter Eigenschaften mehr oder weniger stark von dem abweicht, was man sich davon idealerweise erwarten würde. Unter Tuning kann man folglich jede Aktivität in Bezug auf prinzipiell beeinflussbare Größen verstehen, die darauf abzielt, das Ist dem erhofften Soll des Einklangs bzw. der Wohlgeformtheit ein Stückchen näher zu bringen.

Eine besonders interessante Spezies von 'Tunern' versammelt sich unter spätmodernen Bedingungen auf großen Tuning-Messen wie der seit 2003 alljährlich stattfindenden TuningWorld Bodensee: die Subkultur der Auto-Tuner. Was, so stellt sich dem Kulturwissenschaftler unweigerlich die Frage, bringt Leute dazu, einen Großteil ihrer spärlichen Freizeit damit zu verbringen, ihre seriengefertigten Autos mit teuren optischen und mechanischen Tuning-Accessoires auszustatten? Worin liegt der Reiz, aus Mittelklasse-Autos so ziemlich alles Funktionale auszubauen, nur um sie dann mittels neuer Spezial-Federung und hochenergetischen Batteriezellen für kurze Tanz-Turniere fit machen zu können? Wieso finden auf solchen Technikmessen Miss-Wahlen statt?

Tuning-Messen - zwischen Kommerz und Hobby

In den Messehallen in Friedrichshafen am Bodensee fand vom 28.4. - 1.5.2006 im vierten Jahr in Folge die „TuningWorld Bodensee“ statt. Auf dem diesjährigen „Internationalen Messe-Event für Auto-Tuning, Life-Style und Club-Szene“ konnte laut Veranstalter mit 111.000 Besuchern die bislang noch im fünfstelligen Bereich liegende Grenze erstmals gesprengt werden. Auf über 60.000 qm Ausstellungsfläche zeigten 235 Direktaussteller hochwertigstes Tuning und das dazugehörende Lifestyle-gerechte Accessoir. Daneben gab es aber auch die Möglichkeit, 250 „Private Cars“ und über 170 Stände der Clubszene der Auto-Tuner zu bewundern.

Foto: Messe Friedrichshafen

Die TuningWorld ist zwar eine große Messe, aber in Europa keinesfalls die einzige, auf der man getunte Autos bewundern kann. Alljährlich finden eine ganze Reihe weiterer (über-)regionaler und (inter-)nationaler Szene-Treffen statt - interessanterweise vor allem in den Sommermonaten: Im Winter wird geschraubt, im Sommer präsentiert.

Messen sind interessante soziale Veranstaltungen. Als Ökonom würde man erwarten, dass derartige Geschäftsmodelle der Messebetreiber und -veranstalter nur dann erfolgreich sind, wenn sich eine Teilnahme sowohl auf Aussteller- als auch auf Besucherseite in monetärer Hinsicht am besten kurzfristig vor Ort auszahlt. Man findet sicherlich auf den meisten Messen auch kommerzielle Anbieter, die das außergewöhnliche Messe-Setting dazu nutzen, den Jahresumsatz ihrer auch anderweitig beziehbaren Produkte mit Hinweis auf besonders attraktive „Messepreise“ signifikant zu erhöhen.

Auf der diesjährigen TuningWorld versammelten sich diese kommerziellen Aussteller vor allem im Block B wie „Business“. Laute Beschallung aus demonstrativen Bassboxen, unzählige grell aufgemachte Flyer an den Messeständen und ein sexuell aufgeladenes, sprachliches wie körperliches Direktmarketing dröhnen dem Besucher entgegen. Neben Autoradios, zur Schau gestellten blechernen Bassboxen, der „richtigen“ Kleidung für die Auto-Tuning-Szene, Felgen, Reifen, bestimmten Messing-verchromten Stangen für Fugen im Auto, die dem KfZ-Laien gänzlich unbekannt sind, findet man an diesen Ständen auch den typischen Messevertreter in Anzug und Krawatte.

