Irans Parlamentswahlen
Seite 2: Wahlen im Pulverfass
Irans Regime befindet sich nach Auffassung des Autors in derselben Lage wie die Staaten des "Arabischen Frühlings" am Vorabend der Arabellion, wenn nicht sogar in einer schlimmeren Situation.
Die Geistlichen der herrschenden Elite, die "Mullahs", befinden sich in einer Legitimitäts- und Effektivitätskrise und sind damit in einem Stadium angekommen, wo es eigentlich keine Rettung mehr geben dürfte. Die politischen und staatlichen Institutionen haben längst an Rechtmäßigkeit und Glaubwürdigkeit verloren.
Die Effektivitätskrise eines politischen Systems beruht immer auf der wirtschaftlichen Situation, d. h. der Sicherstellung einer funktionierenden Wirtschaft. Die iranische Gesellschaft ähnelt einem Pulverfass. Ökonomisch driftet das Land dem Abgrund entgegen und selbst nach offizieller Statistik leben 30 Millionen Iranerinnen und Iraner unter der (relativen und absoluten) Armutsgrenze.
Der Internationale Währungsfonds (IWF bzw. IMF) schätzt die Inflationsrate für das Jahr 2019 auf 35,7 % und die Arbeitslosenquote auf 16,8 %. Mehr als 40 % der Arbeitslosen sind Hochschulabsolventen. Irans Wirtschaftswachstumsrate sank rapide und wird vom IWF für das Jahr 2019 auf -9,5 % geschätzt, allesamt Negativrekorde im Nahen Osten.
Präsident Rohani bestätigt, dass die Situation des Landes nicht normal sei und der Iran eines der schwersten Jahre seit der islamischen Revolution von 1979 erlebe. Regierungssprecher Ali Rabii sprach von 60 Millionen Iranern, die nicht genügend zu essen haben und staatlicher Hilfe bedürfen. Das Ganze in einem Land, das einst als der fortschrittlichste Staat in Westasien galt.
US-Sanktionen spielen eine große Rolle in der jetzigen ökonomischen Misere des Iran, aber dies ändert nichts an der Tatsache, dass wir es mit einer der schlimmsten (religiösen) Diktaturen der Welt zu tun haben. Ende 2017, Anfang 2018 (damals gab es - wie auch während der "Grünen Bewegung" im Jahr 2009 - keine Trump-Sanktionen) und auch während der blutigen Niederschlagung der Proteste im Dezember 2020 richtete sich bei den landesweiten Protesten nach Informationen des Autors kein einziger Slogan gegen die USA und Israel.
Häufig ausgerufene Slogans wie "Tod dem Diktator", "Tod Khamenei", "Revolution gegen den Schah war falsch", "Tod der Islamischen Republik" und Slogans wie "Öl-Geld ist verlorengegangen, es ist für Palästina ausgegeben worden", "Palästina, Syrien, das sind die Gründe unserer Misere" und "Weder Gaza noch Libanon, mein Leben für den Iran" widersprechen eindeutig der Regionalpolitik der Islamischen Republik, und der Slogan "Unser Feind ist hier, es ist eine Lüge, wenn sie sagen, unser Feind ist Amerika" stellt nicht nur die gesamte Außenpolitik, sondern das Regime selbst in Frage.
Es gibt kein anderes Land auf der Welt, das - gemessen an seinen riesigen Potenzialen, seine Naturressourcen und sein Humankapital - so arm ist. Die Islamische Republik ist der einzige Staat auf der Welt, der seine eigene Bevölkerung in Armut versinken lässt und die Gelder für regionale Abenteuer, unzählige sektiererische Milizen, die der Staat teilweise selbst aufgebaut hat, sowie auch für Baschar Al-Assad und die Hisbollah ausgibt. Das bringt die Iraner in Rage.
Die Parlamentswahlen vom Februar 2020 stehen im Zeichen von drei bedeutenden Ereignissen: den landesweiten Protesten im Dezember 2019, der Tötung des Oberkommandeurs der al-Quds-Brigade Ghasem Soleimani durch amerikanische Militärs und dem Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs.
Die gewaltsame Niederschlagung der landesweiten Proteste forderte innerhalb von nur fünf Tagen 1.500 Opfer und über 8.000 Inhaftierte. Zwei Monate nach den Protesten weigern sich die Verantwortlichen immer noch, die genaue Zahl der Opfer bekanntzugeben. Ein Vergleich zu den monatelangen Protesten im Irak, im Libanon, in Hongkong und Bolivien allesamt zusammen veranschaulicht den erschreckenden Grad der Brutalität der Führung. Irans Regime ist nach außen gegenüber fremden Mächten zwar schwach, aber übermächtig gegenüber der eigenen Bevölkerung. Darum dauern die Proteste im Iran nicht länger als ein paar Tage.
