Internet Governance: Rückblick 2015 und Ausblick 2016

Internet Governance war auch im abgelaufenen Jahr ein kontroverses Thema. Das betraf den Mikrokosmos von ICANN genauso wie den Makrokosmos der Vereinten Nationen und anderer internationaler Gremien

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Auf der globalen Bühne wurde Internet Governance insbesondere bei der WSIS 10+ Review Konferenz im Rahmen der UN-Vollversammlung verhandelt. 2005 hatte der UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft die "Tunis-Agenda" verabschiedet, die eine Reihe von Prinzipien für Internet Governance, u.a. das Multistakeholder-Prinzip, formulierte und das "Internet Governance Forum" gründete.

Nun wurden die erreichten Ergebnisse überprüft. Dabei kam es erneut zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwischen "Multilateralisten" und "Multistakeholderisten". Die einen bevorzugen eine Regierungsoberaufsicht über alle Internetfragen. Die anderen unterstützen eine gleichberechtige Einbeziehung aller Stakeholder - Regierungen, Privatsektor, technische und akademische Community und Zivilgesellschaft - in das Management des Internet.

Am Schluss fand man einen vernünftigen Kompromiss, indem beide Begriff gleichberechtigt in dem "WSIS 10+ Outcome Document" erscheinen. Das macht auch Sinn. In einem Multistakeholder-Mechanismus verschwindet das völkerrechtliche Vertragssystem nicht, es ist aber eingebettet in eine Multistakeholder-Umgebung. Regierungen tun gut daran, wenn sie Entscheidungen über das Internet treffen, sich eng mit den nicht-gouvermentalen Stakeholdern abzusprechen.

Die wichtigste Entscheidung der WSIS 10+ Review Konferenz war aber Verlängerung des Mandats des Internet Governance Forums (IGF) für weitere zehn Jahre. Damit hat das IGF - das sich als die globale Diskussionsplattform für alle Internetfragen bewährt hat - Planungssicherheit für das nächste Jahrzehnt. Beim IGF gibt es keine Tabus. Und die Erneuerung des Mandats gestattet nun auch mutiger an einer Erweiterung des Mandats zu arbeiten, insbesondere mit Blick auf das Erreichen konkreter Ergebnisse.

Cybersicherheit

Ein weiteres wichtiges und sehr kontroverses Thema war die Cybersicherheit. Die Zahl von Cyberattacken hat auch 2015 zugenommen. Cyberkriminalität, Cyberterrorismus, ja Cyberkrieg ist zum Vokabular politischer Streitigkeiten geworden.

In der UN beschäftigt sich seit Jahren eine sogenannte "Group of Gouvermental Experts" (GGE) mit diesem Thema. Die GGE wurde vom 1. Ausschuss der UN-Vollversammlung, der sich mit Sicherheit- und Abrüstungsfragen beschäftigt, eingesetzt. Auch dort stehen sich zwei Gruppen gegenüber.

Die Mitglieder des Shanghai Cooperation Organisation (SCO), der u.a. China und Russland angehören, fordern seit Jahren die Ausarbeitung einer Konvention zur Stärkung der Sicherheit im Cyberspace. Die US und die EU lehnen aber ein neues völkerrechtliches Instrument ab, befürchten sie doch, dass ein solcher Vertrag zu Einschränkungen und Zensur führen könnte. Sie laden China, Russland, Brasilien, Indien und andere Länder ein, der Budapester Konvention zur Bekämpfung der Cyberkriminalität von 2001 beizutreten, was diese aber ablehnen, da sie bei der Ausarbeitung dieses Vertrages nicht beteiligt gewesen waren und ihnen einige Klauseln des Budapester Abkommens nicht gefallen.

Immerhin konnte man sich 2015 in der GGE aber auf einige vertrauensbildende Maßnahmen einigen, wie den Austausch von nationale Strategien zur Cybersicherheit, die Zusammenarbeit der CERTS und die Schaffung eines Informationssystems, eine Art "Rotes Telefon", wie es in den 60er Jahren zwischen den USA und der Sowjetunion zur Vermeidung eines Nuklearkrieges eingerichtet wurde.

