Islamischer Gospel

Seite 2: Calvin, Müntzer und Saudi-Arabien

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Ein ganz anderes Thema: In der westlichen Welt kann man muslimisch verbrämten Terror nicht nachvollziehen, aber man bringt den Islam derzeit fast nur mit Terror in Verbindung. Und wenn ich Sie so reden höre, ist das natürlich etwas völlig anderes und man begreift diesen Terror nicht.

Muhammad Sameer Murtaza: Ich versuche, in dem Buch strukturell in großen Zeiträumen zu denken. In der muslimischen Welt läuft gerade ein Prozess ähnlich der Reformation in der christlichen Welt ab. Wenn wir das verstehen, ist der Terror vielleicht gar nicht mehr so unverständlich, auch wenn der Terror und die Gewalt natürlich weiterhin schrecklich bleiben.

Seit dem 18. Jahrhundert erleben wir einen ökonomischen, einen intellektuellen, einen politischen und militärischen Niedergang der muslimischen Welt. Und wir haben seit dem 18. Jahrhundert verschiedene Gruppierungen, die ganz ähnlich der protestantischen Reformation sagen: "sola scriptura". Was wir meiner Ansicht nach vor allem hier in Deutschland übersehen: Wenn wir von Reformation sprechen, meinen wir immer Martin Luther. Aber gehen wir in die Schweiz, gehen wir in die Niederlande, da verbindet man andere Namen mit der Reformation, da geht es um Johannes Calvin oder Thomas Müntzer, und da sehen wir auch andere Seiten der Reformation: Thomas Müntzer mit dem Bauernkrieg, Johannes Calvin mit seinem Gottesstaat, der nicht so anders ist als der wahhabitische Staat in Saudi-Arabien, und natürlich den Dreißigjährigen Krieg.

Den Vergleich von Calvins Gottesstaat mit dem wahhabitischen Staat in Saudi-Arabien finde ich gut nachvollziehbar. Aber: Die Bauernkriege waren zwar blutig, und auch von vielen Unterdrückten sicher nicht gewollt, aber doch Befreiungskriege, die sich gegen Unterdrücker richteten. Ist das vergleichbar?

Muhammad Sameer Murtaza: Die Reformation war keine friedvolle Bewegung, sie war ein Aufbruch. Verwickelt mit Gewalt und unterschiedlichen politischen Vorstellungen. Protestanten und Katholiken vergessen das heute oftmals, wenn sie von Ökumene sprechen.

Wir haben also eine Problematik in beiden Richtungen: Das sola scriptura und das Verwerfen der pluralistischen Tradition, die Beschränkung auf eine singuläre Deutung der Offenbarung und das Neu-Ausrichten gegenüber dem Rest: Das geschah zur Reformationszeit zwischen Christen, jetzt erleben wir es zwischen Muslimen. Da liegt Potential für einen Konflikt, der sich jetzt entlädt. Das passiert in der muslimischen Welt, weil diese verschiedenen Reformationsbewegungen erst versprochen hatten, eine Besserung zu bringen, aber letztendlich alle gescheitert sind. Und dann haben sie sich hier und da weiter radikalisiert, bis hin zu Phänomenen der al-Qaida und des IS, die sich alle mit diesem Prozess erklären lassen. Und selbst wenn der IS oder die al-Qaida morgen verschwinden, ist das Problem nicht gelöst. Dann würden da zwei Lücken entstehen, die andere militante Bewegungen auffüllen.

In der muslimischen Religionsgemeinschaft läuft ein Prozess ab, es ist der Kampf um die Frage: "Was ist Islam heute?" Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. Vor allem fehlt es an einem innerislamischen Kommunikationsmodell, mit dem man im Einklang mit der gesamten Gemeinde entscheiden kann, was heute Islam ist. Und weil es solch ein Modell nicht gibt, versucht jede Gruppierung, ihre eigene Ansicht mit Gewalt durchzusetzen. Deshalb sehe ich die Reformation eben nicht als ein Modell, das Muslime adaptieren sollten, denn die Folgen sehen wir ja aktuell.

Hundert Jahre Terror

Sie beenden Ihr Buch mit einem Abschnitt "Hoffnung ist der Anfang aller Dinge" - nur kurz vorher schreiben Sie: "Der islamisch verbrämte Terror wird noch Jahrzehnte, realistischer gar ein Jahrhundert, andauern." Ist Hoffnung da das richtige Wort, wenn es noch so lange dauert?

Muhammad Sameer Murtaza: Ich denke, es ist eine Jahrhundertaufgabe, und das ist eine realistische Zeiteinschätzung. Bedenken Sie, wie lange der Prozess der Reformation in Europa angedauert hat, bis die religiösen Kräfte dermaßen erschöpft waren, dass der Westfälische Friede überhaupt möglich wurde. Wir haben nun eine sehr ähnliche, analoge Entwicklung in der muslimischen Welt. Ich halte die Erwartung für unrealistisch, dass dies in ein paar Jahren oder Jahrzehnten vorbei ist. Zugleich fehlen Modelle, vor allem Kommunikationsmodelle, für das Morgen: Heutzutage sind Muslime schließlich nicht mehr in einem großen Gebilde wie beispielsweise dem Osmanischen Reich zusammengefasst, sondern in verschiedenen Nationalstaaten. Und wie findet man als große Religionsgemeinschaft über die Nationalstaaten hinaus zu einem Konsens? Die muslimische Gelehrsamkeit hat versäumt, nach der Abschaffung des Osmanischen Reiches Strukturen zu entwickeln, mit Hilfe derer man zu einer Konsensfindung kommen kann.

Zudem ist sie inzwischen von politischen Strukturen in der muslimischen Welt völlig abhängig geworden. Die Institutionen der muslimischen Gelehrsamkeit sind nicht länger unabhängig. Außerdem drängen natürlich die ökonomischen Probleme; und Terror hat immer in erster Linie mit Ökonomie zu tun: Die Leute, die leiden, blicken mit ihren Fragen und ihrem Leid auf die Offenbarungsschrift und versuchen, da eine Antwort für sich zu finden. Und für manche heißt die Antwort dann Gewalt. Es ist nicht nur eine Exegese, die stattfindet, sondern manchmal auch eine Eisegese, ein Hineinlesen in einen Text, um sich zu legitimieren.

Darum halte ich es für realistisch zu sagen, das ist eine Jahrhundertaufgabe.

Aber auf der anderen Seite ist es wichtig, jetzt Kommunikationsmodelle für die Zeit nach der aktuellen Gewaltwelle zu entwickeln, und das erwarte ich von muslimischen Akademikern und Intellektuellen. Diese Gewalt zwischen Muslimen, die wir im Namen des Islam erleben, ist ja auch für uns ein ganz neues und wirklich schreckliches Phänomen. Wenn die Muslime es nicht schaffen, sich zu verständigen, dann stellt sich die große Frage, was aus dieser Religionsgemeinschaft wird. Und da ist eben die Hoffnung meinerseits, dass sich letztendlich die Vernunft durchsetzt und es einen guten Ausgang nimmt. Die Hoffnung ist der Anfang aller Dinge. Dafür gilt es aber jetzt zu arbeiten, für ein konstruktives, positives Morgen.

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