Foto: Hanna Steinmetz

Die Attraktivität eines Messebesuchs erschöpft sich jedoch selten allein im Aufspüren und Realisieren von unmittelbaren Geschäftschancen. Häufig sind es das allgemeinere soziale Bedürfnis der öffentlichen Selbstdarstellung und die damit verbundenen Erwartungen einer positiven Sanktionierung (auch, aber nicht ausschließlich, monetärer Art), die Aussteller wie Publikum dazu motivieren, sich in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen in beengten, geräuschvollen und stickigen Messehallen mit einander bekannt zu machen. Besonders interessant sind vor diesem Hintergrund die Aktivitäten von sozialen Bewegungen und (Online-)Clubs, in denen sich in regelmäßigen Abständen Menschen kommunikativ begegnen, die sich hobbymäßig mit der technischen Umgestaltung und symbolisch-sozialen Umwertung von technischen Artefakten beschäftigen.

Vergemeinschaftung in Tuning-Clubs

Im Bereich A – wie „artgerechte Autos“ - der Tuning World dürfen die aus privaten Leidenschaften heraus organisierten Clubs ausstellen. Sie tragen Namen wie „Peugeot Freunde freche Franzosen“, „Honda Racing Team Biberach“ oder „Streetridez“. Die meisten von ihnen stammen aus Süddeutschland oder der Schweiz. Tuning-Clubs bestehen in der Regel aus ca. 10 bis 20 Mitgliedern. Die örtliche Nähe ihrer Werkstatt zum „Rumschrauben“ und die gemeinsame Tuning-Leidenschaft schweißt sie zusammen. Die „materialisierte Individualität“ steht dabei im Mittelpunkt der Vergemeinschaftung. Alle fahren dieselbe Marke und jeder hat doch ein eigenes Auto, das nur noch der Form nach der ursprünglichen Serienfertigung zuzuordnen ist.

Neben der Club-Homepage gibt es regionale Stammtreffs, ein Club-Heim oder bestimmte ortsansässige Kneipen, von wo aus überregionale Treffen mit Tunern derselben Automarke organisiert werden. Im Vorfeld der Sommersaison wird in ausgewiesenen Foren auf den eigenen Club und das über den Winter weiter entwickelte Tuning am Auto aufmerksam gemacht. Auf Messen wie der Tuning World stellen sie dann ihre neuesten Tuning-Erfolge zur Schau. Jedem Club stehen dafür etwa 15 qm Ausstellungsfläche zur Verfügung, so dass meist 5-6 besonders bewundernswerte Autos kreisförmig angeordnet werden. Die Club-Mitglieder sitzen oftmals mit Campingausrüstung, Bier und Plakaten in der Kreismitte und beobachten, wie die Messebesucher auf ihre Autos reagieren. Von Zeit zu Zeit heult ein Motor auf: Jemand stellt den potenten Wohlklang seines Automotors öffentlich dar.

Foto: Hanna Steinmetz

Fahrzeug-Tuning: Ganz ohne Grenzen?

Im Gegensatz zu den kommerziellen Anbietern von fertig vorgetunten Autos, die die Produktions- und Transaktionskosten ihrer motorisierten Maßanfertigungen zuzüglich eines Gewinns auf den Kunden abwälzen müssen, können Hobby-Tuner nicht nur die aktuellen Grenzen des technisch Möglichen, sondern auch diejenigen des ökonomisch Sinnvollen sprengen. Viele Auto-Tuner investieren im Laufe der Jahre einen z. T. beträchtlichen Anteil ihres verfügbaren Nettoeinkommens, das sie oft aus anderen Tätigkeitsfeldern beziehen, auch dann noch in den privaten Erwerb und Ausbau von Fahrzeug-Tuning-Artefakten, wenn die Wahrscheinlichkeit eines kostendeckenden Verkaufs des individuell hochgetunten Autos als Sammlerstück in absehbarer Zukunft als sehr gering eingeschätzt werden muss. Eine erste ökonomische Grenze des technisch Realisierbaren wird frühestens dann anerkannt, wenn man sein persönliches Meisterwerk möglichst umfassend gegen Diebstahl, Unfall etc. versichern möchte, jedoch die dafür zu entrichtenden Versicherungsprämien auf einen monatlich bzw. jährlich nicht mehr bezahlbaren Betrag ansteigen.