Ein wichtiges Ereignis 2015 war auch die Berufung eines Berichterstatters für Datenschutz im digitalen Zeitalter durch den UN-Menschenrechtsrat. Die Schaffung dieses Postens geht zurück auf eine deutsch-brasilianische Initiative in der UN-Vollversammlung. Beide Länder hatten nach den Snowden-Affäre - sowohl Brasiliens Präsidentin Roussef als auch Bundeskanzlerin Merkels Telefone waren abgehört worden - diese Initiative gestartet, die nun zu einem ersten sichtbaren Erfolg geführt hat.

ICANN und die IANA Transition

Bei Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) ging es insbesondere um die IANA Transition (Internet Assigned Numbers Authority). Im April 2014 hatte die US-Regierung angekündigt, im September 2015 den IANA-Vertrag auslaufen zu lassen. Noch im Sommer 2014 hatte ICANN die Weichen für eine Übernahme der sogenannten IANA-Funktionen gestellt.

Eine "IANA Stewardship Transition Coordination Group" (ICG) mit drei Unterarbeitsgruppen (für IP-Adressen, Internet-Protokolle und Domain-Namen) wurde gebildet. Dabei zeigte sich, dass die Detailfragen komplexer waren, als sich das viele vorgestellt hatten. Zwar waren die rein technischen Aspekte relativ einfach zu bewältigen und die für IP-Adressen und Internet-Protokolle zuständigen Gremien waren sich auch schnell einig, dass der Erhalt des Status Quo bei einem funktionierenden System keine schlechte Lösung sei. Der finale Vorschlag, der in Dublin im Oktober verabschiedet wurde, sieht relativ geringe Veränderungen vor. Eine "Post Transition IANA" (PTI) wird als eine relativ selbständige "Tochter" von ICANN die IANA-Funktion übernehmen und dabei von einem "Costumer Standing Committee" und einem "IANA Function Review Process" (IFR) beaufsichtigt.

Die mehr politischen Probleme entstanden aber dort, wo es darum ging. die Aufsichtsrolle der US-Regierung durch einen neuen Multistakeholder-Kontrollmechanismus zu ersetzen. Es galt einen Mechanismus zu finden. der garantiert, dass eine unabhängige ICANN sich nicht verselbständigt, Machtmissbrauch ermöglicht oder von einer einzelnen politischen oder wirtschaftlichen Interessengruppe gekapert wird. Das Beispiel FIFA stand dabei immer im Hintergrund.

Insofern war es nicht verwunderlich, dass es in der anderen Arbeitsgruppe - der Cross Constituency Working Group on Accountability (CCWG-ACC) - zu regelrechten Zerreißproben kam. Zwar war man sich im Grunde einig, dass in einer neuen ICANN es zu einer Art von "Gewaltenteilung" zwischen dem ICANN Board und der ICANN Community kommen müsse. Die offene Frage aber war, wie im Detail Entscheidungsmacht neu verteilt wird.

Dabei ging es um Fragen wie Änderung der Bylaws, strategische Planung, Budget oder Abwahl von ICANN-Direktoren. Lange Zeit favorisierte die CCWG-ACC ein sogenanntes "Membership Modell". Demnach sollte ein neues Gremium Entscheidungen des ICANN Boards anfechten und Board-Direktoren abberufen können sowie Zuständigkeiten für das Budget oder Änderungen in den Bylaws erhalten. Kritiker des Membership-Modells sahen in der Schaffung einer zweiten Kammer aber einen Unsicherheitsfaktor, der das Risiko neuer Machtkämpfe oder die Gefahr einer lähmenden Pattsituation in sich trägt und bevorzugten mehr einen kleineren Schritt in Form eines sogenannten "Designatoren Modells".

