Iraq now

"Shock and Awe" bestimmen weiterhin die Taktik der Militärs; keine Lösung für Falludscha in Sicht

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Innerhalb weniger Tage könnten die US-Streitkkräfte Falludscha in ein "Killing Field" verwandeln, "in jeder Art von Städtekampf", tönte ein hochrangiger Offizier letzte Woche. Den massiven Drohungen folgten massive Angriffe in den letzten Tagen und Nächten. Falludscha wird zum "Test in einem Pulverfass", so ein amerikanischer Kommentar.

Falsche Einschätzungen, zerschlagene Hoffnungen, die Rivalität zwischen der Armee und dem Marine Corps hätten zu einer Tragödie geführt, die Falludscha zum Symbol des Widerstands gegen eine übermächtigen und aggressiven Besatzer gemacht haben: ein politischer Imageschaden, vor allem in der arabischen Welt, dessen Auswirkungen noch nicht abzusehen sind.

Mit AC 130-Flugzeugen, Feuer aus Helikoptern und Bomben soll der Widerstand an drei Fronten in der Stadt bezwungen werden. Nach neuesten Meldungen will das Militärkommando den Einsatz schwerer Waffen gegen "Aufständische" noch verstärken.

Die immense Feuerkraft dieser Flugzeuge sollte jedoch nicht auf das Julan-Viertel losgelassen werden. Man kann dies nicht so präzise ausführen, um sicherzugehen, dass keine Zivilisten massakriert werden, wenn Guerillas angegriffen werden. Das ist eine Verletzung der vierten Genfer Konvention. Auch wenn, wie berichtet wird, mittlerweile ein Drittel der Einwohner von Falludscha die Stadt verlassen haben, sind ungefähr 200.000 dort geblieben.

Juan Cole

Paradoxe Situation ohne Lösung

Brigade General Kimmitt nannte die Situation in Falludscha "paradox", da offiziell in Falludscha noch der ausgehandelte Waffenstillstand gelte, der dem Verteidigungsminster Rumsfeld vorgestern noch einen "Versuch" wert war.

Nach jüngsten Meldungen der arabischen Zeitung al-Hayat versucht der Regierungsrat mittlerweile die Verhandlungen zwischen den "Guerillas" und den US-Marines wieder aufzunehmen. Verhandlungsführer Muchsin Abdul Hamid, ein Sunnit, behauptet al-Hayat zufolge, dass die Stadt weitgehend zum Normalzustand zurückgekehrt sei. Wie der Blogger Juan Cole anmerkt, könne er damit nur die Stadtteile außer dem "Julan-Viertel" gemeint haben, dass gestern erneut mit 500 Pfund schweren Bomben angegriffen wurde.

Genaue Zahlen über zivile Todesopfer gibt es bislang noch nicht. Laut der Ärzte vor Ort sollen sie in die Hunderte gehen. Die medizinische Versorgung von Falludscha wird derweil immer schwieriger, da wichtige Zufahrtsstrecken zu den Hospitälern blockiert sind und Ambulanzen beschossen werden. Laut einem BBC-Bericht sogar von amerikanischem Feuer, was von amerikanischer Seite mit dem Hinweis gerechtfertigt wird, dass Aufständische sich auch nicht an die Genfer Konvention halten und geschützte Orte, wie Ambulanzwagen und Moscheen als Versteck benutzen.

Die Zuspitzung der Situation in Falludscha

Seit einem Jahr hat sich die Situation in Falludscha allmählich zugespitzt, die verschiedenen Truppenverbände haben sich derart schnell abgewechselt, dass sie kaum eine Chance gehabt hätten, ihre Umgebung in der Hochburg des sunnitischen Widerstands zu verstehen.

Falludscha wurde zunächst von der 82ten Airborne Division besetzt, die bald darauf von der 3ten Armored Cavalry ersetzt wurde, die bald darauf von einer Brigade der 3ten Infantry Division ersetzt wurde. Im letzten Sommer gab die 3te Infantry die Stadt an die 82te Airborne Division zurück. Im letzten Monat ersetzten die Marines die 82te.

Ziemlich bald, nachdem sie das Kommando übernommen hatten, gerieten die Marines unter Beschuss, Patrouillen in der Stadt mussten sich zurückziehen. Dann wurden die vier Männer von Blackwater (Die globale Konjunktur der Söldnertruppen) getötet. Anlass für die Marines dort härter durchzugreifen.