Sofern der Hobby-Tuner kein Geld für den Kauf und Betrieb eines weiteren Alltagsautos hat bzw. sein hochgetuntes Auto nicht nur in der privaten Garage, sondern hin und wieder auch auf öffentlichen Straßen vorzeigen will, wird er in der Ausweitung seiner technischen Tuning-Aktivitäten außerdem rechtlich eingeschränkt. Da offenbar nicht in allen amtlichen Fahrzeugzulassungsstellen gleich strikt über die Zulassung/Nichtzulassung von getunten Fahrzeugen entschieden wird, tauscht man sich in der Szene gern über positive und negative Erfahrungen mit der Zulassung von „grenzwertig getunten“ Autos in verschiedenen regionalen Zulassungsstellen aus.

Ähnlich wie im Bereich des menschlichen Körper-Tunings gibt es auch im Bereich des hobbymäßig betriebenen Auto-Tunings immer weniger, was szeneübergreifend grundsätzlich Tabu ist. Das schließt jedoch nicht aus, dass es in bestimmten Clubs bzw. Milieus symbolisch-sozial kommunizierte Grenzen des technisch bzw. ästhetisch Akzeptablen gibt und sich die Ingroup des einen Tuning-Clubs entlang derartiger „Tabus“ kommunikativ von Outgroup-Clubs in der (über-)regionalen Umwelt abgrenzt.

Die ästhetische Akzeptabilität der Tuning-Community unterliegt sehr scharfen, ungeschriebenen Distinktionen. Die implizite Vorstellung von gutem Tuning wird für den Laien vermeintlich explizit, wenn man es offenkundig als solches wahrnehmen kann. Die dahinter stehende technische und ästhetische Präzisionsarbeit kann jedoch eigentlich nur von anderen Tunern verstanden und angemessen gewürdigt werden. Damit schließt sich ein bloß aggressives Oberflächendesign in sachlicher Hinsicht aus – es sei denn zu expliziten Provokationszwecken: Mit Hilfe einer offensichtlich dargestellten Geschmacklosigkeit kann man das Vorhandensein von subkulturell differenziertem Geschmack testen.

Von tanzenden Autos und Miss-Wahlen

In der Performance Area, ein weiterer Bereich der Tuning World Bodensee, werden Live-Shows zu bestimmten Themengebieten veranstaltet. Besonders lehrreich: die Low-Rider-Show und die Hot-Fashion-Show.

Die sportliche Praxis des Low-Ridings ist in der amerikanischen Tuning-Szene erfunden worden. Sie ist zudem eng an die Popkultur des Hip-Hops und deren prominente Vertreter geknüpft. Das Tuning der Hydraulik im Auto ermöglicht es, die Stoßdämpfer entsprechend der eigenen Kontrollwünsche in Bewegung und damit das Auto in eine Art sprungartigen Tanz zu versetzen. Je höher und eleganter, desto gelungener die Tuning-Leistung. Angetreten wird in den drei Kategorien Dancer, Fat-Dancer und Radical. Die Autos werden unter tosendem Applaus in die Arena gefahren. Der Moderator stellt den Tuner unter seinem Nick-Name (z.B. Mr. Voice) vor und versorgt das vorab bereits angeheizte Publikum in Manier eines Marktschreiers mit Informationen zu den technischen Bedingungen, unter denen die Autos zum Tanz antreten.

Ein eher vorhersehbares Highlight der Show besteht darin, eine Frau mit weißem Top und einem vollen Wasserglas in der Hand ausgestattet in das Auto zu setzen und diese dabei zu beobachten, wie sie ihr Shirt durch die zuckenden Bewegungen des Fahrzeugs zu einem Wet-Shirt macht. „Bounce Baby!“ lautet der Schlachtruf, den der Moderator in die Menge brüllt. Die Hydrauliksysteme werden angeworfen, die Hip-Hop-Beschallung lauter gedreht. Dann setzt sich das Low-Rider-Auto in Bewegung. Die zuschauende Menge feuert die Autos an und hält den ungewöhnlichen Moment mittels Handy-Kameras fest.