Nach heftigen Debatten konnte man sich bei der ICANN-Tagung im Oktober 2015 in Dublin einigen. Das "Designatoren-Modell" übernimmt viele Aspekte des Membership-Modells, insbesondere Einspruchsrechte der Community sowie das Recht, ICANN-Direktoren abzusetzen, hat aber den Vorteil, das formell nicht eine neue Institution geschaffen wird.

Was wird 2016 bringen?

Bald wird sich zeigen, ob die Chance, den IANA-Vertrag im September 2016 auslaufen zu lassen, bestehen bleibt. Der momentane Fahrplan sieht vor, dass die CCWG-ACC bis Ende Januar dem ICANN Board ihren Abschlussbericht vorlegt. Der ICANN Board übersendet dann dieses Paket zusammen mit dem ICG-Vorschlag an die US-Regierung.

Der US-Kongress hat bereits signalisiert, dass er ebenfalls noch einmal auf das Gesamtpaket schauen möchte. Der US-Kongress muss zwar in dieser Angelegenheit nicht formell zustimmen. Sollten dort aber Bedenken laut werden, kann das durchaus zu einer Verzögerung führen. Die Prüfung durch Regierung und Parlament könnte vier bis fünf Monate dauern. Bei grünem Licht aus Washington hätte ICANN dann bis zum 30. September 2016 Zeit, die notwendigen technischen Voraussetzungen zu schaffen, um die IANA Funktionen, eingebettet in die neuen Mechanismen, selbständig zu erfüllen.

Der Zeitfaktor spielt hier keine unerhebliche Rolle. Wenn die IANA Transition in den jetzt beginnenden US Wahlkampf hineingezogen wird, kann Unbill drohen. Dann wäre der 30. September 2016 als Termin nicht mehr zu halten. Eine letzte Option wäre eine Verlängerung des Vertrages bis zum 31. Dezember 2016. Dann würde es in den Händen der neuen US Administration liegen ob sie an der IANA Transition festhält oder das ganze Verfahren noch einmal neu aufrollt.

Im Interesse von ICANN und seiner Community wäre ein Schlussstrich unter diese zähe Debatte mehr als wünschenswert. Dann könnte sich ICANN wieder seinen eigentlichen Aufgabe - die Weiterentwicklung des Domainname Marktes und die Gewährleistung von Stabilität und Sicherheit im DNS - zuwenden.

Die beiden wichtigsten Konferenzen auf der globalen Bühne werden 2016 in Mexico stattfinden. Im Juni 2016 findet in Cancun die OECD-Ministerkonferenz statt. Auf dieser Konferenz wird es vor allem um das Thema Cybersicherheit und Digitale Wirtschaft gehen. Im November 2016 wird Mexico Gastgeber das 11. IGFs sein.

Das Thema Cybersicherheit wird sich auch bei den großen Gipfeltreffen in den Vordergrund schieben: Das G7-Treffen findet im Mai in Japan statt, das G20-Treffen im September in China. Die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die sich bei ihrem letzten Gipfeltreffen in Ufa für eine internationalen Konvention zu Cybersicherheit ausgesprochen haben, treffen sich im Sommer in Indien. Und die Staatschefs der Shanghai Cooperation Organisation im Herbst in Taschkent. Und dann wird das Thema auch wieder bei der 71. UN-Vollversammlung hochkommen.

Nicht minder brisant wird das Thema Datenschutz in der globalen Internet Governance Debatte hochkochen. Nach den Urteilen des Europäischen Gerichtshofes muss das Safe Harbour Abkommen neu ausgehandelt werden. Das ist zwar zunächst eine bilaterale EU-US Angelegenheit, aber das hat schon längst eine globale Dimension. Das trifft auch auf die regionalen Freihandelsabkommen TPP, TTIP, CETA und TISA zu. Möglicherweise wird sich auch die Welthandelsorganisation WTO bald mit dem Thema "Digitaler Handel" beschäftigen. Und mit Spannung warten man auf den ersten Bericht des neuen UN-Datenschutzbeauftragen.

Auch UNESCO, WIPO und ITU werden sich weiter mit Internet Governance befassen. Gespannt kann man sein, was die neu gegründet Study Group 20 der ITU zum Thema Internet der Dinge zu sagen haben wird.