Schon drei Wochen vor der Ermordung der vier privaten Sicherheitsleute waren die Besatzungstruppen und irakische Sicherheitskräfte 27 Mal angegriffen worden, die Planung einer größeren Aktion war nach Informationen der New York Times also schon vor dem Angriff auf die Blackwater-Angestellten im Gange, wurde aber von diesen Ereignissen beschleunigt. Nach Ansicht von Armee-Offizieren allerdings unbedacht, die Marines hätten nach deren Ansicht einfach in ein "Hornissennest" gestoßen, ohne sich flexiblere Reaktionen zu überlegen.

Gemeinsame Patrouillen von Amerikanern und Irakern in Falludscha, welche für die nächsten Tage anberaumt waren, wurden weiter verschoben.

Weder in Falludscha, noch im Palast in Bagdad, wo die amerikanische Besatzungsverwaltung sitzt, noch in den Korridoren in Washington, hat man eine klare Lösung des Falludscha-Problems. Rajiv Chandrasekaran und Robin Wright, Washington Post

Währenddessen warnte Muktada as-Sadr die Amerikaner erneut davor, mit ihren Truppen in Nadschaf einzumarschieren: "Unsere Antwort wird gewaltig sein und unvorhersehbar.", ließ er von seinem Sprecher Husam al-Musawi verbreiten.

Tschalabi wird nervös

Neuen Informationen der irakischen Zeitung az-Zaman zufolge, sollten einflussreiche Kreise in der CIA sich für einen "politisch neutralen General" und drei prominente Richter und Anwälte als Spitzen-Kandidaten für die "geschäftsführende Regierung" im Irak stark machen. Nach den Vorschlägen von Lakhdar Brahimi ("Sie sind nicht glücklich, dass sie besetzt sind"), dem UN-Emissär im Irak, sollte die neue Übergangsregierung mit "integren und ehrlichen" Irakern besetzt werden.

Wie az-Zaman weiter verbreitete, soll sich das Weiße Haus aber noch nicht entschieden haben, andrerseits hat Präsident Bush sich angeblich keine Vorschläge vom Verteidigungsministerium erbeten. Das wären schlechte Karten für Ahmed Tschalabi, an dem das Pentagon allem Anschein nach stur festhält, obwohl Tschalabi als von den Besatzern eingeführte "Puppe" gilt und unter der irakischen Bevölkerung kein gutes Ansehen genießt; darüber hinaus ist er in dubiose Wiederaufbaugeschäfte verwickelt.

Würden Brahimis Vorschläge angenommen - und zur Zeit spricht einiges dafür, zumal Ali Sistani sich wiederholt für eine UN-Beteiligung stark gemacht hat - wäre für Tschalabi kein Platz mehr in der Regierung; seine Felle schwimmen weg, entsprechend wütend sind derzeit seine Reaktionen, die er im Namen des irakischen Volkes von seinem Sprecher verlautbaren läßt:

Die Iraker haben bis zu diesem Tag gekämpft und sind dafür gestorben, es nicht akzeptabel, dass wir die Besatzung mit der UN-Aufsicht eintauschen...Sie sind nicht dazu bereit, fertiggekochte Deals hinter verschlossenen Türen zu empfangen, auch nichts halbgares...Entweder macht Brahimi was das irakische Volk will oder er wird scheitern.

Seine persönliche Meinung zu Brahimi hat Tschalabi vor ein paar Tagen in einem Interview mit Fox kundgetan:

Mister Brahimi ist ein Algerier mit einer arabischen-nationalistischen Agenda. Er ist bereits eine kontroverse Person im Irak...Und ich denke, dass er den Realitäten im Irak feinfühliger gegenüberstehen sollte.

So feinfühlig wie Tschalabi selbst, der mit seinen maßgeschneiderten Geheimdienstmaterial die Kriegstreiberfraktion der US-Regierung versorgte und später als treibende Kraft hinter Entscheidungen der Besatzungsmacht stand, die ganz andere Folgen hatten als von Tschalabi vorausgesehen (der u.a. auch das idyllische Bild von jubelnden, befreiten Irakern prägte) - wie etwa die vollständige Auflösung der irakischen Armee?