Internet ohne Grenzen
Internetpionier Vint Cerf träumt vom interplanetaren Netzwerk
Als Vater des Internet ist er bekannt: Vint Cerf, hauptamtlich bei MCI mit der Entwicklung des Backbones des Carriers beschäftigt, verkündet gerne seine Visionen eines alles vernetzenden Internet: "IP on everything" ist sein Lebensmotto, das er in jedem seiner Vorträge verbreitet. Geht es nach Cerf, werden schon bald intelligente Geräte die Haushalte beleben, Glühbirnen und Waschmaschinen werden im ständigen Kontakt untereinander sowie mit der Stromversorgungsgesellschaft stehen, sobald sie mit entsprechenden Internet-Chips ausgestattet sind und der Adressraum des Netzes mit der lange erwarteten Protokollversion Ipv6 erweitert wird (vgl. Telepolis-Interview mit Vint Cerf).
Meine Lieblingsvorhersage ist die Waage im Bad, auf die man täglich steigt. Sie könnte ans Netz angeschlossen werden, und jedesmal, wenn man sein Gewicht prüft, könnten die Daten zum Hausarzt übertragen werden - und dieser würde die Ergebnisse über einen bestimmten Zeitraum beobachten.
Vint Cerf
Sinnvolle Erweiterung dieses Home-Networks wäre für Cerf der vernetzte Kühlschrank, der dieselben Informationen erhielte wie der Arzt: bei einer verordneten Diät würden die Türen zum begehrten Inhalt des technologisch aufgerüsteten Safes einfach verschlossen bleiben.
Aber Cerfs Sicht des Internet endet nicht bei einer permanenten Verbindung zum Netz in jedem Haushalt, sich selbst programmierenden Videorekordern oder bioelektronischen Implantaten. Der bekennende Science-Fiction-Fan überraschte auf der Jahreskonferenz der Internet-Society mit der Ankündigung eines interplanetarischen Netzwerkes, das auf Internetbasis funktionieren soll: "Es ist an der Zeit, über ein außerirdisches Netz nachzudenken", sagte Cerf. Erste konkrete Anwendung werde die im Rahmen des "Discovery-Programms" der NASA geplante weitere Erforschung des Mars sein: Im vergangenen Jahr hatte sich die amerikanische Weltraumbehörde mit dem Pathfinder-Projekt medienwirksam zurückgemeldet und die Weltbevölkerung mit auch über das Internet übertragenen Bildern vom Roten Planeten erstaunt, die von einem Automatik-Rover aufgenommen wurden.
Momentan entscheidet die NASA über die Fortsetzung des Mars-Programms, wobei Vorschläge unter anderem aus dem eigenen Haus vom Jet Propulsion Laboratory kommen. Ein ambitioniertes Projekt, die Mars Airborne Geophysical Explorer Mission (MAGE), will sogar ein ganzes ferngesteuertes Flugzeug auf dem Mars "aussetzen", das Bilder vom "Grand Canyon" des Planeten, einer Schlucht von der Größe des gesamten nordamerikanischen Kontinents, zur Erde schicken soll.
"Web-ähnliche Informationsdienste werden die ersten Einsatzgebiete des interplanetarischen Netzwerks sein", ist sich Cerf sicher. Roboter, die vor Ort Informationen sammelten, könnten diese bequem über das Netz zur Erde übertragen und dort Forschern und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Problematisch gestaltet sich dabei nur die Überbrückung der Distanzen zwischen Mars und Erde. "Das heutige Internetprotokoll reicht dazu nicht aus", erklärt das Vorstandsmitglied der Internet Society. TCP/IP sei ja gerade auf ein ständiges Feedback über den tatsächlichen Datenversand, der in Paketen organisiert wird, angewiesen und reagiere deshalb sehr empfindlich auf Verzögerungen. Da die Lichtgeschwindigkeit auch beim Datenversand zwischen den Planeten nicht zu übertreffen sei, wären die IP-Pakete daher stundenlang unterwegs - und unter diesen Voraussetzungen könne das Tippen auf einem Keyboard zur Qual werden.