Und neben diesen mehr oder minder offiziellen, meist zwischenstaatlichen Verhandlungen, haben sich immer mehr Multistakeholder-Plattformen gebildet, von denen ein nicht unerheblicher Einfluss auf die globale Internet Governance Politik ausgeht.

Die NetMundial Initiative (NMI) die sich aus der NetMundial Konferenz 2014 in Sao Paulo herausgebildet hat, hat ihr nächstes Treffen Ende Februar 2016 in Madrid. Die NMI sieht sich selbst als eine Plattform für Projekte die zur Umsetzung der Sao Paulo Prinzipien und der Sao Paulo Roadmap. 2019 ist nun eine Reviw-Konferenz im Gespräch die checken soll, wie Prinzipien und Roadmap umgesetzt wurden (NetMundial 5+). Dem NMI-Council gehören u.a. die amerikanische Wirtschaftsministerin Penny Pritzker, EU-Vizepräsident Andrup Ansip und der chinesische Internetminister Lu Wei an. Geleitet wird die NMI von fünf Co-Chairs, darunter Eileen Donnehue, Vizepräsidentin von Human Rights Watch und Jack Ma, CEO von Alibaba. Das Mandat das Gründungs-Council läuft im Juni 2016 aus.

Das Weltwirtschaftsforum (WEF), das auch in die NMI involviert ist, hat eine eigenes Projekt, die Future Internet Initiative (FII) gestartet. Beim Davoser Weltwirtschaftsforum Ende Januar 2016 werden fünf Workshops zum Thema Internet Governance veranstaltet, darunter einer zum Thema Fragmentierung des Internet und ein anderer zum Thema Digitaler Handel.

Die Global Internet Governance Commission (GIGC), die unter Leitung des ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten und Außenminister Carl Bildt vor zwei Jahren gegründet wurde, wird im Sommer ihren Bericht vorlegen. Darin wird u.a. ein neuer "Global Compact for Digital Privacy and Security" vorgeschlagen. Das ähnelt dem Vorschlag des Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, zur Ausarbeitung einer Europäischen "Charta für Digitale Grundrechte".

Zum Thema Menschenrechte im Cyberspace wird sich auch die "Freedom Online Coalition" (FOC) bei ihrer Jahrestagung in Costa Rica melden. Die FOC ist ein loses Bündnis von 29 Regierungen, darunter der deutschen Bundesregierung, mit starker Beteiligung der Zivilgesellschaft.

Nach der Cybersicherheitskonferenz im Den Haag (April 2015) wurde unlängst das neue "Global Forum for Cyber Expertise" (GFCE) formell mit Sitz in der holländischen "Stadt des Friedens" gegründet. Bis Februar 2016 läuft eine Ausschreibung für zwei GFCE Co-Chairs, die das Forum zu einem weiteren Player im Internet Governance Eco-System entwickeln sollen. Die nächste Cybersicherheitskonferenz findet 2017 in Mexico statt.

Und die Zahl der Akteure wird sich weiter vergrößern. Ende 2015 hat die chinesische Regierung in Wuzhen ein "World Internet Conference" mit mehr als 2000 Teilnehmern aus über 100 Ländern veranstaltet und dort die "Wuzhen Internet Initiative" (WII) gestartet. Chinas Präsident Xi hatte in Wuzhen verkündet, dass das Prinzip der Cybersouveränität das oberste Prinzip für Internet Governance sein müsste. Er bekam dafür Beifall vom russischen Ministerpräsident Medwedjew, der sich für die Anerkennung des Konzept eines "nationalen Internet Segment" stark machte. Die 3. World Internet Conference" ist für den Hebst 2016 in Wuzhen geplant.

Wolfgang Kleinwächter ist emeritierter Professor für Internet-Politik und -Regulierung an der Universität Aarhus. Er war von 2013 - 2015 ICANN Direktor und ist Sonderbotschafter der NetMundial Initiative.