Zu wohlgeformten und aufgemotzten Autos gehören offenbar auch wohlgeformte und aufgemotzte Frauen. Auf der TuningWorld gibt es jedenfalls jährliche Misswahlen. Wer gewählt wird, „verkörpert“ ein Jahr lang als „key visual“ die Messe in all ihren Werbeaktivitäten. Das unterscheidet die Miss Tuning noch nicht von einer Miss Weinkönigin. In der Szene der Autotuner ist die Körperlichkeit der Frau jedoch ganz besonders eng mit der Körperlichkeit der Autos verknüpft.

Foto: Messe Friedrichshafen

Auf einer Messe geht es nämlich primär um eine Zur-Schau-Stellung der Artefakte, die durch perfektionistische Präzision produziert, in diesem Fall getunt, wurden. Die Inszenierung hat demnach den Anspruch, das Auto temporär so zu musealisieren, dass neben den technischen Details eine bestimmte auratische Atmosphäre zu dem Körper Fahrzeug, welcher meist ein alltäglicher Gegenstand ist, erzeugt wird. Man möchte schließlich die Wohlgeformtheit auch in einem angemessenen Kontext präsentieren. Die weibliche Körperlichkeit ergänzt die Ausstellungsatmosphäre. Ähnlich den technischen Artefakten signalisiert eine Miss meist eine perfektionistische Beherrschung des Körpers – beispielsweise beim Posing auf der Kühlerhaube oder der Präsentation von Body-Painting. Die technische Präzision, die der Kenner im ausgestellten Artefakt Auto sieht, lässt sich demnach auf die makellose, Muskel gespannte Pose des Körpers der Frau übertragen. In beiden Körpern lässt sich dieser Annahme zu Folge ein Merkmal des Tunings wieder finden: Die bloße Form des Körpers dient als Grundlage für eine Modifikation im Sinne der angestrebten Wohlgeformtheit.

Hobby-Tuning als Möglichkeit der Vergemeinschaftung durch Individualisierung

Automobil- und Motorrad-Messen haben in Mitteleuropa eine lange Tradition. In Deutschland fand bereits 1897 die erste Internationale Automobilausstellung (IAA) statt. Die anhaltende „Faszination Auto“ erklärt sich aber nicht allein aus der Anschauung der „objektiven“ Funktion der technischen Ermöglichung einer extremen Ausweitung der physikalisch-räumlichen Mobilität biologischer Körper und physikalischer Gegenstände. Vielmehr spielen auf solchen Messen auch ökonomische, soziale und ästhetische Aspekte eine wichtige Rolle.

In der Reihenfolge derjenigen materiellen Artefakte, mit denen wir im Alltag unsere Individualität und unseren persönlichen Geschmack ausdrücken können, steht das (motorisierte) Fortbewegungsmittel nach dem eigenen Körper, der Kleidung und – seit Neuestem - den mobilen Kommunikations- und Beschallungsgeräten Handy, MP3-Player oder Laptop für viele Menschen als öffentliches Selbstdarstellungsmittel mit an oberster Stelle. Wie in anderen Branchen mit Hair-Styling, Tattooing, Piercing, schönheitschirurgischen Eingriffen, fabrikneu ausgefranzten Hosen, auffälligen Handy-Klingeltönen und Hardware-Designs, so ist man auch in der Automobilwirtschaft durchaus schon seit längerem darum bemüht, sich durch Umstellung auf postfordistische Produktionsverfahren des Mass Customization so gut wie möglich auf die sich immer stärker individualisierenden Konsumentenwünsche – die die Märkte selbst mitproduzieren - einzustellen.

Wie die jüngste Zunahme der Online-, Vereins- und Messe-Aktivitäten von Hobby-Auto-Tunern zeigt, werden sich wahrhafte Auto-Fans vermutlich auch in Zukunft nicht davon abhalten lassen, ihre Fahrzeuge auch jenseits des ökonomisch Sinnvollen weiter zu individualisieren – und sich dabei zugleich mit Ähnlichgesinnten zu vergemeinschaften.