Allerdings arbeite die NASA zusammen mit großen Telekommunikationsunternehmen an einer Lösung: "Für die Überwindung der weiten Distanzen wird der Datenstrom mit Hilfe eines zweiten Protokolls ein weiteres Mal verpackt und versandfertig gemacht, und dann im lokalen Marsnetzwerk wieder auf normaler IP-Basis verschickt." Praktisch würde um den Mars dazu ein Band von Satelliten geknüpft, die als Grundlage des dortigen Netzwerks und als Ausgangs- bzw. Endstation des interplanetarischen Datenaustauschs fungierten. Das könnte auch helfen, bei den teuren Raumfahrtprojekten Kosten zu sparen: Während für die Pathfinder-Mission etwa noch eine spezielle und nur einmalig anwendbare Satellitenübertragung aufgebaut werden mußte, könnte das Orbitsystem rund um Planeten für weitere Einsätze verwendet werden.
Langfristig könnten derartige Netzwerke auch um andere Planeten des Sonnensystems oder um den Mond gesponnen werden, glaubt Cerf. Zukünftig würde damit auch die Kommunikation zwischen Forschungsgruppen im Weltall und der Erdbasis sichergestellt werden. In einem Ausblick auf das 21. Jahrhundert hat der Internetvisionär eine derartige interstellare Zusammenarbeit bereits im vergangenen Jahr vorweggenommen, in dem er sich einen zukünftigen Marsforscher über den langsamen Datenaustausch - "nur Terabits pro Sekunde" - innerhalb des Planetennetzwerks beschweren ließ. Logische Fortsetzung ist dann nur noch die touristische Nutzung der interplanetarischen Raumfahrt, die Cerf für die 20er Jahre des nächsten Jahrhunderts voraussagt: "Das Internet wird dafür sorgen, daß die Planetenreisenden mit der Erde in Kontakt bleiben." Schon heute müßte sichergestellt werden, daß das Netz diesen zukünftigen Anforderungen gewachsen sei.
Wären die interplanetarischen Netzwerke erst einmal in Betrieb, müßte man auch wieder über die Schaffung neuer Domains nachdenken, um Standardisierungsprobleme zu vermeiden, sagte Cerf mit einem Seitenhieb auf die andauernde und auch auf der INET hitzig geführte Diskussion um neue Top-Level-Domains. Es ginge dann nicht mehr nur um Endungen wie .org oder .com, sondern um .earth, .mars bzw. .jupiter, damit die richtigen Server auf den jeweiligen Planeten angesprochen werden könnten. "Einige Herausforderungen gibt es noch", bekennt Cerf, "aber die Geschichte beginnt ja gerade erst."
Nicht alle Versammelten begrüßten die Utopien des Networkers: Auf der Erde gäbe es vor der Ausbreitung des Internet in den Weltraum noch einige Ungleichheiten im Bereich Netzzugang zu beseitigen, meinte etwa Hans d'Orville, beim United Nations Development Programme zuständig für Informationstechnologie: "4500 der 7500 Internetprovider befinden sich in den USA", erläuterte d'Orville. Und selbst wenn inzwischen rund 240 Länder über eine eigene Internetkennung wie .de oder .uk verfügen würden, höre die Netzversorgung spätestens in den Hauptstädten auf. "In Kenia beispielsweise gibt es fünf Provider, die alle in Nairobi angesiedelt sind." Schon in der nächstgrößeren Stadt, in Mombasa, müßte man ein Ferngespräch zur Zugangsstelle führen, von der ländlichen Umgebung ganz zu schweigen. Wer die "final frontier" für das Internet sucht, muß heute also gar nicht bis in den Weltraum vorstoßen. Auch die Erde hält noch einige "schwarze Löcher" bereit.