Denn der sichere Tod droht und noch ist die Angst stärker als die Wut und der Mut. Im Libanon und dem Irak sind die Regierungen auch nach innen sehr fragil und schwach. Obendrein gehen die Sicherheitskräfte nicht exorbitant brutal vor. Das macht den Unterschied zu den genannten Ländern aus.
Durch die Attacke einer US-Drohne starb der Revolutionswächter Generalmajor Ghassem Solaimani am 3. Januar 2020. Dies war zweifellos ein völkerrechtswidriger Akt. Der General war jedoch meiner Auffassung nach ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof. Kenner der Region wissen, wie viele Menschen, darunter Zivilisten, vor allem in Syrien durch die Kooperation von Assad und Solaimani ums Leben gekommen sind, bzw. aus ihren Häusern flüchten mussten.
Vor ein paar Tagen gestand der ehemalige Oberbefehlshaber der Revolutionswächter Generalmajor Mohammad Ali Dschafari, dass Solaimani auch emsig an der blutigen Niederschlagung der Proteste von 1999 (Studentenrevolte in Teheran) und der Zerschlagung der "Grünen Bewegung" im Jahr 2009 beteiligt war. Irans Propaganda hievte ihn zum Nationalhelden. Hunderttausende nahmen an seiner Beerdigungszeremonie teil, darunter auch jene, die im Dezember zuvor rebellierten.
Die Hunderttausende machen allerdings kaum 5% der iranischen Bevölkerung aus. Die Solaimani-Propaganda kam an, dabei hat er selbst immer beteuert, er sei nur Soldat von Ayatollah Khamenei. Solaimani gehörte mithin zu den 24 Top-Revolutionswächterkommandeuren, die seinerzeit in einem Brief an den Reformpräsidenten Khatami mit "Intervention" drohten, sollte er die Studentenunruhen in Teheran 1998/99 nicht in den Griff bekommen.
Bei aller "weltweiten" Antipathie Donald Trump gegenüber muss man bei der völkerrechtswidrigen Tötung von Solaimani in Betracht ziehen, wer ständig provoziert hat, gestichelt hat und durch naive Fehlkalkulationen eine derartige Eskalation herbeigeführt hat. Man muss sich fragen, was Ghassem Solaimani in solch einer angespannten Lage, in der gerade die US-Botschaft angegriffen worden ist - ein Ereignis, das den Albtraum der Botschaftsbesetzung von 1979 ins Gedächtnis zurückrief - in Bagdad wollte.
Mit ihm war auch Samer Abdullah - der Schwiegersohn des 2008 getötetem Hisbollah-Militärführers Emad Moghnieh - in Bagdad eingetroffen. Sie wurden von Abu Mehdi Al-Mohandes empfangen. Wenn Sepah al-Quds, die libanesische Hisbollah und Haschd al-Schabi zusammenkommen, da kann jedem bange werden.
Die USA hätten die Operation gestoppt, wenn statt Al-Mohandes ein Minister der irakischen Regierung Solaimani empfangen hätte. Die iranische Führung hat Solaimani als Bezwinger des Daesh (IS) verkauft. Dabei hat der General eher die Assad-Rebellen bekämpft, bevor Daesh in Syrien auftauchte und ohne die Luftunterstützung der Internationalen Allianz hätte der IS im Irak nicht so schnell besiegt werden können. So wie auch die "geballte" Militärmacht von Solaimanis Sepah al-Quds und der Hisbollah ohne die Intervention der russischen Luftwaffe Assad nicht hätte halten können.
Der Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeuges machte schließlich die ganze Solaimani-Propaganda zunichte. Irans Regime weigert sich bis heute noch, die Blackbox zu liefern. Außenminister Zarif sagte: "Wir sind nicht in der Lage, Informationen aus der Blackbox des ukrainischen Verkehrsflugzeugs zu extrahieren, das am 8. Januar von iranischen Streitkräften abgeschossen wurde, aber wir werden die Box nicht an externe Regierungen übergeben."
Belastende Dokumente tauchen immer wieder auf. Anfang Februar belegte eine im ukrainischen Fernsehen ausgestrahlte Aufzeichnung des Funkverkehrs zwischen einem Piloten der iranischen Fluglinie Aseman Airlines und dem Kontrollturm des Flughafens Teheran, dass die Flugsicherung über den Abschuss einer Flugabwehrrakete am 8. Januar informiert war.
Es bleibt ein Rätsel, warum nicht die Maschine der Aseman Airlines, die sich im Landeanflug befand, getroffen wurde, sondern die ukrainische Maschine, die rasant an Flughöhe gewann, sich von Teheran wegbewegte und damit eigentlich keine Gefahr darstellte.
So gesehen hat die Führung das Pech, dass die Wahlen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt der iranischen Zeitgeschichte stattfinden, nämlich in der schlimmsten Zeit, in der die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen im Iran einen Höhepunkt erreicht haben und das Volk sich in totaler Rage befindet.